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Aufklärung und Kritik - gkpn.de · Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 3 Für jeden...

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Sonderheft 2/1998 ISSN 0945-6627 Preis: 10.- DM Mitherausgeber: Prof. Dr. Hans Albert (Heidelberg) Prof. Dr. Dieter Birnbacher (Düsseldorf) Prof. Dr. Dietrich Grille (Erlangen) Prof. Dr. Hans Henning (Weimar) Prof. Dr. Norbert Hoerster (Mainz) Prof. Dr. Mark Lindley (Boston) Prof. Dr. Hubertus Mynarek (Odernheim) Prof. Dr. Johannes Neumann (Tübingen) Prof. Dr. Gerard Radnitzky (Trier) Prof. Dr. Hermann J. Schmidt (Dortmund) Prof. Dr. K. A. Schachtschneider (Nürnberg) Prof. Dr. Peter Singer (Melbourne) Prof. Dr. Gerhard Streminger (Graz) Prof. Dr. Ernst Topitsch (Graz) Prof. Dr. Gerhard Vollmer (Braunschweig) Prof. Dr. Franz M. Wuketits (Wien) Aufklärung und Kritik Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie Herausgegeben von der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg Schwerpunkt: Liberalismus Libertäre und Liberale zu gesell- schaftlichen Problemen der Gegenwart Autoren: Stefan Blankertz, Hardy Bouillon, Gerhard Engel, Guido Hülsmann, Gustave de Molinari, Ingo Pies, Gerard Radnitzky, Richard Reichel, Klaus Peter Rippe Sonderheft 2
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Sonderheft 2/1998 ISSN 0945-6627Preis: 10.- DM

Mitherausgeber:Prof. Dr. Hans Albert (Heidelberg)Prof. Dr. Dieter Birnbacher (Düsseldorf)Prof. Dr. Dietrich Grille (Erlangen)Prof. Dr. Hans Henning (Weimar)Prof. Dr. Norbert Hoerster (Mainz)Prof. Dr. Mark Lindley (Boston)Prof. Dr. Hubertus Mynarek (Odernheim)Prof. Dr. Johannes Neumann (Tübingen)Prof. Dr. Gerard Radnitzky (Trier)Prof. Dr. Hermann J. Schmidt (Dortmund)Prof. Dr. K. A. Schachtschneider (Nürnberg)Prof. Dr. Peter Singer (Melbourne)Prof. Dr. Gerhard Streminger (Graz)Prof. Dr. Ernst Topitsch (Graz)Prof. Dr. Gerhard Vollmer (Braunschweig)Prof. Dr. Franz M. Wuketits (Wien)

Aufklärung und Kritik

Zeitschrift für freies Denken und humanistische PhilosophieHerausgegeben von der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg

Schwerpunkt: LiberalismusLibertäre und Liberale zu gesell-schaftlichen Problemen der Gegenwart

Autoren: Stefan Blankertz, Hardy Bouillon,Gerhard Engel, Guido Hülsmann, Gustavede Molinari, Ingo Pies, Gerard Radnitzky,Richard Reichel, Klaus Peter Rippe

Sonderheft 2

Inhalt

Dr. Gerhard EngelVorwort ...................................................................................................... 3Prof. Dr. Gerard RadnitzkyFür ein politikfreies Zusammenleben .......................................................... 5PD Dr. Hardy BouillonLibertärer Anarchismus - eine kritische Würdigung ................................. 28Dr. Gerhard Engel/Dr. Ingo PiesFreiheit, Zwang, und gesellschaftliche Dilemmastrukturen ....................... 41Dr. Klaus Peter RippeVon privaten und von real existierenden Staaten ...................................... 52Stefan BlankertzStaat macht arm ................................ ...................................................... 68Dr. Richard ReichelSoziale Marktwirtschaft, Sozialstaat und liberale Wirtschaftsordnung ...... 83Dr. Jörg Guido HülsmannBrauchen wir staatliche Armenhilfe? ...................................................... 93Dr. Gerhard EngelLiberalismus, Freiheit und Zwang .......................................................... 100Anhang: Gustave de MolinariÜber die Produktion von Sicherheit ........................................................ 117

GKP im Internet ..................................................................................... 131

Impressum ............................................................................................. 133

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Für jeden Liberalen ist die Institution desStaates eine Herausforderung. Denn Li-berale sind an der Freiheit jedes Menscheninteressiert; aber der Staat ist zweifelsfreieine Institution, die Zwang ausübt. Soll-ten Liberale dieser kollektiven Zwangs-institution daher nicht mit dem allergröß-ten Mißtrauen begegnen? Und sollte dasZiel ihres Nachdenkens daher nicht in derAbschaffung des Staates bestehen – imInteresse der Freiheit aller?

Die Thomas-Dehler-Stiftung widmete die-sen Fragen eine Tagung unter dem Motto„Freiheit durch Zwang?”, die im Juli 1996in Nürnberg stattfand. Dabei wurden über-raschend verschiedene Antworten auf die-se Frage gegeben – überraschend zumin-dest für den, der mit der Überzeugunganreiste, daß Zwang der natürliche Feindder Freiheit ist. Denn man kann den Staatkonzeptionell auch anders fassen: nicht alsBedrohung, sondern als Ermöglichungvon Freiheit. Wenn das zuträfe, dann hät-te die Abschaffung des Staates für dieje-nigen, denen die Freiheit am Herzen liegt,ungeahnte Konsequenzen: Man würde mitdem Staat auch die Freiheit abschaffen.

Diesem Problem war eine Folgetagungunter dem Motto „Libertäre und Libera-le” im April 1997 gewidmet. Libertäre undLiberale haben eine verschiedene Sicht desStaates: Für Liberale ist der Staat einenotwendige, aber keine hinreichende Be-dingung für Freiheit; für den Libertärendagegen ist der Staat eine hinreichende Be-dingung für Unfreiheit. Auch im Verlauf

dieser zweiten Tagung konnte keine Eini-gung über die Punkte erzielt werden, dieLibertäre und Liberale trennen. Aber manwar sich einig, daß es diese Fragen ver-dienen, auch vor einem breiteren Publi-kum erörtert zu werden. So entstand dieIdee zu diesem Sonderheft: Es will auchdenjenigen Freunden der Freiheit, die nichtan den genannten Tagungen teilgenommenhaben, einen Einblick in den erreichtenDiskussionsstand geben. Der im Anhangabgedruckte Text des belgischen Sozial-philosophen Gustave de Molinari aus demJahre 1849 zeigt exemplarisch, daß dieseDiskussion eine beachtliche Tradition hat– und nach meiner Einschätzung auch eineZukunft haben wird.

Um dem Leser die Spannung nicht zunehmen und um die hier versammeltenAutoren nicht von vornherein „Lagern”zuzuordnen, sollen ihre Beiträge an die-ser Stelle weder zusammengefaßt nochkommentiert werden: Suchet, so werdetihr finden! Und so bleibt mir nur, allenAutoren herzlich für ihre Mühe zu dan-ken, ohne die dieses Heft nicht hätte ent-stehen können.

Hildesheim, im August 1998

Gerhard Engel

Vorwort

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1. GRUNDLEGENDES1.1. Die wichtigsten der grundle-

genden Prinzipien der Kooperation sindFreiheit und Eigentum.

Diese Prinzipien bedingen einander,denn Freiheit gibt es nicht ohne Individua-lität, und Individualität gibt es nicht ohneEigentum. Freiheit und Prosperität sindebenfalls untrennbar, denn die Freiheit isteine notwendige Bedingung für Prosperi-tät. Eliminiert man die Freiheit, ver-schwindet mit ihr die Prosperität. Wir ha-ben kürzlich gigantische Sozialexperimen-te erlebt, die den Zusammenhang illustrie-ren: die Ostblockstaaten und der „We-sten”, und an ihrer Grenze, die „DDR”(oder Sowiet-Deutschland) und die BRDunter Pax Americana. Auch Nord- undSüdkorea sind ein historisches Beispiel.

Anthony de Jasay (1997) argumen-tiert, daß Individuen, die sich im Natur-zustand (state of nature)1 befinden undrationale Entscheidungen anstreben (ra-tional choice praktizieren), spontan Re-spekt vor Eigentum und Respekt vor rezi-proken Versprechen entwickeln würdenund, daß sich ebenso lokale Durchset-zungsmechanismen für diese beidengrundlegenden Konventionen spontanentwickeln würden. Auf diese Weise wür-

de sich eine „geordnete Anarchie” (orde-red anarchy) entwickeln, und solche So-zialordnungen würden eine Alternativezum Staat darstellen (Jasay 1997, pp. 6 f.und Part II).

1.2. Jedes Individuum versucht,sein Los zu verbessern.

Dieses Streben ist eine menschlicheKonstante. Allerdings gibt es auch im Tier-reich zahlreiche Beispiele dafür. Das Wort‘verbessern’ ist zu verstehen im Sinne dersubjektiven Werttheorie der Wiener Schuleder Nationalökonomie, der „Austrian Eco-nomics”. Das Individuum kann das Ver-bessern auf zweierlei Weise erreichen:durch produktive Tätigkeit (Produktionund Handel) oder durch Umverteilen zusich selbst. Der wesentliche Unterschiedzwischen Anarchie und dem Leben in ei-ner politisch strukturierten Ordnung be-steht in der Methode, mit der die Umver-teilung bewerkstelligt wird. In einer An-archie geschieht die Umverteilung mittelsoffener Gewalt oder Androhung von Ge-walt, in einer politisch strukturierten Ord-nung ist der politische Prozeß dazwischengeschaltet. Umverteilung betrifft nicht nurRessourcen aller Art, sondern auch Posi-tionen, Privilegien usf. Sie kann auch

Prof. Dr. Gerard Radnitzky (Trier)FÜR EIN POLITIKFREIES ZUSAMMENLEBEN

„Against Politics”

„The Thing, the Thing itself ist the abuse.“Edmund Burke

„L’État, c’est la grande fiction à travers la quelle tout lemonde s’efforce de vivre aux dépens de tout le monde.“

Fréderic Bastiat

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durch Regulierungen, Subventionenu.ä.m. erfolgen.

In Bezug auf den ökonomischen Ef-fekt, ist Umverteilung durch den Staat undlegalisiert von ihm perfekt analog zuDiebstahl. 2

Bei staatlicher Umverteilung kom-men die Ressourcen aus Steuern und Ab-gaben aller Art einschließlich zwangsmä-ßiger Sozialversicherungen. Der Nutzenfür den Empfänger besteht aus sichtbarenBartransfers sowie mehr oder weniger dis-kreten Zuwendungen in natura, aus Gü-tern und Dienstleistungen, die subventio-niert oder „zum Nulltarif” angeboten wer-den, etwa als sogenannte öffentliche Gü-ter. Der Nutzen, den diverse Regulierun-gen und protektionistische Maßnahmenfür bestimmte Interessengruppe stiften,läßt sich nur schwierig, falls überhauptquantitativ ausdrücken.

Bei privatem Umverteilen (d.h. dem,was wir „Diebstahl”, „Raub” oder auch„free-lance Sozialismus” nennen) sind dieRessourcen das Eigentum der Bestohle-nen und diese stellen auch den Nutzen fürden Dieb dar, den er natürlich subjektivbewertet.

Die nicht-definitorischen Unter-scheidungsmerkmale zwischen beidenFormen der Umverteilung sind folgende:1. Die Methoden. Wie oben bei der Un-terscheidung von Anarchie und Leben ineinem politisch strukturierten System an-gedeutet wurde, ist bei der staatlichenUmverteilung der politische Prozeß (mitimpliziter Androhung von Gewalt) dazwi-schen geschaltet.2. Die Bewertung durch die Konventional-moral. Die staatliche Umverteilung wird

legalisiert durch den Staat, die private wirdmoralisch verdammt.3. Das wirkt sich auch auf die Bezeich-nung aus. Die staatliche Umverteilungwird mit anderen epitheta ornantia verse-hen als die private Umverteilung: vomStaat selbst als „Steuern”, „Abgaben” usw.Im Gegensatz dazu von den Beobachterndes Prozesses als Enteignung, Inflation,Geldschöpfung usf. Die private Umver-teilung nennen wir „Diebstahl”, „Raub”oder auch „free-lance Sozialismus”.4. In der moralischen Anmaßung. DerRäuber verlangt vom seinem Opfer nicht,daß es Gewissensbisse bekommen soll,wenn es ihm eine verborgene Tasche ver-heimlicht hat, während der Staat analo-ges Verhalten nicht nur als verbrecherischbewertet, sondern sogar verlangt, auch derBetroffene möge es als unmoralisch emp-finden, wenn er dem Steueramt etwas vonseinem Einkommen oder Eigentum ver-heimlicht.5. In der Frequenz. Die private Umvertei-lung passiert zum Glück nur manchmal,während die staatliche Umverteilung per-manent stattfindet. Sie ist institutionali-siert.6. Bei der staatlicher Umverteilung kön-nen wir zwei Typen unterscheiden – eineUnterscheidung, die bei privater Umver-teilung nicht relevant ist –, nämlich zwi-schen interindividueller oder intergruppenund intertemporaler Umverteilung, zwi-schen Besteuerung, Inflation usf. einerseitsund öffentlicher Verschuldung anderer-seits. Bei der interindividuellen Umver-teilung sind die Nutznießer und die Ver-lierer einigermaßen identifizierbar, wäh-rend bei der öffentlichen Verschuldung die

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Verlierer unspezifiziert bleiben. Auf jedenFall sind es die Jugend und künftige Ge-nerationen. (Sie können noch nicht wäh-len, darum ist Verschuldung bei Politikernbeliebt; durch Inflation können Schuldenoft auch diskret [wie bei Diebstahl] ge-tilgt werden.) Was die eben angesproche-ne Identifizierbarkeit bei interindividuellerUmverteilung betrifft handelt es sich eherum etwas, was im Prinzip zutrifft als umeine Realität, denn – um ein Beispiel zunennen – bei der Intransparenz des der-zeitigen deutschen System läßt sich nichteinmal für explizite Transfers genau fest-stellen, wer was wem bezahlt (wie Wolf-ram Engels bereits 1993 gezeigt hat). Dasamüsante dabei ist, daß auch die Behör-den das nicht mehr genau feststellen kön-nen.

1.3. Wenn Individuen kooperierenwollen, haben sie zwei grundlegendeOptionen: freiwillige oder zwanghafteSozialordnungen.

Verschiedene Individuen könnennaturgemäß nicht identische Interessenhaben, bestenfalls überdecken sich ihreInteressen mehr oder weniger. Wenn eineGruppe zusammenleben, interagieren undsogar kooperieren will, dann steht sie voreiner Wahl zwischen freiwilligen oderzwanghaften Sozialordnungen. Tauschund Marktordnung sind die Prototypeneiner freiwilligen Ordnung; der Staat, diepolitische Gesellschaft, sind die Archety-pen einer zwanghaften Sozialordnung.1.3.1. Die zentralen Hilfsbegriffe1.3.1.1. Freiwillige Sozialordnungen undder Begriff Freiheit

Das Explikandum des Begriffs„Freiheit” ist der umgangssprachliche

Begriff von Abwesenheit von willkürli-chem Zwang. Ich fasse hier die beste mirbekannte Explikation von Freiheit zusam-men (Bouillon 1997a). Das zentrale Pro-blem ist die Explikation von Zwang. Umeine adäquate (nicht-zirkuläre) Definiti-on zu geben, muß eine Unterscheidungzwischen zwei Typen von Wahlsituationengemacht werden. Wenn ein Individuumvor die Wahl zwischen zwei oder mehre-ren möglichen Handlungen gestellt wird,dann wird es immer auch gleichzeitig voreine Art „Meta-Wahl” gestellt, nämlich derWahl zwischen genau zwei Alternativen:die angebotene oder aufgedrängte Wahl zubeachten oder aber sie zu ignorieren. EinZwang liegt dann und nur dann vor, wenndas Ignorieren der Meta-Wahl Kosten imPrivatbereich des Individuums zur Folgehat oder hätte. Kosten wird definiert alsdas Verschwinden einer Option aus derOptionsmenge des Individuums. Die Un-terscheidung zwischen diesen zwei Artenvon Wahl ist notwendig, um die Zirkula-rität der Definition zu vermeiden, die ent-stünde, wenn man im Definiens daraufabstellte, daß Zwang dann nicht vorliegt,wenn das Individuum sich dem Eingriffin seine Privatsphäre freiwillig unterwirft,der Aufforderung oder Zumutung zu-stimmt. (Ein Beispiel [Hardy BouillonsBeispiel] für den Unterschied von Objekt-und Metawahl: Bei einer Parlamentswahlhat man die Wahl zwischen einer Anzahlvon Parteien sowie die Wahl zwischen denOptionen „zur Wahl gehen” und „nicht zurWahl gehen” – das ist die Metawahl. Inder BRD ist ein Ignorieren der Metawahlkostenlos, während es in Belgien Bußgeld-kosten verursacht. Die Kosten sind hier

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die Option: das was die Person sonst mitdem Betrag hätte tun können.)

In der BRD kann man eine Rück-kehr zum sozialistischen Verständnis vonFreiheit beobachten: Freiheit, wie sie vomStaat gewährt wird, „positive” Freiheit(power) als Freiheit von Arbeitslosigkeit,von Armut im Alter, von Krankheits-folgen. Die Kosten dieser Politik, auf demWeg zu einem Volk von Betreuungsbe-dürftigen, werden immer deutlicher: inForm von Lohnnebenkosten oder Staats-schulden, Arbeitslosigkeit usf. Aber dieschlimmsten Kosten sind diejenigen in derMentalität, verursacht durch die Ver-schmutzung der intellektuellen Umweltund durch unklares Denken, und in derMoral (Arbeitsethos, Vorantwortung usf.).1.3.1.2. Eigentum

(a) Der Begriff philosophisch be-trachtet.

Der Kern des Begriffs „Eigentum”ist der Begriff der Ausschließungskosten(exclusion costs). Im Prinzip hat das In-dividuum diejenigen Entitäten als seinEigentum, in bezug auf welche es in derLage ist, die Exklusionskosten zu tragen(seien es Schlösser, Zäune usf. oder Vertei-digungsmaßnahmen, die ihrerseits Gewaltimplizieren, oder Gerichtskosten usf.).Aufgabe des Staates ist es, dem Individu-um zu ermöglichen oder zumindest zu er-leichtern, sein Eigentum zu bewahren. Daszentrale Element von Eigentum ist das„Ich” des Individuums („self-ownership”bei John Locke, etwa „Verfügungsmachtüber sich selbst”). Dazu gehören der Leib,der Intellekt, kurz alle Fähigkeiten, die dasIndividuum zur Zeit buchstäblich besitzt.Den de facto Besitz von Leib, Intellekt und

Fähigkeiten sich kollektiviert vorzustellen,führt zu absurden Konsequenzen. Sie zukollektivieren ist logisch (und daher em-pirisch) unmöglich. Zum Eigentum gehörtferner all das, was das Individuum mitHilfe seiner Fähigkeiten erworben hat(nach den Prinzipien des „homesteading”und „Finder-keeper”), hergestellt, gekauft,erbettelt oder geschenkt bekommen hat.Aus diesem Begriff ergibt sich dann, zeit-relativ, die jeweilige Optionsmenge des In-dividuum, seine „Verfügungsgewalt”(power). Sie ist von Freiheit scharf zu un-terscheiden.

Wie einfältig Rousseaus berühmteThese ist, daß derjenige, der zuerst einGrundstück eingezäumt und dann den an-deren eingeredet habe, dies sei sein Eigen-tum (nach dem „finder-keeper” Prinzipoder dem „homesteading” Prinzip – vor-ausgesetzt, das dieses Stück Land keinenEigentümer hatte), den Leuten eine My-the verkauft habe, kann man an folgen-dem Beispiel sehen. Wolfgang Kasperweist darauf hin, daß die soziale Institu-tion des Eigentums vermutlich erst in derNeolithischen Revolution entstanden ist.Die Australischen Eingeborenen (Alt-Neolithikum) haben diese Institution nieentwickelt, obgleich sie über 5000 Jahremit (neolithischen) Gärtnern und Bauernin Nordaustralien (melanesische TorresStrate Insulaner von Papua) in Kontaktwaren und Früchte und Gemüse sehrschätzen. Sie lernten nie, diese selbst an-zubauen. Die Lösung dieses Rätsels istder Umstand, daß bei den Eingeborenenniemand Eigentum respektierte. Deshalbwar es sinnlos, etwas anzupflanzen. Sieentwickelten stabile Verhältnisse nur in

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Bezug auf Wanderrouten und niemals zueinem Stück Land. Die frühen amerika-nischen Farmer verteidigten ihr einge-zäumtes Grundstück selbst. Durch dieEinzäumung zeigten sie, daß sie bereitwaren, die Exklusionskosten zu tragen. Esentwickelte sich die Tradition des Re-spekts vor Eigentum, wobei die Aus-schließungskosten später durch Schutz-agenturen (etwa durch Zusammenschlüs-se von Farmern) getragen wurde.

De facto Eigentumsrechte des Bür-gers bestehen in dem Umfang, in dem derBetreffende die Ausschließungskosten tat-sächlich aufbringen kann. Der Straßenräu-ber, der in gewissen Stadtbezirken regel-mäßig Passanten ausraubt, ohne dabei eingrößeres Risiko einzugehen als ein dorti-ger Butikinhaber, genießt ein gewisses defacto Eigentumsrecht am Eigentum derPassanten und diese wiederum haben einentsprechend reduziertes de facto Eigen-tumsrecht an ihrem Eigentum. In perfek-ter Analogie dazu besitzt der Staat ein defacto Eigentumsrecht am Eigentum desSteuerzahlers und dieser ein entsprechendreduziertes de facto Eigentumsrecht andem, was er ohne diese Steuern besitzenwürde. (In der BRD hat ein Arbeitneh-mer de jure und de facto Eigentumsrechtnur auf die Hälfte seines Einkommen –„Hälftigkeitssatz” des Bundesverfas-sungsgerichts. Nur über diese Hälfte darfer individuell entscheiden.) Man könnteeinwenden, diese Steuern dienten auchdazu, Dienstleistungen zu finanzieren, diedem Bürger zugute kommen. Aber wiesteht es dann mit „legalen” Zahlungs-forderungen des Staates für Dienstleistun-gen, die der zum zahlen gezwungene Bür-

ger gar nicht haben will? Die ökonomi-schen Kosten sind für diesen Steuerzah-ler jedenfalls dieselben wie für das Opfereines Raubüberfalls, dem der gleiche Be-trag geraubt wird (wie in Abschn. 1.1.festgestellt wurde).

Als wichtigster Generator von Hand-lungsbeschränkungen haben Eigentums-rechte eine Schlüsselstellung in jeder zi-vilisierten Gesellschaft (Radnitzky 1997b,19). Mit Recht bezeichnet sie daher Hayekals „taboos”: bestimmte Arten von Hand-lungen sind „tabu”. Die Explikation desBegriffs „Eigentumsrechte” ist allerdingsabhängig von der politischen Philosophie,in deren Rahmen dies geschehen soll. (DerKontrast zwischen der étatistischen Auf-fassung und der libertarian Auffassungvon „Eigentum” wird behandelt z. B. inRadnitzky 1997c, pp. 21-24.)

1.3.2. Freiwilligen SozialordnungenDer Prototyp einer freiwilligen So-

zialordnung ist der Markt. Seine Urformist der Tausch. Der nicht-kontaminierte(freie, private) Markt ist ex definitionefreiwillig, frei von Zwang, denn ein ech-ter Tausch kommt nur dann zu Stande,wenn zwei Individuen meinen, daß siedurch einen Tausch ihre Situation verbes-sern können. Er ruht auf den beiden grund-legenden Prinzipien und den sie verkör-pernden Institutionen: Eigentum und Ver-trag. Vertrag setzt nicht Eigentum voraus,denn Eigentum kann auch durch Vertragzustande kommen. (Zum Beispiel zweiRobinsons auf einer Insel können über-einkommen, wie sie die Insel als ihr Ei-gentum aufteilen wollen. Das Durchset-zungsproblem kann durch Simultantrans-

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aktion [spot exchange] oder durch Tit-for-Tat Strategien gelöst werden.) Vertrag oderreziproke Versprechen implizieren Ein-stimmigkeit. Der Vertrag als solcher istdaher was seine Moralität betrifft über alleZweifel erhaben.

In Bezug auf die Entstehung der frei-willigen Ordnungen und der Zwangs-ordnungen halte ich folgende Thesen fürrichtig: Die freiwillige Ordnung geht lo-gisch und daher auch historisch jederZwangsordnung voraus; der Markt gehtdem Staat voraus (vgl. dazu Jasay 1996und das Kapital „Conventions” in Jasay1997).1.3.3. Auf Zwang ruhende Sozialord-nungen.

Der Prototyp einer zwanghaften So-zialordnung ist der Staat. Hier eine Ex-plikation des Begriffs „Staat” zu versu-chen, würde zu weit führen. Um dasExplikandum anzudeuten, soll folgendesgenügen: Der Staat ist im Wesentlichenein territorialer Monopolist der Gewalt.Er ist im betreffenden Territorium die letz-te Instanz gegen die es daher keine Beru-fung („appeal”) und keine effektive Ver-teidigung gibt. Seine Vorläufer sind staats-ähnliche Strukturen, z.B. die politischeStruktur der Stammesgemeinschaft. (Diegriechische Polis war der Stammesge-meinschaft viel näher als dem modernenStaat.)

Gemäß der Standardtheorie vom Ur-sprung des Staates entsteht ein Staat ausreinem Brigantentum: eine Gruppe über-trifft sämtliche Konkurrenten in der Or-ganisation von Gewalt – aus ihr entstehtschließlich ein Staatengebilde. Dafür gibtes zahlreiche historische Beispiele, auf

verschiedenen Ebenen, in verschiedenenGrößen und in verschiedenen Perioden.

Im Zeitalter der modernen Massen-demokratie erweist sich der Staat als dasInstrument, mit dem die Gewinnerkoali-tion die Verliererkoalition (den Rest derBürger) OHNE Gewaltanwendung aus-beuten kann. Doktrinen, die behaupten,der Staat sei notwendig (für bindendeVerträge usf.) oder er sei nützlich, erhö-hen die Effizienz dieses Prozesses (Jasay1997). (Die beiden Gretchenfragen: „Istder Staat legitim?” und „Ist der Staat not-wendig für bindende Verträge?” werdendiskutiert z. B. in Radnitzky 1997c, pp.42-46.) Jasays Analyse des Staates erweistden Staat als eine Art politische Plünde-rungsanstalt. Sie setzt die Tradition vonBenjamin Tucker, Albert Jay Nock undMurray Rothbard fort. Der moderne Staat– der sich von Franz Böhms Idee desPrivatrechtsstaates (Herrschaft strenger,allgemeiner Gesetze) weit entfernt hat –ist in seiner derzeitigen Form nicht ande-res als ein „stationärer Bandit” (MancurOlson), der seine Raubzüge in Form regel-mäßiger Steuererhebung durchführe undallerdings ein gewisses Eigeninteressedaran habe, die Unterworfenen nicht indem Maße auszuplündern, daß sie nichtmehr zahlungsfähig seien. Wenn ein Pa-rasit seinen Wirt tötet, stirbt er selbst, wenner keinen anderen Wirt findet. (Aus Hoch-besteuerung sind oft Revolutionen hervor-gegangen, wie z.B. in Rom, die Ameri-can Declaration von 1776, die Französi-sche Revolution). Baader (1997) beleuch-tet die konfiskatorische Natur des Staatesund ihre Grenzen in seinem Buch. In derdeutschen politischen Kultur ist allerdings

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der holistische Begriff „Staat” „hoheitlich”verklärt.

Der Instinkt des Staates ist konfiska-torisch – ein territorialer Monopolist, dermit Gewaltandrohung versucht, seine Ein-künfte zu maximieren. Besonders in derparlamentarischen Demokratie geschiehtdas mit einer hohen Zeitpräferenz der Po-litiker der Gewinner-Koalition (s. HoppesBeitrag in Bouillon, Hg., 1996). Hoffnungbietet nur die Globalisierung mit ihrer dis-ziplinierenden Wirkung. Jede Regierungist heute besorgt über die Bewertung ih-res Landes an den Kapitalmärkten, die einpermanentes Referendum über ihre Fis-kal- und Geldpolitik darstellt. Angesichtsder völligen Integration der internationa-len Finanzmärkte wird der heutige Trendzu mehr fiskalpolitischer Anständigkeitfür die Erhaltung der Standortqualität unddamit des Wohlstandes lebensnotwendig.

In einer sich globalisierenden Wirt-schaft verlieren die Regierungen ihre Au-tonomie. Gleichzeitig müssen sie heuteihre Machtkompetenzen, auch politische,soziale und sicherheitspolitische – dieKernfunktionen der Souveränität – mitGroßunternehmen, internationale Institu-tionen und Nicht-Regierungsorganisa-tionen teilen. So kann politische Machtgegen das internationale Finanzwesenüberhaupt nichts ausrichten. Eine Reakti-on auf diese Situation sind die sozialde-mokratischen Ängste über den Zerfallstaatlicher Regulierungsmittel und staat-licher Gewalt in der nationalen Wirtschaft.Die reaktionäre alte Linke (im Gegensatzzu „New Labour” in England, die ideolo-gischen Ballast abwirft) beruft sich nochimmer auf das Primat der Politik und ruft

nach staatlichen Gegenmaßnahmen gegenalle Liberalisierungsimpulse der grenz-überschreitenden Wirtschaftskonkurrenz.Ihre Vertreter sind typische Étatisten.

Étatismus definiere ich als die An-sicht, daß ohne den Staat als letzte Durch-setzungsinstanz (last enforcer) bindendeVerträge nicht möglich seien und daß dieKooperation selbst in kleineren Gruppenohne einen staatlichen Durchsetzer (enfor-cer) nicht möglich sei, sowie daß der Staatlogisch (und daher historisch) Priorität vordem Markt habe. Der Anti-Étatismus ver-neint diese Thesen. Heute treten étatisti-sche Doktrinen meist in Form von Expli-kationen der Begriffe „Gerechtigkeit” und„Soziale Gerechtigkeit” auf. In Wirklich-keit geht es den Étatisten darum, „Gerech-tigkeit” als etwas anderes als Gerechtig-keit darzustellen, als „Fairness”, als„Gleichheit der Möglichkeiten”, als „Ver-nünftigkeit” usf. (Radnitzky 1996 gibtBeispiele.), um den Liberalismus zu dif-famieren.

2. POLITIKDas Charakteristische an einer

Zwangsordnung wie dem Staat ist, daßeinige Personen (z.B. die Majorität) Ent-scheidungen für andere (z.B. die Minori-tät) treffen – Politik – und daß sie ihreEntscheidungen den anderen aufzwingen.(Jasay 1991, 57 f.; Radnitzky 1995a, 370).Der Haken („catch 22”) besteht darin, daßdiese Personen über die Köpfe der ande-ren für diese anderen Entscheidungen tref-fen, und zwar gemäß Regeln, die selbstdurch Kollektiventscheidungen zustandegekommen sind und auch mittels Kollek-tiventscheidungen durchgesetzt werden.‘Kollektiventscheidung’ steht hier als Ab-

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kürzung für ‘nichteinstimmige Kollektiv-entscheidung’, denn wenn per improbale(per impossibile) die Beteiligten ihre In-teressen als identisch empfänden (subjek-tiv also), verlören Kollektiventscheidun-gen ihre Pointe.

Politische Konfliktlösung ist nicht-einstimmig. Wenn politische Entscheidun-gen durch nichteinstimmige Kollektiv-entscheidungen zustande kommen, dannwird immer etwas umverteilt (materielleRessourcen, Positionen usf.) und zwargegen den Willen derjenigen, die der Ent-scheidung nicht zugestimmt haben. Kol-lektiventscheidung – Politik als solche –impliziert daher immer Zwang. Primafacie ist diese Art von Zwang mit der Ideeder Freiheit unvereinbar. Daraus ergibtsich das moralische Problem der Politik.Das gilt also für Politik als solche, fürjede Politik. Es geht nicht um die Morali-tät von substantiven Entscheidungen (Paulgegenüber Peter bevorzugen), und es gehtauch nicht um prozedurale Aspekte (de-mokratische Entscheidungen oder ande-re). Abgesehen davon, daß Politik oft un-ehrlich ist und oft mißbraucht wird, läßtsich das am besten in Edmund Burkes(1729-1797) Worten über Politik ausdrük-ken: „The Thing, the Thing itself is theabuse.“ (das Ding selbst ist der Miß-brauch). Ein Gedanke, der von Anthonyde Jasay weiterentwickelt wurde.

Kollektiventscheidung, die nichtein-stimmig ist (hier kurz ‘Kollektiventschei-dung’) ist der Sündenfall im Zusammen-leben der Menschen. Er drückt dem so-zialen Zusammenleben seinen Stempel(sein „Kainsmal”) auf , und ebenso demMenschen als Sozialwesen. Daher wird

ein Freund der Freiheit, ein Libertariannach Wegen suchen, um den Einfluß vonPolitik auf unser Leben zu minimieren.

3. METHODEN DER KOLLEK-TIVENTSCHEIDUNG

Da Kollektiventscheidungen im Zu-sammenleben unvermeidbar sind, stelltsich das Problem, welche Methode anzu-wenden sei. Mit Anthony de Jasay (1991)teile ich die möglichen Methoden ein in„natürliche” und artifizielle (prozedurale)Methoden. Bei der „natürlichen” Metho-de werden die Machtverhältnisse der kon-kurrierenden Untergruppen abgeschätztund danach wird entschieden. Die „natür-liche” Methode hat den Vorteil, daß siedeutlich macht, daß Kollektiventscheidun-gen „teuer” sind: durch ihr Zwangsele-ment unterminieren sie die Loyalität vie-ler Bürger zum Staat. Bei den artifiziellenMethoden erfolgt die Entscheidung nacheiner bestimmten Prozedur, z.B. Orakel-oder Ältestenbefragung, Losziehen oderAbstimmen. Die prozeduralen Methodenhaben den Nachteil, daß sie den Anscheinerwecken, die Kollektiventscheidungen,die einfach zu praktizieren sind, würdennichts „kosten”.

Entscheidend aber ist, daß es sich beieiner Kollektiventscheidungen, bei politi-scher Konfliktlösung, um ein substantiel-les (substantive) Problem handelt – siewerden ja erst durch das Vorliegen vonkonflingierenden Interessen notwendig –und daß eine prozedurale Methode einsubstantielles Problem prinzipiell nichtlösen kann.

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4. BISHERIGE VERSUCHE,DAS MORALISCHE PROBLEMDER POLITIK ZU LÖSEN

4.1. Vertragstheoretische Legiti-mationsversuche.

Die einflußreichsten Argumente zurLegitimierung von Politik und Staat sindvertragstheoretisch. (Eine Kritik dieserAnsätze wird versucht in Radnitzky1997c, pp. 42-45.) Diese Argumente ver-lassen sich darauf, daß eine bestimmte Artvon Regeln, nämlich Regeln für das Regel-machen für konkrete Kollektiventschei-dungen (also bei substantiven Problemen)vorher eine einstimmige Zustimmung ge-funden hat. Vor allem durch einen „Sozial-vertrag”, der als ein hypothetischer „Ver-trag” aufgefaßt wird. Aber es ist ein enor-mer Unterschied zwischen einem hypo-thetischen Vertrag und einem echten Ver-trag. Das wird von den Vertragstheore-tikern (contractarians) übersehen oderunterschlagen.

4.2. Der Konstitutionalismus.Aus dem vertragstheoretischen An-

satz entwickelt sich der Konstitutionalis-mus: man verläßt sich auf die Verfassung.Hält das der Kritik (z.B. Jasays „Keusch-heitsgürtel-Argument”: die Verfassunggleiche einem Keuschheitsgürtel, von demdie Lady selbst den Schlüssel hat) stand?Das ist auch ein Problem für „Minarchi-sten”, Anhänger des „Minimalstaates”.3

Und wenn man sich auf prozedurale Re-geln verläßt, dann stellt sich eben die obengenannte prinzipielle Frage: kann es fürsubstantive Probleme überhaupt (im Prin-zip) prozedurale Lösungen geben? – eineFrage die negativ zu beantworten ist.

Ohne diese Frage zu bedenken – m.W. hat erst Jasay darauf aufmerksam ge-macht – hat sich der Westen für eine be-sondere Form der Abstimmungsmethoden(einer Untergruppe der prozeduralen Me-thoden) optiert: der demokratischen Me-thode, geregelt durch bestimmte Art vonkonstitutionellen Regeln.

Bei der Journaille ist die demokrati-sche Methode der Kollektiventscheidungoft zu einer Art Glaubensbekenntnis ge-worden: in einem Zirkelargument beruftman sich auf die demokratische Metho-de, um diese zu legitimieren. Außerdemwird demokratische Methode oft als einsogenannter Cargo Cult behandelt: beson-ders im Zusammenhang mit den Refor-men in den ehemaligen Oststaaten tut manoft so, als ob man nur diese Entschei-dungsmethode einzuführen brauchte undschon würde sich, wie durch einen Zau-berschlag, Prosperität einstellen, würdensich die Regale der Geschäfte mit Warenfüllen. Man könnte von einem „totemisti-schen Demokratismus” sprechen (vgl.Radnitzky 1995b, S. 197-204).

Die Konklusion dieser Überlegun-gen ist, daß das Problem der Kollektiv-entscheidung bisher nicht gelöst wordenist. Die intellektuelle Selbstachtung gebie-tet es, daß wir das offen eingestehen.

5. DEMOKRATIE UND WOHL-FAHRTISMUS (WELFARISM)

5.1. Demokratieinduzierte Umver-teilung (welfarism) reduziert die Frei-heit.5.1.1. Die Dynamik der Demokratie

Das einfachste Modell der demokra-tischen Politik ist ein Drei-Personen-Spiel. Wir können eine Gesellschaft be-

14 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

schreiben als ein Aggregat von drei Grup-pen geordnet nach Einkommen: Unter-,Mittel- und Oberschicht Die Mittelgruppeist der „Medianwähler”, das Zünglein ander Waage (in der BRD die FDP). Derpotentielle Gewinn aus der demokrati-schen Spielregel wird dann maximiert,wenn Unter- und Mittelgruppe sich zu-sammen tun, um einen Teil des Einkom-mens der Obergruppe zu sich umzuver-teilen. Im Modell können wir die Grup-pen idealisieren als jeweils 50% der Ge-samtsumme minus 1 (den Medianwähler)und 50% plus 1, also z.B. bei einer Ge-samtzahl von 1001, 500 plus l (den Me-dianwähler) und 500. In der Wirklichkeitkann man sich die Gruppierungen mitetwa jeweils 40-45 zur Mittelgruppe(„Medienwähler”) von l0-20% vorstellen.

Bedeutende Wirtschaftswissenschaft-ler haben die Hypothese vertreten, daß esin der demokratischen Methode eine en-dogene, d.h. inhärente, Nutzen-inspirier-te Barriere gegen unbegrenzte Umvertei-lung gebe. Jasay hat gezeigt, daß das Ar-gument selbst dann nicht stichhaltig ist,wenn die ärmere Hälfte als holistischerAgent aufgefaßt wird (Jasay 1995, Fn. 13,B-II). Denn dieser Agent könnte dann denMedianwähler bestechen, und die Dyna-mik würde sich bis zum Kollaps der Wirt-schaft auswirken. Aber das ist nicht not-wendigerweise der Fall. Immerhin läßtsich folgendes feststellen: die Wohlfahrts-demokratie hat eine eigene Dynamik, dieso beschaffen ist, daß, wenn sie sich un-gehindert auswirken darf, sie möglicher-weise oder sogar sehr wahrscheinlich dieSelbstzerstörung des demokratischen Sy-stem herbeiführen wird.

Kann es eine „Pareto-optimale”oder eine „Pareto-verbessernde” (Pare-to-superior) Umverteilung geben? DieVeränderung vom Zustand No. 1 zu Zu-stand No. 2 nennt man ‘Pareto-superior’,dann und nur dann, wenn im Zustand No.2 zumindest ein Mitglied der relevantenGruppe „besser gestellt” ist als vorher undkein einziges Mitglied der Gruppe „schlech-ter gestellt” ist. Es besteht die Versuchung,„besser gestellt” in monetären Terms aus-zudrücken. Das ist die konventionelleWeise, mit der versucht wird, Inkommen-surables als kommensurabel erscheinen zulassen. Ein Täuschungsmanöver, das sogewöhnlich ist, daß es die meisten Men-schen gar nicht mehr auffällt. Gemäß dersubjektiven Werttheorie (der einzigenontologisch und epistemologisch vertret-baren Werttheorie) kann nur das Indivi-duum selbst entscheiden, ob es seine per-sönliche Situation im Zustand No. 2 als„besser” bewertet als im Zustand No. 1.In Anbetracht der Tatsache, daß der Neiddie vielleicht stärkste Emotion und einemenschliche Konstante ist, kann es sehrwohl der Fall sein, daß das Individuumseine Situation als „schlechter” bewertet,selbst dann, wenn es in absoluten Termsreicher geworden ist, aber der Nachbarnoch reicher geworden ist relativ zu ihm.Die Annahme, daß das Individuum indif-ferent ist gegenüber Veränderungen in derSituation anderer relativ zu ihm, ist arbi-trär. Es gibt nichts, was zu ihrer Stützungangeführt werden könnte. Damit erweistsich der in der Wohlfahrtsökonomie zen-trale Begriff von „Pareto-superior” alswertlos.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 15

5.1.2. ThesenThese 1. Demokratische Verfas-

sungsregeln (prozedurale Regeln) führennotwendigerweise zu einer umverteilen-den Sozialordnung und damit zu einerweitgehend zwanghaften Ordnung. Wennuneingeschränktes Wahlrecht praktiziertwird, dann ist dieser Effekt am deutlich-sten.

Daher ist die Bezeichnung ‘Umver-teilungsdemokratie’ viel treffender als ‘li-berale Demokratie’, ein Ausdruck, der beider Analyse sich im Kontext als contra-dictio in adjecto entpuppen kann, abhän-gig davon welches Explikat des Begriffs„liberal” verwendet wird. Die implizierteHintergrundannahme bei These 1, ist daßdie Teilnehmer am „Demokratiespiel” imallgemeinen, d.h. statistisch, als rationaleNutzenmaximierer agieren. Die These 1findet auch reichlich Bestätigung in derGeschichte. Das 20. Jahrhundert, das Jahr-hundert der Demokratie – die auch alleanderen Regimeformen überdauert hat –ist auch die Ära des Wohlfahrtsstaates, desSozialstaats. Demokratie und schleichen-der Sozialismus sind zwei Seiten dersel-ben Münze geworden. Die Kriege habendiese Entwicklung kräftig verstärkt („war-sprung socialism” in Robert Nisbets For-mulierung). Diese Entwicklung begannmit der Französischen Revolution (1789),der Mutter der großen sozialistischen Re-volutionen, (1917 in Rußland und 1933in Deutschland). Alle drei Umwälzungenwaren begleitet von humanistischer Rhe-torik (mit der Guillotine im Hintergrund)als Kamouflage totalitärer Tendenzen.Sogar die Tscheka trat als „humanistisch”auf: „Uns ist alles erlaubt” (denn wir sind

der Fortschritt), Ähnliches im National-sozialismus (die „arische” Rasse sollte dieMenschheit verbessern). Das 20. Jahrhun-dert ist nicht nur das Jahrhundert der Mas-senmorde durch Staaten (Courtois 1997,Rummel 1984), sondern auch das Jahr-hundert der Hypokrisie. Auch im moder-nen UNO-Gerede über „Menschenrech-te” steht potentieller Zwang im Hinter-grund.4 , ebenso in der EU-Parole vom„Einebnen des Wohlstandsgefälles” (clo-sing the prosperity gap), den die effekti-veren Länder finanzieren sollen.

Heute wird diese Mischung, die so-zialdemokratische Mentalität, auf denMarkt gebracht mit verschiedenen Waren-zeichen, je nach wahltaktischen Überle-gungen („Sozialdemokraten“, „Christde-mokraten”, „Christlich-soziale”, ja sogar„Liberale” [in der BRD, und seit langemin Amerika „Eastcoast liberals” or „big-government liberals”, wo ‘liberals’ syn-onym mit „links” geworden ist]). ZumBeispiel in der BRD können wir eine „So-zialdemokratisierung” der Union beobach-ten. Die Regierung Kohl hat die Umver-teilung von Mitteln und Vorteilen in derWirschafts- und Sozialpolitik so weit vor-angetrieben, daß die Positionen von Uni-on und Sozialdemokratie oft kaum unter-scheidbar sind.

Der Sozialismus hat zwei Pfeiler: dieegalitäre Grundströmung und die kon-struktivistische Mentalität (Hayek nanntesie ‘l’ésprit de l’école polytechnique’). DerKonstruktivismus übersieht die Begrenzt-heit des menschlichen Erkenntnisvermö-gens und leidet daher unter der Hybris derMachbarkeit. Er übersieht auch die Wich-

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tigkeit von spontanen Ordnungen. Einaktuelles Prachtbeispiel einer konstrukti-vistischen Haltung ist die EU. Die Brüs-seler Kommission und das StraßburgerParlament sind zum Dorado für Gruppen-interessen geworden (Pedro Schwarzsprach von einem „poachers paradise”),in dem Interessengruppen für Subsidienund Regulierungen kämpfen können, aufKosten von Freiheit und Wohlstand ihrereuropäischen „Mitbürger”. Die Zukunft istoffen, aber derzeit dominieren interven-tionistische und zentralistische (kurz étati-stische) Züge, man denke nur an die künst-liche Einheitswährung – die Motivationdafür ist rein politisch und hat mit wirt-schaftlichen Überlegungen nichts zu tun.

These 2. Wohlfahrtismus reduziertdie Freiheit, freiwillige Ordnungen in derGesellschaft wurden zunehmend ersetztdurch zwanghafte Subordnungen, imSchulwesen, in der Altersversorgung usf.(zahlreiche Beispiele in Radnitzky 1995b,pp. 197-204 und in 1997c, pp. 39 f.). Dasist notwendiger Weise so, denn „Versiche-rung” gegen alle Lebensrisiken bedingteine fast vollständige Kontrolle.

These 3. Je betonter das konstrukti-vistische Element ist, desto mehr Lebens-bereiche werden politisiert und desto au-genfälliger werden die Perversitäten derUmrührgesellschaft („churning society”).Zu dieser Konklusion kommt man bereitsaus theoretischen Überlegungen über dieDynamik der Demokratie. Sie wird in derGeschichte (case histories) bestätigt.

These 4. Freiheit ist eine Vorausset-zung für Prosperität (vgl. Abschn. 1.1.).

Ludwig von Mises und Friedrich vonHayek haben bereits in den 20er Jahren

den wirtschaftlichen Bankrott der funda-mental-sozialistischen Systeme vorausge-sagt. Mises betonte, daß der Unterschiedzwischen dem fundamentalistischen(wholesale) Sozialismus mit Kommando-wirtschaft und dem schleichenden Sozia-lismus (Sozialdemokratie, creeping socia-lism) nur im Tempo liegt, in dem ein Landverarmt – der schleichende Sozialismuswirkt wie ein langsames Gift. Beide stütz-ten ihre Voraussage auf die Unmöglich-keit ökonomischer Kalkulation im Sozia-lismus. Besonders Mises betonte, daßPreise ihre Signalfunktion über relativeKnappheiten nur dann erfüllen können,wenn sie sich in einer freiheitlichen Ord-nung, im Markt, herauskristallisiert haben,das heißt nur in dem Maße, in dem derreal-existierende Markt einen freien, pri-vaten Markt approximiert. Es gibt übri-gens auch Beispiele dafür, daß eine Libe-ralisierung der Wirtschaft zur Erhöhungdes Wohlstandes führt – kürzlich konntenwir das in Neuseeland beobachten und imchilenischen Pensionssystem.

6. DER DEMOKRATIEINDU-ZIERTE WOHLFAHRTISMUS HATDAS INTELLEKTUELLE KLIMAVERÄNDERT.

6.1. Der Wohlfahrtismus hat dieAuffassungen von Staat und Bürger(statehood and citizenship) sowie dasihnen zu Grunde liegende Menschen-bild transformiert.6.1.1. Vom Schutzstaat (protective state)zum Versorgungsstaat (provider state) undvom Menschenbild des mündigen Men-schen zum Menschenbild des unmündigenMenschen

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In den traditionellen vertragstheo-retischen Argumenten die versuchen, denStaat zu legitimieren, wird der Menschkonzipiert als mündiger, autonomer Han-delnder, der seine Waffen dem Leviathanübergibt in der Hoffnung, dadurch in Zu-kunft Schutz zu erhalten und den verschie-denen sogenannten „Gefangenendilem-mas” (prisoners’ dilemmas) zu entkom-men. Das einzige Mandat, das der Staaterhält, ist die Schutzfunktion. Der Staatdarf in das Leben der Bürger nur eingrei-fen, um sich die zur Erfüllung seines Man-dats „notwendigen” Ressourcen zu ver-schaffen. Jeder andere Eingriff ist demStaat verboten. Es wird dabei vergessenzu fragen, was den Staat denn hindernsollte, sein Mandat zu überschreiten unddie Bürger, die sich gutgläubig entwaff-net haben, weiteren Zwang auszusetzen.Außerdem ist der oben angesprocheneVertrag ein kontrafaktueller, ein hypothe-tischer Vertrag, und es darf nicht verges-sen werden, daß das etwas ganz anderesist als ein wirklicher Vertrag.

In der zum Schutzstaat (protectivestate) gehörigen Konzeption von Staats-bürgerschaft ist, wie gesagt, der Staats-bürger ein autonomes, mündiges Indivi-duum, das seine Waffen freiwillig demLeviathan übergeben hat und mit ihm ei-nen (hypothetischen) Vertrag geschlossenhat. Zumindest im Prinzip wird derMensch als verantwortlicher Bürger an-gesehen, der nicht nur seine eigenen An-liegen verfolgen darf, sondern auch ver-pflichtet ist, für sich und die Seinen zusorgen.

Ein Blick auf die Geschichte zeigtuns, daß im preußischen „Sozialen Kö-

nigtum” die Untertanen nur als vorläufigunmündig, aber zur Mündigkeit erziehbar,angesehen wurden (Habermann 1994).Man stellte sich vor, sie könnten unter An-leitung des wohlwollenden, paternalisti-schen Staates und seiner Kontrolle schließ-lich dazu erzogen werden, ihren eigenenGeschäften verantwortungsvoll nachzuge-hen. Diese Idee war zwar Hybris, aber dasihr zu Grunde liegende Menschenbild im-merhin optimistisch, verglichen mit dermodernen Auffassung, die den Menschenals permanent, von der menschlichen Kon-stitution her, als unmündig ansieht. (ZumBeispiel bei der Frankfurter Schule wer-den die Emanzipatoren niemals überflüs-sig werden.) (Der Wandel des Menschen-bildes wird behandelt z. B. in Radnitzky1997c, pp. 47-50.)

Der Wohlfahrtsstaat ist ein Meisteraus Deutschland (Gerd Habermann). Sei-ne Wurzeln können zurück verfolgt wer-den zum „Bismarckismus“ (staatliche So-zialpolitik) und dann zum „Sozialen Kö-nigtum”. Er hat sich dann in der gesam-ten westlichen Welt verbreitet (ob der Bis-marckismus imitiert oder mehrfach erfun-den wurde, spielt hier keine Rolle). Er ma-nifestierte sich auch in Ländern, die alsVorzeigebeispiele einer freien Gesellschaftgalten, so etwa vor dem Zweiten Weltkriegin England (Lloyd George) und in denUSA (Roosevelt’s „New Deal”).5 (Roose-velt brauchte den Krieg, um den „NewDeal” durchsetzen zu können [Raico inDenson, ed. 1997].) Nach dem Krieg in-spirierte der Bismarckismus und mit ihmdas preußische Erbe den Beveridge Plan,die Fortsetzung des „New Deal” 6 und das„Schwedische Modell” (Gunnar und Alva

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Myrdal, die bereits vorher die nationalso-zialistische „Volksgemeinschaft” bewun-dert hatten) und infizierte sogar dieSchweiz (G. Schwarz 1991). (Vgl. auchRadnitzky 1997e.)

Die moderne Konzeption des Staats-bürgers sieht den Bürger als Staats-pensionär. Der Schutzstaat (Privatrechts-staat, protective state) hat sich verwandeltin den Versorgungsstaat (provider state).Der Staat ist nun die politische Struktureines Zusammenschlusses, hauptsächlichin wirtschaftlichen Belangen, von Produk-tiven und Unproduktiven (den „Bedürfti-gen”, den „sozial Schwachen”). DieserZusammenschluß ist von Grund aufZwang aufgebaut. Unabhängig von tat-sächlicher Bedürftigkeit teilt der Staat dieRollen von Trittbrettfahrern und von „Dum-men” den Bürgern zu. Die Advokaten der„Bedürftigen”, der „sozial Schwachen”entwickeln eine bewundernswerte Erfin-dungsgabe, indem sie im Namen der „so-zialen Gerechtigkeit” immer neue „sozia-le Rechte” erfinden. (Sie haben selbst auchVorteile von ihrer Fürsprache für die „Ar-men” [der Ökonom Thomas Sowell mein-te dazu für diese Leute wären die Armeneine Einkommensquelle, „the poor are abonanza”.) Das Gerede von sozialenRechten ist der bevorzugte Jargon derBerufspolitiker geworden. Die „Philoso-phen der Gerechtigkeit” (Rawls, Scanlon,Brian Barry & Co.) geben Explikationenvon „Gerechtigkeit” als etwas Anderes(Radnitzky 1996), um für Nivellieren zuplädieren.

Als Folge dieser Entwicklung wächstder Leviathan krebsartig und er wird auchzunehmend gefräßiger, die Besteuerung

wird konfiskatorisch und mehr und mehrLebensbereiche werden politisiert. (Dassozialdemokratische „schwedische Mo-dell” sollte ein abschreckendes Beispielsein [Radnitzky 1993].) Die Gesellschaftwird zur Umrührgesellschaft (der chur-ning society), in der in den meisten Fällendie Benefizienten der Umverteilung unddie „Dummen” dieselben Personen sind.Die egalitäre Grundströmung ist deutlichzu erkennen. Das Menschenbild ist dasoben für die moderne Auffassung genann-te: der Mensch ist permanent unmündigund braucht den paternalistischen Staat.Etwas inkonsistent damit ist, daß der prin-zipiell unmündige Bürger dennoch alskapabel angesehen wird, seine Vormünderin Parlamentswahlen rational zu wählen,und daß auch diese Vormünder (obgleichdas Menschenbild auch auf sie zutreffenmüßte) als kapabel angesehen werden, denRest zu bevormunden, für den Rest kol-lektiv zu entscheiden (wobei die Gewin-nerkoalition oft aus 50% plus einer Stim-me besteht und oft bunt zusammen gewür-felt ist). Ist das Resultat pervers, dann heißtes: „es war der Wille des Volkes” (wert-relativistisch) oder „das Volk hat die Re-gierung, die es verdient” (demokratie-skeptisch).

In den real existierenden westlichenLändern ist der Staat eine Umverteilungs-demokratie geworden. Die Schutzfunktionist atrophiert und weitgehend durch dieUmverteilungs- und Versorgungsfunktionersetzt worden. Bei der Umverteilungspielen die direkten Transfers eine unter-geordnete Rolle verglichen mit den subti-leren Mitteln der Umverteilung wie Subsi-dien, Regulierungen usf. Die Umvertei-

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lungssucht führt zu einer zunehmend aufZwang ruhenden Sozialordnung. (Jasaynennt diese Sucht „addictive redistribu-tion”, Jasay 1985, S. 208-227.) Im Ge-gensatz zu dieser Entwicklung steht alleindie Sicht des strikten Liberalismus, der nurfreiwillige Umverteilung als moralisch ge-rechtfertigt ansieht. Eine solche Umver-teilung würde bereits durch den Konsensdas Wohlbefinden sowohl der Gebendenals auch der Empfänger erhöhen.

Die utilitaristisch inspirierte Umver-teilung (möglichst großes Wohlbefindenmöglichst großer Anzahl von Bürgern)scheitert am Problem der Aggregation, ander logischen Unmöglichkeit von inter-personellen Nutzenvergleichen – wie solltePauls Freude mit dem Peters Schmerz ver-rechnet werden? Das bedeutet, sie schei-tert an einem Erkenntnisproblem, wie alleVersuche, Inkommensurables als kom-mensurabel erscheinen zu lassen, indemman diese Inkommensurablen in artifizi-ellen Einheiten (meist monetären Einhei-ten) ausdrückt. Verglichen mit dem Er-kenntnisproblem sind alle anderen Proble-me des Utilitarismus weniger wichtig,etwa die Probleme des Anreizeffektes(perverse Anreize), der administrativenKosten und Ungleichheit, die durch dieEinführung von zwei Klassen, der Mas-sen, die nivelliert werden sollen, und derNivellierer, entsteht. Die Rhetorik desUtilitarismus verdeckt, daß es sich umeine Unterdrückung der Freiheit handeltsowie um eine Aversion gegen jedes Un-ternehmertum, um eine Diskriminierungjeglicher Qualität.

Die utilitaristischen Umverteilerkommen dem Idealtyp des negativen Uti-

litaristen (möglichst großes Leiden einermöglichst großen Anzahl) sehr nahe. Sietun das, indem sie Eigentumsrechte aus-höhlen, Freiheit einschränken, Anreizezerstören und die Verantwortung kollek-tivieren (Radnitzky 1995b). (Der man-gelnde Respekt vor Eigentum der BonnerRegierung zeigt sich besonders drastischin der Handhabung der Enteignungen inder SBZ(„DDR”). Vgl. dazu Radnitzky1995b, Fn. 9, Radnitzky 1998, Coda.) Aufdiese Weise werden gleichzeitig Freiheitund Prosperität reduziert bis abgeschafft.Unsere Politiker (Sozialdemokraten unterverschiedenen Parteibezeichnungen, vgl.Abschn. 5.1.2 oben) kommen dem Ideal-typ des negativen Utilitaristen immer nä-her.

6.2. Der Wandel der Schlüsselbe-griffe spiegelt sich in der Sprache abund wirft Licht auf den zu Grunde lie-genden Mentalitätswandel.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts zeichnet sich in vielen westlichenDemokratien ein Mentalitäswandel ab, zueiner sozialdemokratischen Mentalität.Besonders betroffen ist das kontinentaleEuropa, am schlimmsten Schweden.Amerika ist davon verhältnismäßig ver-schont geblieben und es gibt auch Län-der, die nicht infiziert wurden (z. B. Sin-gapur und Hongkong) sowie Länder, diewieder gesundet sind (z. B. Neuseelandoder in Bezug auf Pensionssysteme Chi-le).6.3.1. Die politisch korrekte Sprachrege-lung – im Dickicht der Lügenwörter

Der Inhalt von Schlüsselbegriffenwird durch Suggestivdefinitionen ver-dreht, und oft wird die Begriffsbezeich-

20 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

nung zur Leerformel. In der „Neusprache”ersetzen politisch korrekte Termini dieüberkommenen Ausdrücke. Diese Verän-derungen lassen sich vermutlich besondersgut an der deutschen Sprache studieren (siesind initiiert von den öffentlich-rechtlichenMedien der BRD). Meines Wissen sinddie anderen europäischen Sprachen vonder Sprachregelung weniger betroffen.

Beispiele gibt es in beliebiger Men-ge. Besonders augenfällig ist die stalini-stische Sprachregelung, die sich in eini-gen Themenbereichen besonders nach der„Wende” durchgesetzt hat. Zum Beispiel,daß anstelle von ‘Nationalsozialismus’ derAusdruck ‘Faschismus’ gebraucht wird(der die Sache zwar verharmlost, aber dienegativen semantischen Obertöne, die‘Sozialismus’ durch die Zusammenset-zung bekommt, vermeidet). Denn dasWort ‘sozial’ bedeutet im deutschen poli-tischen Diskurs etwas an sich Gutes.

Friedrich von Hayek nannte das Bei-wort ‘sozial’ ein Wieselwort: ein Wieseltrinkt ein Ei aus und läßt die leere Schalescheinbar unbeschädigt zurück. Besondersbeliebt ist es auch, den Ausdruck ‘Gerech-tigkeit’ mit dem epitheton ornans ‘sozial’zu versehen, das im Kontext keine eigent-liche Bedeutung hat, sondern nur so vielsuggeriert wie „etwas Gutes”. Was die„soziale Gerechtigkeit” von anderen Ar-ten der Gerechtigkeit unterscheidet undwas sie als eine Abart von Gerechtigkeitausweist, das wird nicht gesagt. Der zu-sammengesetzte Ausdruck ‘soziale Ge-rechtigkeit’ ist dann eine Leerformel. Ideo-logische Pfadfinder füllen die Worthülsesogleich mit Inhalt, und zwar im Sinne vonNivellieren.

Es gibt jede Menge von Lügen-wörtern. Ein gutes Beispiel ist ‘Genera-tionenvertrag’: man tut so als ob man mitKindern und sogar mit noch Ungeboreneneinen Vertrag abschließen könnte.

‘Freiheit’ wird oft systematisch kon-fundiert mit Verfügungsgewalt (power).Man tut so als ob mit der Erhöhung derVerfügungsgewalt, der Menge der mate-riellen Möglichkeiten, auch die individu-elle Freiheit erhöht würde.

‘Solidarität’, die sich nur auf dieKleingruppe beziehen kann, wird miß-braucht, indem man suggeriert, man kön-ne sie auf großen Kollektive ausdehnen,sich mit ihnen „solidarisieren”. Hier wirddie Moral der Kleingruppe (face-to-facegroup) konfundiert mit der Moral der an-onymen Großgesellschaft. Wenn jedochdie Moral der Horde in die Großgesell-schaft eingeführt würde, dann würde siediese Großgesellschaft zerstören und da-mit unsere Freiheit und Wohlstand.

Ein Trick, der vermutlich nur in derdeutschen Sprache verwendet werdenkann, ist es, heuchlerisch und moralisie-rend Zwänge als „Pflichten” zu bezeich-nen. (Beispiele: Sozialversicherungs-,Steuer-, Wehr-, Schul-, und Einwohner-meldepflicht – de facto alles Zwänge.) Diezusammengesetzten Wörter mit ‘Plicht-’sind in Deutschland enorm beliebt, undlassen sich nicht direkt übersetzen.

Neu eingeführte Steuern werden lie-ber als ‘Beitrag’ (Sozialversicherung) be-zeichnet oder als ‘Gebühr’, oder bagatel-lisiert als ‘Pfennig’ (Kohlepfennig), oderals ‘Zuschlag’ (Solidaritätszuschlag) be-zeichnet. Die Politiker zeigen hier großePhantasie als Wortschöpfer. (Vgl. dazu z.

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B. Habermann 1995, S. 167 ff., der einesehr gute, kurze Übersicht über beliebteLügenwörter bietet.)

‘Sozialpartnerschaft’ wird für dasmächtigste Kartell der deutschen Ge-schichte auf dem Arbeitsmarkt verwen-det. Auch der Ausdruck ‘Arbeitsmarkt’ist dabei irreführend, da bei dem kartel-lierten deutschen „Arbeitsmarkt” von ei-nem richtigen Markt keine Rede sein kann.

‘Eigeninteresse’ wird konfundiertmit ‘Egoismus’. Der Trick ist sehr beliebtbei Bischöfen (Harris 1996). Die schwe-dischen Sozialdemokraten verwendeten inden 80er Jahren sogar einmal als Wahl-slogan: „Bort med familjeegoism” (Wegmit dem Familienegoismus), denn dieLoyalität des sozialistischen Menschensoll dem Kollektiv gehören und nicht dereigenen Familie.

Im Strafrecht im weiten Sinn (crimi-nal justice) hat eine pikante Transforma-tion stattgefunden. Der Staat tut so, als obder Verbrecher sich nicht gegen sein Op-fer vergangen hätte, sondern gegen denStaat. Das mag daher kommen, daß derStaat Raub, Diebstahl usf. – also privateUmverteilung – als einen Einbruch in seinMonopol der Expropriation – staatlicheUmverteilung – ansieht (vgl. Abschn. 1.2oben). Deshalb tritt auch die Kompensa-tion des Opfers in den Hintergrund. Denndie Schuld am Verbrecher trägt nicht derVerbrecher, sondern „die Gesellschaft” –die „soziale” Schuldtheorie – oder allen-falls auch das Opfer (victimology). Des-halb kann es vorkommen, daß das Opferanstelle von Kompensation zu erhalten,gezwungen wird, durch seine Steuern fürdie Resozialisierung des Täters zu zahlen.

Ein tragikomischer Effekt. Ähnliches ge-schieht auf der kollektiven Ebene, wenndurch den „Zukunftsfond” („deutsch-tschechische Vers(h)öhnungserklärung”)vertriebene Sudetendeutsche, gezwungenwerden, ihren Enteignern und VertreibernKompensation zu bezahlen. (Radnitzky1998, Coda). Das bringt uns zum näch-sten Thema.6.3.2. Durch Kollektivierung von Verant-wortlichkeit wird die Verantwortung ab-geschafft.

Verantwortung kann nur das Indivi-duum tragen und zwar nur für sein eige-nes Handeln. Die Kollektivierung der Ver-antwortung geschieht fast immer unter derOberfläche. Man kann sie meist nur anden Symptomen erkennen. Die Finanzensind dabei die treibende Kraft in der Poli-tik. Das kann man an der Entwicklung derBRD gut beobachten. Das Grundgesetzvon 1949 war weitgehend auf die Länder-autonomie ausgerichtet. Diese trugen da-mals noch große Verantwortung. Heute istdie Autonomie bei der Einkommens- undKörperschaftssteuer verschwunden. Andie Stelle des Trennsystems ist ein Ver-bundsystem mit kollektiver Verantwort-lichkeit getreten. Ein Symptom dafür istdie Zentralisierung der Steuern. 1950machten die zentral erhobenen Steuern inder BRD rund 60% der Steuereinnahmenaus. (In der Schweiz galt etwa der gleicheSatz.) 1995 hatte sich die Quote der zen-tralen Steuern in der BRD auf 93% er-höht (während sie sich in der Schweiz mitechtem Föderalismus auf 47% verringer-te). In der BRD war der Föderalismus zumPseudoföderalismus verkommen.

22 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

Die BRD bietet auch ein Beispiel, wodie Kollektivierung der Verantwortungexplizit und zwar durch die Dikta von„Spitzenpolitiker” erfolgt. In der „Vergan-genheitsbewältigung” kann man den ver-breiteten Mißbrauch des Begriffs der Ver-antwortung deutlich sehen. Eine „Kollek-tivschuld” (oder, wie es in der NS-Termi-nologie hieß, „Sippenhaftung”, und wiesie Richard von Weizsäcker oft nahege-legt hat) kann es nicht geben. Dennochsuggerieren manche unserer Spitzenpoli-tiker, es gäbe zumindest eine „kollektiveVerantwortung” (Roman Herzog). DieseWortbildung ist ein Zeichen von Begriffs-verwirrung, aber auch ein Symptom desZeitgeistes. Aber jungen Leuten zu sug-gerieren, sie trügen Verantwortung fürTaten ihrer Großväter, ist unverantwort-lich im korrekten Sinn des Wortes.

Ein Individuum, das in der Um-verteilungsdemokratie gut angepaßt ist,folgt seinen Impulsen auf der Suche nach„Selbstverwirklichung”. Es ist nicht mehrgewillt, für seine eigenen HandlungenVerantwortung zu übernehmen, und sei-ne Zeitpräferenz ist sehr hoch. Oft wer-den die Folgen von Entscheidungen insoziale Problem verwandelt. Ein Jugend-licher kommentiert heute seine schlechteLeistung nicht mehr etwa mit „Ich habekeine Lust”, sondern mit „Ich bin nichtmotiviert”. Damit wird ein Erklärungs-bedarf unterstellt: „Warum nicht?”. Werist daran schuld? Letzten Endes „die Ge-sellschaft”. Der Wandel im Sprachge-brauch zeigt den Mentalitätswandel.

Im klassischen Individualismus wardie Person für ihre Entscheidungen vollverantwortlich und nur sie. Es war ein

Individualismus mit Verantwortung. Diemoderne Variante ist ein Pseudo-Indivi-dualismus ohne Verantwortung. Sozialisolierte Individuen ohne Verantwortungwollen als Trittbrettfahrer leben (s. dasMotto von Bastiat). Es ist eine Art vonKollektivismus, vermutlich ein Versuch(besonders von Kommunitaristen), denklassischen Begriff des Liberalismus zudiskreditieren. Wenn Verantwortung kol-lektiviert wird, dann ist niemand verant-wortlich und in diesem Kontext verliertdas Wort ‘Verantwortung’ jeden Sinn,wird zur Leerformel. Auch daran siehtman wieder, daß Kollektiventscheidung(nicht-einstimmig, denn bei Einstimmig-keit ist Kollektiventscheidung nur Façade)eine Art Sündenfall ist.

7. KÖNNTE ES SEIN, DASS DIESOZIALDEMOKRATISCHE MEN-TALITÄT SELBSTERHALTEND(SELF-SUPPORTING) GEWORDENIST?

Man lebt zufrieden in der Illusion,man könnte auf Dauer auf Kosten ande-rer leben. Wahlversprechungen, die sug-gerieren, man könne den Kuchen essenund ihn behalten, sind unschlagbar. DieSozialdemokraten in allen Parteien proji-zieren diese Illusion, und die Medien pfle-gen sie und garnieren sie mit moralisie-renden Gerede über „Soziale Rechte”. Sieversichern den Empfängern, all das stün-de ihnen zu, denn es handle sich um „so-ziale Gerechtigkeit”. Sie verführen breiteSchichten der Bevölkerung zum unge-hemmten Anspruchsdenken. So werdenschließlich durchgesetzte Ansprüche als„Rechte” erlebt: Recht auf Wohnung, aufKindergartenplatz usf., you name it. Das

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 23

ist menschlich durchaus verständlich. DieSchuld liegt bei der politischen Kaste.

Es führt zu einem Ratsche-Effekt, derMechanismus läßt sich nicht mehr zurück-drehen. Jeder Versuch führt zu einem Ge-schrei über „Sozialabbau”. In der politi-schen Rhetorik wird das Wort ‘Recht’ständig mißbraucht für Forderungen, fürAnsprüchestellen an die Taschen anderer.Das die Durchsetzung solcher angeblichen„Rechte” die Verletzung echter Rechte,wie Eigentumsrechte impliziert, wird ver-schwiegen. Politiker, die dem nach demsüßen Gift des Wohlfahrtsstaates süchtiggewordenen Elektorat eine Entwöhnungs-kur verordnen wollen, werden sofort vonden Medien diffamiert. Sie haben keineAussicht auf Wiederwahl. Nachdem mandem „Volke” eingetrichtert hat, daß ihnenall das was sie erhalten auch „zusteht”,wird jede Reduktion, jeder Versuch, denStaat zu redimensionieren, von den Be-troffenen als ein Vergreifen an ihrem Be-sitzstand empfunden. (Auch der Diebempfindet es schließlich als unmoralisch,wenn man ihm von seinem Diebesgutwieder etwas wegnehmen will.)

Auch das unqualifizierte Wahlrechtist ein schönes Beispiel für den Ratsche-Effekt. Er ist deutlich bei der Art undWeise, wie „wir” die demokratische Me-thode zur Zeit betreiben: das unqualifizier-te Wahlrecht läßt sich selbstverständlichinnerhalb dieser Methode nicht ändern.Um das zu ermöglichen müßte sich dieMentalität eines genügend einflußreichenTeils der Wählerschaft ändern (Radnitzky1997e, S. 245 ff.).

Die Umverteilungssucht (addictiveredistribution) ist, wie gesagt, demokratie-

induziert. Je weiter das Wahlrecht auf derSkala des wirtschaftlichen Status und desBildungsstandes nach unten erweitertwurde, desto mehr wurde diese Sucht, die-ser Effekt des Systems, beschleunigt.

Machen wir ein Gedankenexperi-ment.

Wenn – per impossibile – das unqua-lifizierte Wahlrecht aufgegeben oder diedemokratische Methode, so wie „wir” siejetzt betreiben, in Frage gestellt würde,also diese Tabus gebrochen würden, wür-de das einen entscheidenden Wandel imMeinungsklima bedeuten?

Es könnte sehr wohl sein, daß sichdie Lebensweise der Umverteilungsde-mokratie (welfarist way of life) in derPsyche der meisten Bürger so festgesetzthat, daß sie von der Dynamik der Demo-kratie unabhängig geworden ist. Die Se-dimentierung dieses Lebensstils in die All-tagssprache hinein legt diese Vermutungnahe. Das Menschenbild und die Lebens-auffassung (outlook on life) könnten sichso verändert haben (in einer Weise dieNietzsche vorausgesehen hat), daß sie inder Konventionalmoral inkorporiert wor-den sind. Wenn das so ist, dann könntesie selbst-stützend (self-supporting) undselbsterhaltend (self-perpetuating) gewor-den sein.

Was wir mit ziemlicher Wahrschein-lichkeit voraussagen können, sind die hi-storischen Wellenbewegungen (Jasay).Wenn sich das politische Klima genügendverändert hat, werden Versuche gemacht,den Staat zu redimensionieren und dieVerantwortung zu reprivatisieren. (Bei-spiele sind UK 1979, USA 1980, Schwe-den 1991). Wenn sich die reformistischen

24 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

Politiker den bekannten Problemen desTransformationsprozesses und den Folgenunpopulärer Maßnahmen gegenüberse-hen, gelingt es der Umverteilungskoalitionsich umzugruppieren und das Umvertei-lungsspiel gewinnt wieder an Momentum.Das Resultat sind die bekannten histori-schen Wellenbewegungen. Außerdemwird die Kurve der historischen Wellen-bewegungen, die mit ihren Wellen diesenTrend abbildet, auch kleinere Wellen (diesogenannten Wahlzyklen) aufweisen, dieauf den Mißbrauch der Sozialpolitik kurzvor Wahlen zurückzuführen sind (Vaubel,1991). Auch diese Entwicklung ist indu-ziert von der Art und Weise in der „wir”Demokratie betreiben. Milton Friedmanschreibt daher, die Demokratie sei einselbstzerstörerisches System – denn lang-fristig zerstöre sie die Marktwirtschaft, dieeine Vorbedingung ihrer Existenz ist(MPS-Newsletter 1993).7 Manchmal pro-duzieren auch historische Ereignisse zu-sätzliche kleine Wellen in der Kurve derWellenbewegungen. Ein Beispiel für dieBRD ist das fast exzessive Ausmaß vonMittelumverteilung durch die BonnerKoalition (1990), um rasch die Gunst derostdeutschen Wähler zu gewinnen.

Eine tiefe Krise könnte zu einerSystemänderung führen. Ob sie die Situa-tion noch schlimmer macht oder zu einerdrastischen Verbesserung führt, wird vonden historischen Gegebenheiten, der Gunstder Stunde, abhängen.

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Anmerkungen:

1 Da ich gewohnt bin, in der Fachsprache aufenglisch zu schreiben und zu denken, habe ichmir erlaubt, sicherheitshalber manchmal die eng-lischen Ausdrücke in Klammern hinzuzusetzen.2 Frédéric Bastiat sprach daher von „spoliation”(1850): die offizielle englische Übersetzung ver-wendet den Ausdruck „legal plunder” (legalisier-te Plünderung).3 Der Ausdruck ‘Minimalstaat’ kann leicht irre-führend sein, denn nicht einmal ein totalitärerStaat kann in alle Lebensbereiche eindringen.‘Minimal’ ist praktisch eine Leerformel.4 Bei den UNO-Deklarationen bleibt offen, werder Adressat ist (wer z. B. „bezahlten Urlaubeinmal im Jahr” in Schwarzafrika bezahlen soll)und ob der (nicht-genannte) Adressat dazu über-haupt fähig und bereit ist.5 1945 meinten die Umerzieher, das preußischeErbe en bloc eliminieren zu sollen und zu kön-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 27

nen. Die Ironie der Geschichte ist, daß es ihnennicht bewußt war, daß sie selbst damit bereitsinfiziert waren, besonders im Zusammenhangmit dem „New Deal”. Aber auch den deutschenUmverteilungseuphorikern war es nicht bewußt,daß sie das preußische Erbe angetreten hatten.6 Alle waren dafür. Ausnahmen sind die Liber-tarians um Mises und seinen Nachfolgern unddie „Old Right”, wie Henry Mencken, Albert JayNock, Rose Wilder Lane, Garet Garrett.7 Milton Friedman wird meistens als „liberta-rian” angesehen. Anläßlich seiner Nobelpreis-verleihung gab es in Stockholm wilde Straßen-proteste (über die es auch Literatur gibt). Er hataber starke sozialdemokratische Züge. Währendseiner Zeit im US Finanzministerium plädierteer für Steuerprogressivität und für Steuer an derQuelle, außerdem ist seine Idee eines „Bürger-geldes” eine typisch sozialistische Vorstellung.Ebenso ist die Idee von Vouchers, Coupons fürSchulbildung keinesfalls libertarian. Libertariansplädieren für eine totale Privatisierung des Schul-systems.

28 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

PD Dr. Hardy Bouillon (Trier)Libertärer Anarchismus – eine kritische Würdigung

1. Einleitung – Der libertäre Anarchis-mus in der liberalen LandschaftDer libertäre Anarchismus zählt zu jenenStrömungen des gegenwärtigen Liberalis-mus, die weder weit verbreitet noch inten-siv erforscht sind. Das mag viele Gründehaben. Eine der Ursachen ist sicherlich inder Entwicklung, die der Liberalismus inder zweiten Hälfte dieses Jahrhundertserfuhr, zu suchen. Mit dem Ende des 2.Weltkriegs setzte weltweit eine Neuformu-lierung klassisch liberaler Ideen ein, dievor allem in den USA aufgegriffen wurdeund bald den Namen Neoliberalismus er-hielt. Das Charakteristikum der Neolibe-ralen lag und liegt in erster Linie in derRückbesinnung auf klassisch liberaleWerte, die in der NaturrechtsphilosophieJohn Lockes1 , in der Schottischen Moral-philosophie (Hume und Smith) und in derÖsterreichischen Schule (Mises und Ha-yek) wurzeln. Aufgrund der vielen libe-ralen Strömungen, die gegenwärtig zu be-obachten sind, und deren zum Teil gra-vierenden Unterschiede taugt der Termi-nus „Neoliberalismus” allerdings besten-falls als Sammelbegriff.Hierzulande wurde der Neoliberalismuslange Zeit mit dem Ordoliberalismus (Frei-burger Schule) gleichgesetzt. Die Ordoli-beralen prägten den deutschen Liberalis-mus bis in die Gegenwart. Sie verstandensich als Antwort auf die Historische Schu-le, formulierten ihre Vorstellungen einerfunktionsfähigen und menschenwürdigenWirtschaftsordnung vor dem Hintergrunddes damals vorherrschenden Bildes vomLaissez-faire-Kapitalismus des 19. Jahr-hunderts.2 Die Ordoliberalen glaubten,

daß ein Markt ohne Staat und dessenRechtsordnung nicht funktionieren kön-ne, „zu” große Einkommensunterschiedehervorbringe und dadurch sozialen Unfrie-den stifte. Die geordnete, die sozialeMarktwirtschaft sollte die mutmaßlichenÜbel des Marktes vermeiden.Auf die Entwicklung des Liberalismusaußerhalb Deutschlands nahm der Ordoli-beralismus keinen Einfluß. Andererseitsließ er diese so gut wie kaum auf sich ein-wirken. Das erklärt zumindest teilweise,warum das Aufkommen der (neuen) liber-tarianistischen Bewegung in den USAhierzulande nahezu gar nicht zur Kennt-nis genommen wurde und keine akade-mischen Reaktionen auslöste.3

Der (neue) Libertarianismus entstand An-fang der 70er Jahre, verstand sich zunächstals Opposition zur studentischen Linkenund löste eine Renaissance jener libertärenTradition aus, die an Denker wie LysanderSpooner, Henry David Thoreaux, ThomasJefferson, John Trenchard, Thomas Gor-don, Frédéric Bastiat u.a. erinnert. Aller-dings ging aus der libertären Bewegungder 70er Jahre kein genuiner Neoliberta-rianismus, sondern ein Sammelbecken un-terschiedlicher liberaler Positionen her-vor.4 Bereits zu Beginn der libertariani-stischen Bewegung kam es zu einer Ab-spaltung der libertären Anarchisten (auch:individual-anarchists oder property-rightsanarchists, nicht zu verwechseln mit denkommunistischen Anarchisten). Die liber-tären Anarchisten kritisierten den Staat inWahrnehmung seiner Rolle als Kriegspar-tei als Massenmörder, die Wehrpflicht alsSklaverei, die Besteuerung als Raub und

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 29

forderten die Abschaffung jeglicher staat-licher Intervention (d.h. Forderung nachLegalisierung von Drogen, Schwanger-schaftsabbruch, „victimless crimes” etc.),kurz die vollkommene Gewährung der in-dividuellen Freiheit und damit die Ab-schaffung des Staates. Wie wenig dieseAuffassung mit der moderaten Forderungder Ordoliberalen nach einem nicht nurden inneren und äußeren Schutz herstel-lenden, sondern auch den Markt „sozial”lenkenden Staat in Einklang zu bringenist, bedarf wohl kaum der näheren Erläu-terung.Als wichtigste Vertreter des libertären An-archismus sind Murray Rothbard, Hans-Hermann Hoppe, David Friedman (Sohnvon Milton Friedman) und Walter Blockzu nennen. Sie sehen sich hauptsächlichin der Tradition von John Locke und Lud-wig von Mises, lehnen aber deren Auf-fassung von der Notwendigkeit des Staa-tes für die Erhaltung der individuellenFreiheit ab. Der libertäre Anarchismus istinsofern eine intellektuell sehr interessan-te Position, weil er eine konsistente Posi-tion im Namen der Freiheit anstrebt.5 Imfolgenden wollen wir untersuchen, inwie-fern er seinem Streben genügt.

2. Die Prinzipien des libertären Anar-chismus2.1 Non-Aggression, Recht auf Selbst-eigentum und HeimstattDie in der Einleitung genannten Grund-sätze des Anarchismus sind von MurrayRothbard in seinem Buch For a New Li-berty knapp und präzise formuliert wor-den.6 Dort beginnt er mit dem Axiom derNon-Aggression. „Das entscheidendeAxiom dieser Anschauung ist, daß wederein Mensch noch ein Gruppe von Men-schen das Recht hat, die Person oder das

Eigentum eines anderen anzugreifen. Dieskönnte man das Axiom der ‘Non-Aggres-sion’ nennen.”7 Rothbard führt drei Grün-de an, die für das fundamentale Axiomder Anarchisten sprechen: ein emotiver,ein utilitaristischer und ein natur-rechtlicher Grund. Er hält aber nur amdritten fest. Den ersten Grund handelt erschnell ab. Dieser tauge nicht zu Über-zeugung Andersdenkender. Dem zweitenGrund widmet er eine ausführlichere Kri-tik. Der Utilitarist wäge Alternativen nachderen Konsequenzen ab. Warum, so Roth-bard, solle es nicht legitim sein, eine Al-ternative direkt Werturteilen auszusetzen,wenn es legitim sei, Werturteile auf dieKonsequenzen derselben Alternative an-zuwenden.8 Ein weiteres Problem des Uti-litaristen sieht er darin, daß dieser „einPrinzip kaum als absoluten und konsisten-ten Maßstab zur Anwendung für die ver-schiedenen konkreten Situationen der rea-len Welt annehme.”9

Rothbard hält nur den dritten Grund fürakzeptabel und überzeugend. Er legt dar,daß der Mensch die Freiheit brauche, umdas zum Überleben Notwendige lernenund entscheiden zu können. „Gewaltsa-mes Eingreifen in das Lernen und die Ent-scheidungen des Menschen ist deshalb zu-tiefst ‘antihuman’; es verletzt das natürli-che Recht der menschlichen Bedürfnis-se.”10 „... Da jedes Individuum seine Zie-le und Mittel bedenken, erlernen, bewer-ten und wählen muß, um zu überleben undzu gedeihen, gibt das Recht auf Selbst-eigentum dem Menschen das Recht, die-se vitalen Aktivitäten auszuführen, ohnedurch nötigende Zudringlichkeiten behin-dert und eingeschränkt zu werden.”11

Die ideelle Nähe zur NaturrechtspositionLockes ist unverkennbar. Unverkennbarist aber auch, daß Rothbard naturrecht-

30 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

liche Argumentation eine andere ist als die,welche Locke verwendet. Locke plädiertfür das Recht auf Selbsteigentum, weilFremdherrschaft nicht einleuchte. Für ihnist „nichts einleuchtender ..., als daß Ge-schöpfe von gleicher Gattung und vongleichem Rang, die ohne Unterschied zumGenuß derselben Vorteile der Natur undzum Gebrauch derselben Fähigkeiten ge-boren sind, ohne Unterordnung und Un-terwerfung einander gleichgestellt lebensollen” (Abhandlung II, §4).Dieser Zustand natürlicher Gleichheit, dereinleuchtender sei als jedes andere Sze-nario, werde, so Locke, von einem Natur-gesetz beherrscht, das der Vernunft ent-spreche und die Menschheit lehre, „daßniemand einem anderen, da alle gleich undunabhängig sind, an seinem Leben undBesitz, seiner Gesundheit und FreiheitSchaden zufügen soll” (AbhandlungII, §6). Wer gegen dieses Naturgesetz ver-stoße, handele zudem auch gegen Gott,dessen Eigentum wir schließlich seien undder uns die Erhaltung der Menschheit zurPflicht gemacht habe (ebenda). Die Selbst-erhaltung ist demnach nicht nur Recht,sondern auch Pflicht des Menschen.12

Locke legitimiert das Recht auf Selbstei-gentum letztlich durch Gott. Rothbard ver-zichtet auf diese Möglichkeit, wodurch erallen Schwierigkeiten einer das göttlicheNaturrecht voraussetzenden Position ent-geht.13 Andererseits macht der Verzichtauch darauf aufmerksam, daß Rothbardsnaturrechtlicher Grund gar nicht natur-rechtlicher, sondern eher funktionaler bzw.instrumentaler Natur ist: Das Recht aufSelbsteigentum hilft dem Menschen beider Wahrnehmung seiner vitalen Interes-sen. Außerdem ist anzumerken, daß die-ser Grund die Richtigkeit der empirischenBehauptung, daß die uneingeschränkte

Freiheit für das Leben und die Prosperitätdes Menschen notwendig sei, voraus-setzt.14

Rothbard führt zudem aus, daß das Rechtauf Selbsteigentum vom Menschen nurwahrgenommen werden könne, wenn die-ser sich herrenlose Nahrung aneignen kön-ne. Diese Aneignung geschehe durch Bei-mischung eigener Arbeit, was wiederumdas Recht, solches zu tun und auf Landzu stehen, voraussetze. Nur wer diesesRecht, das bei ihm das Recht auf Heim-statt (right to homestead) heißt, innehabe,könne sein Recht auf Selbsteigentumwahrnehmen. Deshalb verlangt Rothbardneben dem Recht auf Selbsteigentum auchdas Recht auf Heimstatt.15 „Das zentraleAnliegen des libertären Credos ist dem-nach, das absolute Recht eines jeden Men-schen auf Privateigentum zu etablieren:erstens, an seinem eigenen Körper; undzweitens an den ehemals ungenutzten na-türlichen Ressourcen, die er durch seineArbeit umgewandelt hat. Diese zwei Axio-me, das Recht auf Selbsteigentum und dasRecht auf ‘Heimstatt’, bilden das komplet-te Set der Prinzipien des libertären Sy-stems.”16

Rothbard macht zudem darauf aufmerk-sam, daß das Recht auf ein Gut das sou-veräne Recht auf dessen Verwendung lo-gisch impliziere. Daher sei Privateigentumein korollares Recht zum Recht auf freienTausch und freien Vertrag.17

2.2 Der libertär-anarchistische Freiheits-begriffRothbard definiert seinen Freiheitsbegriffin Anlehnung an das Axiom der Nicht-Aggression und übernimmt dabei eineFormulierung Herbert Spencers: „EinMensch ist frei, wenn er nicht angegrif-fen ist.”18 Rothbard meint damit, daß eine

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 31

Person solange frei sei, solange ihr Selbst-eigentum und ihr Privateigentum keinemAngriff ausgesetzt sei.19

Diese Definition hat gewisse formale Ähn-lichkeiten mit jenen Freiheitsdefinitionen,die Freiheit als Abwesenheit willkürlichenZwanges bestimmen, und damit auch einegewisse Nähe zu den Fragen, die dieseDefinitionen aufwerfen. So steht die De-finition, Freiheit sei Abwesenheit willkür-lichen Zwangs, vor der Frage, was mitwillkürlichem Zwang gemeint sei. Ähn-lich ist auch die Definition, frei sei, werkeinem Angriff ausgesetzt sei, vor die Fra-ge gestellt, was denn mit Angriff gemeintsei. Auf diese Frage finden wir bei Roth-bard allerdings keine Antwort. Gleichesgilt für Hans-Hermann Hoppe, der will-kürlichen Zwang als „die Initiierung oderAndrohung physischer Gewalt gegen einePerson oder deren legitim – über ursprüng-liche Appropriation, Produktion oderTausch – erworbenes Eigentum”20 um-schreibt, aber offen läßt, was mit physi-scher Gewalt gemeint sei.Nun mag man einwenden, daß es keinerweiteren Präzisierung bedürfe, was phy-sische Gewalt sei. Dieser Einwand ist in-sofern berechtigt, als wir gemeinhin einehinreichend genaue Vorstellung und/oderErfahrung mit physischer Gewalt besitzen.Das mit den Begriffen „Angriff” und„physische Gewalt” verbundene Problemliegt auf einer anderen Ebene. Beide Be-griffe benennen eine Form des Eingriffsin das Selbsteigentum oder Privateigen-tum (zusammengefaßt: Privatsphäre) ei-ner fremden Person. Diesem Eingriff wirdwiederum unterstellt, daß er von der er-leidenden Person nicht freiwillig erduldetwird.21 Analoges gilt für den Zwang.Auch er wird von uns als eine Form aktu-alen oder angekündigten Eingriffs in die

Privatsphäre einer Person verstanden, demdiese Person nicht freiwillig zustimmt.Das Merkmal der fehlenden freiwilligenZustimmung ist aber ein schwieriges Pro-blem für die Definition der Freiheit. DieDefinition der Freiheit ist zirkulär, wennman Freiheit als Abwesenheit eines nichtfreiwillig geduldeten Eingriffs in einefremde Privatsphäre definiert. RothbardsDefinition der Freiheit ist einer solchenZirkularität ausgesetzt, weil sie nichts an-deres sagt als: „Ein Mensch ist frei, wenner keinem unfreiwillig zu erleidenden Ein-griff in seine Privatsphäre ausgesetztist.”22

Solange ich Eingriffen in meine Freiheitfreiwillig zustimme, kann ich schwerlichbehaupten, gezwungen zu werden. Wennich meine Frau bitte, meine Schokoladen-kekse im Schrank zu verschließen, und siemeiner Bitte folgt, dann wäre es unsinnigzu sagen, sie zwinge mich, auf meine Kek-se zu verzichten. Alles, was sie mir er-wiesen hat, ist ein Gefallen. Das aber heißt:Ich bin solange frei, wie ich den Eingrif-fen in meine Freiheit frei zustimme. Die-se Umschreibung enthält offensichtlichdas gleiche Problem, das wir in RothbardsFreiheitsdefinition entdeckt haben. EinBegriff kann nicht durch sich selbst defi-niert werden. Zirkuläre Definitionen sindwertlos. Aber wie verwandle ich die Sät-ze „Freiheit ist die Abwesenheit vonZwang” und „Ein Eingriff in meine Frei-heit ist nur dann Zwang, wenn der Ein-griff meiner freien Einwilligung entbehrt”in eine zweckmäßige Definition?Ich kann dies durch eine Differenzierungzweier Entscheidungsebenen tun. Einefreie und eine erzwungene Wahl habeneines gemeinsam. Sie stellen uns vor zweiEntscheidungen, sozusagen vor eine Dop-pelwahl: eine Entscheidung darüber, sich

32 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

auf die Wahl einzulassen oder nicht, undeine Entscheidung aufgrund der Optionen,welche die Wahl offeriert. Nehmen wir dasWahlrecht als Beispiel. Das deutscheWahlrecht läßt uns die Freiheit, zu ent-scheiden, zur Wahlurne zu gehen oder ihrfernzubleiben. Vor der Wahlurne habenwir dann eine weitere Entscheidung zufällen: Wem geben wir unser Kreuzchen?Nennen wir die letztgenannte Entschei-dung „Objektwahl”, weil sie die Wahlzwischen verschiedenen Objekten, hierParteien, läßt. Die vorausgegangene Ent-scheidung nennen wir Metawahl, weil sieder Objektwahl übergeordnet ist. Erstwenn eine Metawahl getroffen ist, kanneine Objektwahl stattfinden. Erst wenn ichden Gang zur Wahlurne beschlossen habe,kann ich mich auf den Weg machen undim Wahllokal wählen.In Belgien gibt es eine Wahlpflicht, aberansonsten verhält sich der Rest wie ge-habt. Auch in Belgien gibt es Wahlurnenund Wahlzettel mit Optionen. Weil die Me-tawahl dort mit einer Pflicht verbundenist, steht der Belgier unter Zwang. Falls ersich von der Wahl fernhält, muß er einBußgeld entrichten. D.h., die negativeMetawahl steht unter Kostenandrohung.Was die beiden Beispiele unterscheidet,sind genau diese Kosten im Falle einer ne-gativen Metawahl. In Deutschland ist dasFernbleiben von einer Wahl kostenlos, inBelgien nicht. Alle Zwangssituationensind mit denen der Wahlpflichtsituationvergleichbar. Der Räuber, der „Geld oderLeben” verlangt, der Fiskus, der „Steuernoder Gefängnis” androht: sie alle lassenuns eine Metawahl und eine Objektwahl,auch wenn uns das auf den ersten Blickentgeht.Die Zirkularität in Rothbards Definitionder Freiheit läßt sich demnach vermeiden,

indem der Passus der Unfreiwilligkeitdurch einen anderen, keine Zirkularitäthervorrufenden Passus ersetzt wird. Die-ser Ersatz ist – wie wir sahen – leistbar,wenn man Zwang als Sonderform eineseine Doppelwahlsituation initiierendenAngebotes rekonstruiert und durch diekünstlichen Kosten definiert, die im Falleeiner negativen Metawahl entstehen.23

Eingedenk der hier in aller Kürze vorge-stellten Spezifizierung der bei Zwang vor-liegenden Entscheidungssituation könnenwir vereinfachend definieren: „Ein Menschist frei, solange er ein Angebot kostenlosablehnen kann.”24

3. Hoppes aprioristischer AnarchismusHans-Hermann Hoppe, ein Schüler Roth-bards und nach dessen Tode 1995 wohlder führende Theoretiker des libertärenAnarchismus in den USA, kommt trotzaller augenfälligen Zustimmung zu denRothbardschen Grundannahmen zu inter-essanten eigenständigen Argumenten, mitdenen er den libertären Anarchismus zustärken versucht. So hat er in seinem BuchEigentum, Anarchie und Staat25 einenanderen Versuch unternommen, die anar-chistische Position zu begründen.Hoppe ist wie Rothbard, dessen Mitarbei-ter und Kollege er lange Zeit war, ein An-hänger von Ludwig von Mises. Wie derEinleitung seines o.g. Buches zu entneh-men ist, war er auch Schüler von JürgenHabermas. Zwischen Mises und Haber-mas gibt es zwar keinerlei Übereinstim-mungen im Hinblick auf die PolitischePhilosophie, aber beiden vertreten in An-lehnung an Kant die Auffassung, daß es apriori gültige synthetische Sätze gebe.Auch Hoppe teilt diese Auffassung. MitHilfe einer aprioristischen Erkenntnislehreformuliert er eine normative Begründung

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des individualistischen Anarchismus, dieim folgenden nachgezeichnet wird.Hoppe entwickelt im Kapitel „Über dieBegründbarkeit normativer Gesellschafts-theorien. Die Theorie des individualisti-schen Anarchismus” vor dem Hintergrundseiner Interpretation der Popperschen Auf-fassung zur intersubjektiven Überprüfbar-keit26 eine „objektive Begründung” vonNormen. Seine Ausgangsthese ist, daßjeder Begründungsversuch die Norm derGewaltlosigkeit voraussetze, „denn eineAussage kann nur dann als begründet gel-ten, wenn ihr jedes Subjekt qua autono-mes Subjekt im Prinzip zustimmenkann.”27 Das Gewaltausschlußprinzip seidamit in quasi-aprioristischer Weise be-gründet. Außerdem lege es, indem es Ge-walt an fremden Subjekten ausschließe,das uneingeschränkte Verfügungsrechtjeder Person über ihren eigenen Körperfest. Dieses Verfügungsrecht lasse auf das„Recht auf ursprüngliche Appropriation”(„Recht auf Aneignung von Gütern, diebislang von keinem angeeignet wurden”)durch Beimischung von Arbeit schließen,wie auf dem Wege eines argumentum econtrario (Beweis durch den Beweis derUnwahrheit des kontradiktorischen Ge-genteils) nachgewiesen werden könne.„[H]ätte ich nicht das Recht, Eigentum anunbearbeiteten Gegenständen durch eige-ne Arbeit zu erwerben, und hätten anderePersonen umgekehrt das Recht, mir denEigentumserwerb an Dingen, die sie selbstnicht bearbeitet haben, sondern die ent-weder von niemandem oder nur von mirbearbeitet worden sind, streitig zu machen,so wäre dies nur denkbar, wenn man Ei-gentumstitel nicht aufgrund von Arbeit,sondern aufgrund bloßer verbaler Dekla-ration begründen könnte. Eigentumsbe-gründung durch Deklaration ist aber mit

dem Gewaltausschlußprinzip inkompati-bel; denn könnte man Eigentum per De-klaration begründen, so könnte ich auchden Körper anderer Personen als meinenKörper deklarieren und dann mit ihm tunund lassen, was ich will.”28

3.1 Kritik an HoppeDas Interessante am Hoppeschen Modelldes libertären Anarchismus sind die Kri-terien für eine Gesellschaft, die den ge-waltfreien Austausch knapper Güter hand-lungsfähiger Individuen prinzipiell ermög-licht:29 In einer Gesellschaft ist der gewalt-freie Austausch knapper Güter dann mög-lich, wenn die Individuen über ihren Kör-per und ihr Eigentum souverän entschei-den können. Die Voraussetzung vollstän-diger Souveränität kann nur in einer an-archistischen Gesellschaft eingelöst sein.Anarchistisch heißt in diesem Zusammen-hang nicht chaotisch, sondern fremdherr-schaftslos. Dementsprechend kann esauch libertär-anarchistische Gesellschaf-ten mit selbst auferlegten Einschränkun-gen geben, wie z.B. Kibbuze, Kooperati-ven, Hutterkolonien, Orden etc.30 Es istunstrittig, daß dieses libertäre Modell derAnforderung an eine friedliche, knappeGüter gewaltfrei austauschende Gesell-schaft gerecht wird. Strittig sind allerdingsdie Vorstellungen zur normativen Be-gründbarkeit einer solchen Gesellschaft,die Hoppe an sein Gesellschaftsmodellknüpft.

3.1.1 Die Begründung des Gewaltaus-schlußprinzipsDiskussionshalber wollen wir einmal an-nehmen, daß es möglich sei, eine Normzu begründen. Unter dieser Maßgabe istHoppe darin zuzustimmen, daß eine Be-gründung, die auf die freie Zustimmung

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der anderen zielt, voraussetzt, daß die an-deren keiner Gewalt (sei sie faktisch oderangedroht) ausgesetzt sind. Daraus folgtaber nicht, daß jeder Versuch einer Be-gründung die Anerkennung des Gewalt-ausschlußprinzips einschlösse. Eine not-wendige Voraussetzung für eine Begrün-dung im Hoppeschen Sinne ist lediglichdie faktische Abwesenheit von Gewalt. Inanaloger Weise ist die Abwesenheit vonAlkohol eine notwendige Voraussetzungfür Nüchternheit. Der Versuch, nüchternzu sein, erfordert nicht die Anerkennungdes Alkoholausschlußprinzips in Form desGebotes: „Du sollst nie Alkohol trinken!”,sondern lediglich den faktischen Aus-schluß von Alkohol während des Ver-suchs.Hoppes Irrtum liegt in der Annahme, daßdie Notwendigkeit einer Bedingung derenUniversalierung impliziere. Diese Annah-me ignoriert, daß aus logischen Gründennicht von einem Ist-Zustand auf einenSollens-Zustand geschlossen werdenkann.Wie oben angedeutet, entwickelt Hoppeseinen Begründungsversuch vor dem Hin-tergrund seiner Interpretation der Popper-schen Idee intersubjektiver Überprüfbar-keit. Seine Deutung verkennt m.E. diePoppersche Methodologie grundlegend.Hoppe geht davon aus, daß Popper anneh-me, Aussagen seien objektiv gültig, fallssie intersubjektiv überprüfbar seien und„objektiv begründete Aussagen sind dem-nach solche Aussagen, denen jedermannqua autonomes (d.i. nicht unter Gewalt-androhung stehendes) Subjekt zustimmenkann ...”31 Doch um objektiv begründeteAussagen geht es Popper keineswegs.Nach Poppers Auffassung können in denWissenschaften keine begründeten Aus-sagen, sondern lediglich intersubjektiv

überprüfbare Aussagen aufgestellt wer-den. Wenn Popper von „intersubjektiverÜberprüfbarkeit” spricht, dann meint erdamit „Falsifizierbarkeit.”„Ein Satz (oder eine Theorie) ist nachPopper falsifizierbar dann und nur dann,wenn es wenigstens einen Basissatz gibt,der mit ihr in logischem Widerspruchsteht. ... die Klasse der Basissätze ist da-durch gekennzeichnet, daß ein Basissatzein logisch mögliches Ereignis (einenmöglichen Sachverhalt) beschreibt, vondem es seinerseits logisch möglich ist, daßes beobachtet werden könnte.”32 Die Fal-sifizierbarkeit ist also nur eine Forderung,nämlich die, daß Theorie und Basissatzeine bestimmte logische Relation exempli-fizieren. Und sie hat nichts zu tun mit derFrage, ob eine vorgeschlagene experimen-telle Falsifikation als solche anerkanntwird oder nicht.33 Sie hat auch nichts zutun mit der Frage, ob eine solche Prüfungzur Zeit technisch möglich ist.Letztere sind Fragen der Methodologieund der Pragmatik. Um eine Verwechs-lung der beiden Ebenen (logische und me-thodologische) zu vermeiden, ist es rat-sam, Poppers Sprachgebrauch folgend, imFalle der logischen Relationen von Sätzen(Satzklassen) von Falsifizierbarkeit undim Falle der methodologischen Beziehungvon Falsifikation zu sprechen.34

Eine an der Popperschen Konzeption in-tersubjektiver Prüfbarkeit orientierte nor-mative Begründung des Gewaltausschluß-prinzips ist also gar nicht möglich, weilsie jegliche normative Begründungen aus-schließt

3.1.2 Das Recht auf ursprünglicheAppropriation durch ArbeitAuch Hoppes argumentum e contrario,mit dem er die Kompatibilität zwischen

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 35

Gewaltauschlußprinzip und dem Rechtauf ursprüngliche Appropriation durchArbeit zu beweisen können glaubt, leidetunter einem gravierenden Fehler: Der lo-gische Status des argumentum e contrariobleibt unverändert, wenn man die Begrif-fe Deklaration und Arbeit austauscht:„[H]ätte ich nicht das Recht, Eigentum anunbearbeiteten Gegenständen durch De-klaration zu erwerben, und hätten anderePersonen umgekehrt das Recht, mir denEigentumserwerb an Dingen, die sie selbstnicht deklariert haben, sondern die entwe-der von niemandem oder nur von mir de-klariert worden sind, streitig zu machen,so wäre dies nur denkbar, wenn man Ei-gentumstitel nicht aufgrund bloßer verba-ler Deklaration, sondern aufgrund von Ar-beit begründen könnte. Eigentumsbegrün-dung durch Arbeit ist aber mit dem Ge-waltausschlußprinzip inkompatibel; dennkönnte man Eigentum per Arbeit begrün-den, so könnte ich auch den Körper ande-rer Personen als meinen Körper bearbei-ten und dann mit ihm tun und lassen, wasich will.”Dieser Austausch ist deshalb problemlos,weil jede Begründung von Eigentum anfremden Körpern mit dem Gewaltaus-schlußprinzip inkompatibel ist; ganzgleich ob diese Begründung auf Arbeitoder auf Deklaration basiert.Ungeachtet dessen kann man indes fest-stellen, daß die ursprüngliche Appropria-tion freier Güter mit dem Gewaltaus-schlußprinzip kompatibel ist, weil mit ih-rer Durchführung keine Gewalt über Kör-per oder Eigentum fremder Personen aus-geübt wird. Doch zu dieser Feststellungbedarf es keines argumentum e contrario.

3.1.3 Der ApriorismusEine besondere Schwierigkeit in Hoppeslibertärem Anarchismus ist die Annahme,daß es wahre empirische Aussagen gebe,die nicht hypothetisch, nicht falsifizierbarseien. Der Satz: „Wann immer zwei Men-schen A und B einen freiwilligen Tausch-handel beschließen, müssen beide anneh-men, von ihm zu profitieren.”, ist lautHoppe ein solcher Satz.35 Hoppe begrün-det die angebliche Nicht-Falsifizierbarkeitdieses Satzes nicht näher. Aber sein Hin-weis darauf, daß derjenige, welcher dasHeimstatt-Prinzip anzweifle, in eine per-formative Kontradiktion verfalle36 , läßtvermuten, daß er dem Falsifizierungsmo-dell eine unzulässige Selbstreferentialitätunterstellt. Diese Unterstellung ist aller-dings nicht haltbar, wie Gerard Radnitzkyausführlich gezeigt hat.37

Wie dem auch sei: Falsifizierbar heißtnicht falsifiziert, und selbst ein falsifizier-ter Satz ist immer ein falsifizierter Satzpro tempore. D.h., jeder in Frage stellba-re Satz kann durchaus wahr sein, aber esgibt keinen epistemologischen Grund, sei-ne Wahrheit außer Zweifel zu ziehen.Auch der Satz: „Wann immer zwei Men-schen A und B einen freiwilligen Tausch-handel beschließen, müssen beide anneh-men, von ihm zu profitieren.” kann wahrsein, aber es gibt keinen epistemologi-schen Grund, ihn von der prinzipiellenFallibilität zu befreien.

4. Libertäre Prinzipien im AlltagDie Tragweite der libertären Prinzipienläßt sich am ehesten an deren Anwendungauf Alltagssituationen abschätzen, wie wiran den Beispielen Drogengebrauch undSchwangerschaftsabbruch illustrierenwollen. Gestehen wir dem mündigen Men-schen das Recht zu, souverän über seinen

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eigenen Körper und sein weiteres Eigen-tum zu verfügen, dann haben wir keiner-lei Handhabe, ihm den eigenen Drogen-konsum zu verbieten. Auch der Handelmit Drogen jedweder Art kann nicht ver-boten werden, ohne das Recht auf einevollständige Souveränität über die Privat-sphäre zu untergraben, denn jede Hand-lung, die ein Drogenkonsument vollzieht,geschieht notwendigerweise unter Einsatzseines Körpers und seines sonstigen Ei-gentums. Gleiches gilt für einen Drogen-händler. Ganz gleich, welche Handlung erbeim Handel vollzieht, sie setzt notwen-digerweise den Einsatz seines Körpers undübrigen Eigentums voraus, sei es auch nurdas Handaufhalten beim Bezahlen derWare.Die Anwendung libertärer Prinzipien aufden Schwangerschaftsabbruch gestaltetsich schon etwas schwieriger. Stellen wiruns folgendes vor: Helga lädt Horst zueinem romantischen Abend ein. Die bei-den tauschen Zärtlichkeiten aus. Nach ei-ner Weile hat Helga keine Lust mehr. Siebittet Horst, aufzuhören und zu gehen.Horst stellt daraufhin seine Zärtlichkeitenein und geht, weil er Helga die vollständi-ge Souveränität über deren eigenen Kör-per zugesteht. Von anderen Möglichkei-ten des Zärtlichkeitsabbruchs macht siekeinen Gebrauch. Es wäre ja z.B. denk-bar, daß sie Horst mit einem Messer er-stäche oder unfein aus dem Fenster stie-ße, so daß dieser sich den Hals bräche.Sie verzichtet auf diese Optionen, weil sieum Horsts Respekt vor ihrer vollständi-gen Souveränität über den eigenen Kör-per als eine friedliche Methode, das Pro-blem zu lösen, weiß und weil sie wieder-um Horsts vollständige Souveränität überdessen eigenen Körper respektiert. Aller-dings verlangen die libertären Prinzipien

von Helga keineswegs, daß sie das Selbst-eigentum von Horst, der ihr Gastrechtnutzt, in dieser Weise zu respektieren hat.Immerhin ist Horst, nachdem Helga ihnnicht mehr als Gast betrachtet, ein Ein-dringling, dessen Handeln sie keineswegszu dulden hat. Und der Grundsatz von derVerhältnismäßigkeit der Mittel ist kein an-archistisch-libertäres Prinzip.Würde z.B. draußen eine gefährliche Be-drohung für Horsts Leben lauern (z.B. einAttentäter, ein wildes Tier oder ein gefähr-licher Sturm), dann würde man zwar wohlerwarten können, daß Helga lediglich aufden Abbruch der Zärtlichkeiten bestände,Horst aber bis zur Beendigung der GefahrUnterschlupf bzw. Gastfreundschaft ge-währte, zumindest unter der Maßgabe, daßihr selbst durch die Gewährung des Gast-freundschaft keine eigene Gefahr drohte.Die libertären Prinzipien legen dies aberganz gewiß nicht als selbstverständlichnahe.Der libertäre Anarchist würde aber hiereinwenden können, daß Menschen in ei-ner sich eingespielt habenden libertärenWelt Verträge zur Regelung von Privatbe-suchen, in denen auch der Eventualfallplötzlich endender Gastfreundschaft ge-regelt wäre, schließen würden. Mit ande-ren Worten: Er würde darauf aufmerksammachen, daß solche praktischen Proble-me durch die Anwendung der Vertrags-freiheit prinzipiell lösbar seien.Was aber, wenn der Vertragspartner nochnicht existiert, wie z.B. im Falle einer frei-willig eingegangenen Schwangerschaft?38

Ein Fötus ist ja bekanntlich lange Zeit da-von entfernt, sich entweder selbst am Le-ben zu erhalten bzw. von anderen außerder Mutter am Leben erhalten zu lassen.Solange man den Fötus nicht als Men-schen anerkennt, solange kann eine Ab-

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treibung – ganz gleich ob die Schwanger-schaft freiwillig oder unfreiwillig einge-gangen wurde – nicht als eine Verletzungder Souveränität am eigenen Körper be-trachtet werden. Denn da, wo kein Eigen-tümer ist, kann auch kein Eigentum ver-letzt werden.Wie dem auch sei, das Beispiel „Schwan-gerschaftsabbruch” zeigt, daß die Frage,wann ein Individuum beginne, sich nichtaus den libertären Prinzipien ableiten läßt,sondern einer Festlegung bedarf, um sinn-voll darüber diskutieren zu können. DieNotwendigkeit einer solchen Festlegungist aber kein Problem, das nur den libertä-ren Anarchismus beträfe, sondern ein Pro-blem, das sich allen Gesellschaftslehrenstellt.

5. Zusammenfassende Würdigung deslibertären AnarchismusDer libertäre Anarchismus ist eine libera-le Gesellschaftsphilosophie, welche dieFreiheit der Individuen und den friedlichenUmgang mit knappen Ressourcen ins Zen-trum stellt. Seine Prinzipien sind „Non-Aggression”, „Selbsteigentum”, „Eigen-tum an durch ursprüngliche Appropria-tion, Produktion oder Tausch erworbenenGütern” und „Anarchie (Fremdherrschafts-losigkeit)” Auf ihnen gründet der libertäreAnarchismus den Anspruch, die einzigekonsistente Position im Namen der Frei-heit zu sein. Diesen Anspruch kann er abernur dann restlos einlösen, wenn er die inseinen Grundannahmen wurzelnden Pro-bleme lösen kann.Problematisch ist zum einen die Definiti-on der Freiheit. Der ihr innewohnendeZirkel kann aber, wie hier vorgeschlagenwurde, durch eine Rekonstruktion der Ag-gression als Sonderform eines Angebotesmit besonderen Kosten aufgebrochen wer-

den. Problembeladen ist zum anderen dievermeintlich naturrechtliche, tatsächlichaber funktionale bzw. instrumentale Be-gründung des libertären Anarchismus.Problembehaftet, ja gescheitert, ist über-dies der Versuch, das Gewaltausschluß-prinzip normativ, die ursprüngliche Ap-propriation durch ein argumentum e con-trario und die Wahrheit bestimmter hy-pothetischer Sätze in quasi-aprioristischerWeise zu begründen sowie deren Falsifi-zierbarkeit zu leugnen. All diese Proble-me reflektieren das Bemühen, die Wahlfür eine libertär-anarchistische Welt alsetwas anderes darzustellen, als das, wassie ist: eine subjektive Wertentscheidung.

Anmerkungen:

1 Zur Politischen Philosophie John Lockes. Har-dy Bouillon, John Locke, Denker der Freiheit I,hg. vom Liberalen Institut der Friedrich-Nau-mann-Stiftung, Sankt Augustin: Academia Ver-lag 1997, 48 S.2 Die Theorie, der Manchesterliberalismus habedie Verelendung der Massen verursacht, hat sichbis in die heutige Zeit halten können. Daran ha-ben auch zahlreiche Beiträge renommierter Wirt-schaftshistoriker, in denen diese These mehrfachfalsifiziert wurde, kaum etwas ändern können –vgl. Friedrich August von Hayek (Hg.), Capi-talism and the Historians, London und Chicago1954 und Detmar Doering, „Eine Lanze für denManchester-Liberalismus”, in: liberal, Heft 3,August 1994, S. 80-86). Richard Reichel hat inseinem Aufsatz „Der deutsche Manchesterlibe-ralismus – Mythos und Realität”, in: liberal, Heft2, 1996, S. 107-119, die Auswirkungen desManchesterliberalismus in Deutschland unter-sucht. Ausgehend von der Annahme, daß dra-stisch sinkender Reallohn bei gleichzeitig stei-gender Arbeitszeit, deutlich zunehmender Ar-beitslosigkeit und schrumpfender Lohnquote alsKriterien einer Verelendung taugten, analysier-te er das für die Periode des deutschen Manche-sterliberalismus vorhandene Datenmaterial undkam zu dem Ergebnis, daß keines der genann-

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ten Kriterien im Untersuchungszeitraum festzu-stellen war. Im Gegenteil: Die Bergarbeiterlöhneversechsfachten sich zwischen 1850-1913 (beieiner jährlichen Inflation von 1%), was einer in-flationsbereinigten jährlichen Steigerung von2,4% entspricht. Die Reallöhne in Industrie undHandwerk wuchsen von 1850-1880 um 22%. Imgleichen Zeitraum stiegen im Bergbau die No-minallöhne um 89 bis 127% (bei einer Preisstei-gerung von 47%). Die durchschnittliche Arbeits-losigkeit schrumpfte von ca. 18% (1830) auf 8-2% (1840-1913), und die durchschnittliche wö-chentliche Arbeitszeit sank von 85 Stunden auf65 Stunden. Die Lohnquote (prozentualer An-teil der Löhne und Gehälter am Volkseinkom-men) blieb konstant, d.h. Unternehmer wie Ar-beiter profitierten gleichermaßen am Wirtschafts-wachstum. Im Manchesterliberalismus fand alsokeine Verschlechterung, sondern eine Verbesse-rung der wirtschaftlichen Lage der deutschenArbeiter statt.3 Erst in neuerer Zeit gibt es hierzulande ernst-hafte Auseinandersetzungen mit dem Liberta-rianismus. Vgl. dazu Horst Wolfgang Boger,„Anarchismus und radikaler Liberalismus”, in:Jahrbuch zur Liberalismusforschung, 2. Jg. 1990,S.47-66 und Hardy Bouillon (Hg.), Libertariansand Liberalism, Essays in Honour of GerardRadnitzky, Aldershot: Avebury 1996.4 Die Absicht, sich von den sogenannten „Li-berals” (auch East-Cost Liberals genannt, An-hänger der Demokratischen Partei) zu distanzie-ren, trug dazu bei, daß der Libertarianismus trotzaller Heterogenität eine gewisse Geschlossenheitentwickelte. Heute reicht die Palette der Liber-tarians von Gegnern des Wohlfahrtsstaates, überBefürworter eines begrenzten bzw. minimalenStaates (Minarchisten) bis hin zu den Protago-nisten des libertären Anarchismus; vgl. HardyBouillon (Hg.), Libertarians and Liberalism,Essays in Honour of Gerard Radnitzky, Alders-hot: Avebury 1996. Die gemeinsame Verwen-dung der Etiketts „Libertarian” oder „libertär”sollte aber nicht über die Unterschiede hinweg-täuschen, die es unter den Libertären gibt.5 Rothbard, Murray N., For a New Liberty, theLibertarian Manifesto, New York 1973, S. 9.6 Rothbard nennt die von ihm vertretene Positi-on hier nicht „Anarchismus”, sondern „neuen Li-

bertarianismus”, weil es ihm zu Beginn seinesBuches um die Darstellung der Entwicklung die-ser Bewegung geht..7 „The crucial axiom of that creed is: no man orgroup of men have the right to agress againstthe person or property of anyone else. This mightbe called the „non-aggression” axiom.” – Über-setzung HB. (Rothbard 1973, S. 8)8 Rothbard 1973, S. 24.9 „... he will rarely adopt a principle as an abso-lute and consistent Yardstick to apply to the va-ried concrete situations of the real world.” (Roth-bard 1973, S. 24)10 „Violent interference with a man´s learningand choices is therefore profoundly ‚antihuman‘;it violates the natural law of man´s needs.” (Roth-bard 1973, S. 26)11 „Since each individual must think, learn, va-lue, and choose his or her ends and means inorder to survive and flourish, the right to self-ownership gives man the right to perform thesevital activities without being hampered and re-stricted by coercive molestations.” (Rothbard1973, S. 27)12 Was Pflicht ist, kann nicht in gleicher WeiseRecht sein. Was ich tun muß, kann nicht das sein,was ich tun darf. Denn was ich rechtens tun darf,muß ich auch sein lassen dürfen, sonst wäre esnicht mein Recht. Wenn die Erhaltung des eige-nen Lebens Pflicht und Recht sein soll, dann mußman ‚Recht‘ anders deuten, und zwar als eineRelation gegen Dritte. Die Pflicht, mein Lebenzu erhalten, habe ich gegenüber Gott; das Recht,es zu erhalten, habe ich gegenüber anderen.13 Eine Schwierigkeit der Lockeschen Positionliegt darin, daß sie die Verfügungsgewalt desMenschen über sein Leben beschränkt. Lockeging z.B. davon aus, daß der Mensch kein Rechthabe, sich zu töten, weil er Eigentum Gottes sei.14 Die libertären Anarchisten zweifeln nicht ander Annahme, daß der Mensch handle, um sei-nen Status quo zu verbessern.15 Rothbard greift mit der Idee der ursprüngli-chen Aneignung freier Güter (Appropriation) er-neut eine Vorstellung Lockes auf: Privateigen-tum entsteht durch Beimischung von Arbeit anfreien Gütern. Er ignoriert aber Lockes Hinweis,

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daß die Wahrnehmung vitaler Interessen ohnedie Einrichtung des Eigentums unpraktisch wäre:„Wenn man die ausdrückliche Zustimmung al-ler Mitbesitzenden notwendig macht, damit sichjemand einen Teil dessen, was als Gemeingutverliehen ist, aneignen kann, so würden Kinderoder Knechte nicht das Fleisch schneiden dür-fen, das ihr Vater oder Herr für sie gemeinsambesorgt hat, ohne daß er einem jeden seinen be-sonderen Anteil bestimmt hätte. Wenn auch dasWasser, das aus der Quelle fließt, Eigentum al-ler ist, wer kann zweifeln, daß es dennoch imKruge nur demjenigen gehört, der es geschöpfthat?” (Abhandlung II, §29).16 „The central core of the libertarian creed, then,is to establish the absolute right to private pro-perty of every man: first, in his own body, andsecond, in the previously unused natural resour-ces which he first transforms by his labor. Thesetwo axioms, the right of self-ownership and theright to ‚homestead‘, establish the complete setof principles of the libertarian system.”Die Forderung nach einem Recht auf Herrschaftläßt die Nähe zu Mises und dessen praxeolo-gischem Denken deutlich werden. Es würde andieser Stelle zu weit führen, die Misessche Pra-xeologie und insbesondere ihre Verbindung zumbegründungsphilosophischen Denken zu erläu-tern. Daher sei hier nur soviel angemerkt, daßbeide äußerst problembeladen sind.17 Ebenda.18 „A man is free when he is not aggressedagainst.” (Rothbard 1973, S. 8)19 Indem Rothbard einen sehr striktenEigentumsbegriff verwendet, entgeht seine De-finition jenen vielen Ungereimtheiten, denenz.B. Hayeks Definition der individuellen Frei-heit erlegen ist; vgl. dazu Hardy Bouillon, Frei-heit, Liberalismus und Wohlfahrtsstaat, Baden-Baden 1997, Kap. 2.20 Hans-Hermann Hoppe, „F. A. Hayek onGovernment and Social Evolution: a Critique”,in: Christoph Frei and Robert Nef (eds.), Con-tending with Hayek, Bern, Berlin: Lang 1994, p.131: „the initiation or the threat of physical vio-lence against another person or its legitimately– via original appropriation, production or ex-change – acquired property.”21 Es gibt auch Eingriffe in das (Selbst-)Eigen-tum einer Person, dem die erleidende Person frei-

willig zustimmt. Ein typisches Beispiel ist dasEinwilligen in eine Operation.22 Plastischer gesprochen heißt das: „Ein Menschist frei, solange er allen etwaigen Eingriffen inseine Privatsphäre frei zugestimmt hat.”23 Zur ausführlichen Behandlung dieser Thema-tik s. Kapitel 3 meines Buches Freiheit, Libera-lismus und Wohlfahrtsstaat, Nomos 1997.24 Insofern wird leicht verständlich, warumMarlon Brando als Pate im gleichnamigen Filmseinen Helfershelfer aufforderte, Zwang auf ei-nen „Kunden” auszuüben, als er sagte: „Macheihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann.”25 Hans-Hermann Hoppe, Eigentum, Anarchieund Staat, Opladen 1987.26 Seine Interpretation der Popperschen Auffas-sung über intersubjektive Überprüfbarkeit em-pirischer Aussagen ist m.E. nicht haltbar; vgl.Abschnitt 3.1.1.27 Hans-Hermann Hoppe, Eigentum, Anarchieund Staat, Opladen 1987, S. 13.28 Ebenda, S. 14.29 Hoppe verwendet einen absoluten Knappheits-begriff (siehe Eigentum, Anarchie und Staat,Opladen 1987, S. 68f.). Daher muß er auch dieExistenz sich überschneidender Aktionsspiel-räume und inkompatbiler Interessenlage für dieEntstehung von Eigentum voraussetzen. Der re-lative Knappheitsbegriff, den ich vorziehe, impli-ziert diese beiden Voraussetzungen. M.E. machtes keinen Sinn von einem knappen Gut zu spre-chen, ohne dabei implizit die Existenz einerNachfrage und ein Verhältnis zwischen der Gü-termenge und Nachfragemenge zu unterstellen.30 Siehe Walter Block, „Libertarian Perspectiveon Political Economy”, in: Hardy Bouillon (Hg.),Libertarians and Liberalism, Essays in Honourof Gerard Radnitzky, Aldershot: Avebury 1996,S. 20.31 Hans-Hermann Hoppe, Eigentum, Anarchieund Staat, Opladen 1987, S. 12.32 Karl Popper, „Falsifizierbarkeit, zwei Bedeu-tungen von”, in: Handlexikon zur Wissenschafts-theorie, hg. von H. Seiffert und G. Radnitzky,München 1989, S. 83.33 Ebenda, S. 82.34 Ob man eine bestimmte experimentelle Fal-sifikation anerkennt oder nicht, kann von einerReihe von Faktoren abhängen. Der Wissenschafts-theoretiker kann dem Forscher zwar methodi-

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sche Ratschläge erteilen, doch diese haben nichtsmit der Falsifizierbarkeit der in Frage stehen-den Theorie zu tun. Wo der Fehler steckt, kanndie Logik nicht sagen. Es liegt allein am For-scher zu entscheiden, wo er die Suche beginnenmöchte. Es liegt auch an ihm, ob er sich dabeivon methodischen Ratschlägen leiten lassen möch-te oder nicht und ob er sich pragmatischen Über-legungen zuwenden möchte oder nicht. Aber:Wer die Forschung mit einer Theorie oder – wasder Praxis eher entspricht – einem TheoretischenSystem TS aus Theorie(n), Hypothese(n) undRandbedingungen fortsetzen und die Suche nachder Wahrheit nicht aufgeben möchte, muß, wenner TS für falsifiziert hält, nach dem Fehler in TSsuchen. Das ist alles, was die Wissenschaftstheo-rie des Kritischen Rationalismus sagt.35 Hans-Hermann Hoppe, „Commentary on Rad-nitzky”, in: Values and the Social Order, Vol. 1:Values and Society, ed. by Gerard Radnitzky andHardy Bouillon, Aldershot: Avebury 1995, S.180: „[W]henever two people A and B engagein a voluntary exchange, they must both expectto profit from it;”36 Ebenda, S. 181.37 Siehe Gerard Radnitzky, „Reply to Hoppe –On Apriorism in Austrian economics”, in: Valuesand the Social Order, Vol. 1: Values and Society,ed. by Gerard Radnitzky and Hardy Bouillon,Aldershot: Avebury 1995, S. 189-194.38 Diese Frage stellt sich wohlgemerkt für frei-willig eingegangene Schwangerschaften. Unfrei-willig eingegangene Schwangerschaften wärendavon unberührt. Sie wären ein unerlaubter Ein-griff in die körperliche Souveränität der Mutter.Die Restitution dieser körperlichen Souveräni-tät wäre einzig und allein vom Schwanger-schaftsverursacher zu tragen. D.h., die Folgeneines regulären Schwangerschaftsabbruch (Re-stitution des Status quo der Frau vor der Schwan-gerschaft), wären nicht der Abtreibenden, son-dern dem Schwangerschaftsverursacher zuzu-schreiben.

Dr. phil. habil. Hardy Bouillon (*1960)lebt und lehrt als Privatdozent für politi-sche Philosophie in Trier. Zahlreiche Ver-öffentlichungen und editorische Tätigkeitsowie Übersetzungen und Rezensionenauf seinem Fachgebiet, insbesondereauch zum Thema Liberalismus.

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Dr. Ingo Pies (Münster) und Dr. Gerhard Engel (Mainz u. Braunschweig)Freiheit, Zwang und gesellschaftliche Dilemmastrukturen:

Zur liberalen Theorie des Staates

Einleitung

Der Sozialismus setzte nicht geringe Hoff-nungen auf ein Absterben des Staates –und hat geradezu monströse Staatsgebildehervorgebracht, die die Skepsis – und hiernicht zuletzt die liberale Skepsis – gegen-über dem Staat nachhaltig verstärkt ha-ben. Ohne Zweifel hat das 20. Jahrhun-dert gezeigt, daß der Staat zu einer äußerstgefährlichen Bedrohung individuellerFreiheit werden kann. Verheerende Krie-ge wurden vornehmlich von Staaten ge-führt, und die schlimmsten Verbrechen ge-gen die Menschlichkeit waren staatlich or-ganisiert. Doch auch noch der demokrati-sche Rechtsstaat ist eine Zwangsorgani-sation, und angesichts einer drückendenSteuer- und Abgabenlast wächst der Wi-derstand gegen einen als überbordendempfundenen Wohlfahrtsstaat. Gefordertwird ein schlanker Staat. Liberalisierung,Privatisierung und Deregulierung sollendem Ausufern staatlicher Kompetenzeneinen Riegel vorschieben. Das Motto lau-tet vielfach: weniger Staat. Und am radi-kalliberalen Rand des Meinungsspektrumsstellen die sog. Libertären die durchausernst gemeinte Frage, ob wir einen Staatüberhaupt noch brauchen und nicht viel-leicht besser ganz ohne staatlichen Zwangauskommen könnten.

Zur gleichen Zeit werden in der aktuellenGlobalisierungsdebatte Befürchtungenlaut, die in die genau entgegengesetzteRichtung weisen. Im Zeichen transna-tional zunehmend integrierter Märkte für

Güter und Dienstleistungen, Arbeit undKapital sieht man die politischen Steue-rungsmöglichkeiten des Staates schwin-den. Hoffnungen darauf, den Primat derPolitik wiederherzustellen und die Wirt-schaft einer demokratischen Kontrolle zuunterstellen, folgen dem Motto: mehrStaat. Insbesondere im Projekt einer eu-ropäischen Union sehen nicht wenige dieChance, eine ‚Festung Europa’ zu errich-ten, die dem Globalisierungsprozeß undvor allem dem durch Globalisierung for-cierten Wettbewerb mit staatlichenZwangsmitteln Einhalt gebietet und einenAusbau insbesondere des Sozialstaates aufeuropäischem Niveau ermöglicht.

Die einen sehen im demokratischenRechtsstaat einen Garanten des sozialenFriedens, die anderen sehen im überbord-enden Wohlfahrtsstaat eine Gefährdungindividueller Freiheit. Vor diesem Hinter-grund stellen sich nun aber mindestensdrei Fragen: zum einen die Frage, ob wirweniger Staat brauchen; zum anderen dieFrage, ob wir mehr Staat brauchen; zumdritten aber die Frage – und die liegt nunquer zur öffentlichen Diskussion –, ob esüberhaupt angemessen ist, die Lösung deszugrunde liegenden Problems in der Di-mension „mehr Staat – weniger Staat” su-chen zu wollen.

Zur Beantwortung dieser dritten Fragereicht es nicht aus, auf Einzelbeobachtun-gen und anekdotische Evidenz zurückzu-greifen. Erforderlich ist vielmehr eineTheorie des Staates, und zwar eine Theo-

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rie, die das Verhältnis von Freiheit undZwang so zu bestimmen vermag, daß diepolitische Auseinandersetzung nicht län-ger auf die Quantität staatlicher Aktivitä-ten fixiert bleibt, sondern statt dessen überderen Qualität geführt werden kann. Wirwollen die Grundzüge einer solchen Theo-rie im folgenden entwickeln.1 Hierzu be-ginnen wir mit einem Modell, das sich alsäußerst geeignet erwiesen hat, einige fürdas zugrunde liegende Problem zentraleEinsichten zu generieren (I). Sodann un-tersuchen wir die Implikationen diesesModells für ein Verständnis grundlegen-der Institutionen der modernen Gesell-schaft, einschließlich der Institution desStaates (II). Abschließend gehen wir aufdie Konsequenzen für eine liberale Theo-rie des Staates ein und zeigen, daß mankeineswegs ein Libertärer sein muß, umliberale Prinzipien mit radikaler Konse-quenz vertreten zu können. Vielmehr isteher das Gegenteil der Fall (III).

I. Das Gefangenendilemma:ein Interaktions-Modell

Wir gehen von folgendem Modell aus:Zwei Untersuchungs-Gefangene werdenvor die Wahl gestellt, eine ihnen gemein-sam zur Last gelegte Straftat entweder zuleugnen oder zu gestehen. Leugnen bei-de, so werden sie zu je zwei Jahren Haftverurteilt. Gestehen beide, so werden siezu je acht Jahren Haft verurteilt. Treffendie beiden Gefangenen unterschiedlicheEntscheidungen, so greift eine Art Kron-zeugenregelung: Wer gesteht, kommt frei;wer hingegen leugnet, erhält die Höchst-strafe von 10 Jahren. Mit diesen Informa-tionen versorgt (Abb. 1), werden die bei-den Gefangenen in getrennte Zellen ge-schickt und müssen ihre Entscheidung

bekanntgeben, ohne zu wissen, wie sichder jeweils andere entschieden hat.

Gefangener B:gestehen leugnen

leugnen 10/0 I 2/2 IIGefangener A:

gestehen 8/8 IV 0/10 III

Erläuterung: Die Zahl vor dem Querstrich gilt fürA, die Zahl danach für B. Die römischen Ziffernbezeichnen den Quadranten, d.h. das soziale Ergeb-nis, das sich als Resultat individueller Strategieneinstellt.

Abbildung 1: Die Auszahlungsmatrix für dasGefangenendilemma

Wie werden sich die beiden Gefangenenin unserem Modell verhalten? Unterstelltman, daß es sich bei den Gefangenen umrationale Akteure handelt, die jeweils ihreindividuelle Haftstrafe so gering wie mög-lich halten wollen, dann hat dieses Mo-dell eine eindeutige Lösung. Versuchenwir, der Logik dieser Situation auf dieSpur zu kommen, indem wir sie zunächstaus der Perspektive des Gefangenen Adurchdenken: Falls B gesteht, kommt dieStrategiewahl für A der Wahl zwischenacht und zehn Jahren Gefängnis gleich.Er wird sich also für ein Geständnis ent-scheiden. Falls hingegen B leugnet,kommt die Strategiewahl für A einer Wahlzwischen zwei und null Jahren Gefängnisgleich. Wiederum also wird er sich zumGeständnis entschließen. Unabhängig da-von, wie B sich verhält, ist es für A im-mer vorteilhaft, auf die Kronzeugenrege-lung zu setzen. Da das Spiel symmetrischaufgebaut ist, gelten die gleichen Überle-gungen analog für B. Auch der Gefange-

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ne B wird sich für ein Geständnis entschei-den. Diese Strategie ist aus seiner Sichtdie jeweils beste Antwort auf die Strate-gie, die A wählt.Da beide Gefangenen gestehen werden,stellt sich als Ergebnis Quadrant IV ein.Dieses Ergebnis ist nun aber äußerst be-merkenswert, wie ein Vergleich mit Qua-drant II zeigt: Beide Gefangenen hättenmit einer geringeren Haftstrafe davonkom-men können, wenn sie sich anders ent-schieden hätten.

Genau hier liegt nun die Pointe des Mo-dells. Es bildet eine Situation ab, in derrationale Akteure zugleich gemeinsameund gegenläufige Interessen haben, wo-bei die Situation so vertrackt ist, daß diegegenläufigen Interessen das gemeinsameZiel unterminieren. Beide Gefangenenhätten im Prinzip mit je zwei Jahren da-vonkommen können. Hierfür wäre einbeiderseitiges Leugnen nötig gewesen.Dies wird jedoch durch die situativenVerhaltensanreize vereitelt. Wer leugnet,läuft Gefahr, vom anderen ausgebeutet zuwerden und sich die Höchststrafe einzu-handeln. Gegen diese Gefahr kann er sichnur dadurch schützen, daß er selbst leug-net. Zugleich hält er sich damit die Opti-on auf den für ihn günstigsten Fall offen,nämlich als Kronzeuge freigelassen zuwerden. Es sind diese individuellen Vor-teils-Nachteils-Kalkulationen, die zwin-gend dazu führen, daß das gemeinsameZiel nicht erreicht wird und daß die bei-den Gefangenen unter ihren Möglichkei-ten bleiben. Insofern ist die BezeichnungGefangenendilemma durchaus treffend.Das Modell bildet eine Rationalfalle ab,eine Falle, in der sich rationale Akteuregezwungen sehen, sich wechselseitig zuschädigen.

Bevor im folgenden darauf eingegangenwird, inwiefern diese merkwürdige Situa-tionsstruktur zum Verständnis der moder-nen Welt beitragen kann, wollen wir fol-gende Einsichten aus dem Modell aus-drücklich festhalten.

1. Die Ergebnisse des modellierten Spielskönnen nicht gewählt werden. Gewähltwerden können nur Strategien, d.h.individuelle Handlungen. Folglichkann kein Akteur allein den Quadran-ten bestimmen. Welcher Quadrant rea-lisiert wird, hängt immer auch davonab, wie sich der jeweils andere verhält.

2. Jeder Akteur verfolgt mit seiner Hand-lung seinen eigenen individuellen Vor-teil. Er intendiert eine möglichst gerin-ge Haftstrafe. Tatsächlich jedoch han-delt er sich eine hohe Haftstrafe ein.Jedenfalls wäre eine niedrigere Haft-strafe prinzipiell möglich gewesen. Indiesem Sinne ist das Ergebnis einnicht-intendiertes Resultat individu-eller Handlungen. Das Ergebnis istsub-optimal, obwohl jeder Akteur einfür sich optimales Ergebnis zu errei-chen versucht.

3. Das gemeinsame Interesse wird vonindividuellen Anreizen dominiert. DasErgebnis ist eine kollektive Selbst-schädigung. Beide Gefangenen bleibenunter ihren Möglichkeiten.

II. Gesellschaftliche Dilemmastruktu-ren: eine Interaktions-Theorie

Wir vertreten die Auffassung, daß das Ge-fangenendilemma eine Situationslogik ab-bildet, deren genaue Kenntnis ein Ver-ständnis zahlreicher Politikprobleme inmodernen Gesellschaften erleichtert. Wirmöchten diese These im folgenden an ei-nigen Beispielen illustrieren.

44 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

(1) Das Problem des Kalten Krieges be-stand darin, daß NATO und WarschauerPakt (WP) vor der Alternative standen,aufzurüsten oder abzurüsten. Zwar gab esein gemeinsames Interesse an kollektiverSicherheit. Zugleich gab es aber auchenorme Anreize, durch individuelles Vor-teilsstreben sich wechselseitig zu schädi-gen. Betrachten wir hierzu Abbildung 2.

Warschauer Pakt (WP)aufrüsten abrüsten

abrüsten w/b I s/s IINATO

aufrüsten t/t IV b/w III

Erläuterung: Der Buchstabe vor dem Querstrichgilt für NATO, der danach für WP. Hierbei stehtb für best, s für second, t für third und w fürworst. Aus Sicht jedes Akteurs gilt folglichb > s > t > w.

Abbildung 2: Der kalte Krieg als soziales Dilemma

Wenn beide Staaten abrüsten, können siekollektive Sicherheit mit relativ niedrigenKosten erzielen. Es besteht also ein ge-meinsames Interesse daran, Quadrant IIzu erreichen. Aus Sicht der NATO bestün-de jedoch der individuell beste Fall darin,Quadrant III zu erreichen, d.h. eine mili-tärische Überlegenheit über den potenti-ellen Gegner aufzubauen. Der individuellschlechteste Fall hingegen wäre QuadrantI. Hier würde man dem Warschauer Paktdas Feld überlassen und durch militärischeSchwäche erpreßbar werden. Den drittbe-sten Fall bildet ein Gleichgewicht desSchreckens, wie es durch Quadrant IVwiedergegeben wird. Unter diesen Bedin-gungen ist beiderseitige Aufrüstung dasErgebnis rationaler Strategien. Jeder Ak-

teur hat berechtigte Angst davor, daß sei-ne Vorleistung ausgebeutet werden könn-te. Das Resultat ist eine kollektive Selbst-schädigung in Form milliardenschwererRüstungsprogramme, die die Welt nichtsicherer machen. Jedenfalls wäre das glei-che Sicherheitsniveau auch zu niedrige-ren Kosten erreichbar gewesen.

(2) Das Modell des Gefangenendilemmaskann auch Situationen verstehen helfen,in denen mehr als zwei Akteure auftre-ten. Hierzu bedienen wir uns eines Kunst-griffs. Wir betrachten einen Akteur A undfassen alle anderen Akteure zu einer Grup-pe B zusammen. Auf diese Weise könnenwir beispielsweise das Problem der Um-weltverschmutzung auf rationales Verhal-ten zurückführen.

Vergegenwärtigen wir uns z.B. die Situa-tion eines Autofahrers A, der wie Millio-nen andere Autofahrer auch – Gruppe B– unter der Abgasbelastung in den Städ-ten leidet. Die Autofahrer stehen vor derWahl, ob sie nun freiwillig einen Kataly-sator einbauen oder ob sie diese Investiti-on unterlassen (Abb. 3). Alle würden sichbesserstellen, wenn die Luft in den Städ-ten weniger stark belastet würde (Qua-drant II). Aus Sicht des einzelnen machtes jedoch wenig Sinn, als einziger einenKatalysator einzubauen, denn hierdurchwürde die Luftqualität nicht spürbar ver-bessert. Spürbar wären nur die nicht un-erheblichen Kosten des Katalysators. Des-halb bildet Quadrant I den aus Sicht vonA schlechtesten Fall ab. Der für A besteFall hingegen ist in Quadrant III wieder-gegeben: Alle anderen bauen einen Kata-lysator ein, was zum Umweltschutz merk-lich beiträgt, und A kommt in den Genußeiner besseren Luft, ohne hierfür eigene

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 45

Kosten in Kauf nehmen zu müssen. Erprofitiert als Trittbrettfahrer von den Vor-leistungen der anderen (nach dem Motto:Hannemann, geh du voran). Angesichtsdieser Anreizkonstellation ist das Ergeb-nis eindeutig. Für jeden einzelnen ist esrational, freiwillig keinen Katalysator ein-zubauen, und gerade dadurch bleibt dieGesamtheit aller Autofahrer unter ihrenMöglichkeiten. Es kommt zu einer Um-weltverschmutzung – Quadrant IV –, dieeigentlich niemand will, zu der jedoch je-der sein Teil beiträgt.

B: Katalysator einbauen?

nein ja

ja w/b I s/s IIA: Katalysatoreinbauen? nein t/t IV b/w III

Abbildung 3: Umweltverschmutzung als sozialesDilemma

Dieses Umweltbeispiel läßt bereits daraufschließen, daß der Staat eine wichtige Rol-le bei der Überwindung sozialer Dilemma-ta spielen kann. Beispielsweise kann einestaatliche Verpflichtung zum Einbau vonKatalysatoren alle Autofahrer aus der Ra-tionalfalle befreien. Dann wird nicht Qua-drant IV, sondern Quadrant II realisiert.Die kollektive Selbstschädigung wird ver-mieden, und alle werden besser gestellt.

(3) Im folgenden wollen wir zeigen, daßnicht unbedingt direkte Ge- und Verbotenötig sind, um eine gesellschaftliche Di-lemmastruktur zu überwinden. Vielmehrkann der Staat auch indirekt tätig werdenund den Bürgern eine Hilfestellung geben,so daß sie ihre Dilemmaprobleme selbstlösen können. Zu diesem Zweck diskutie-ren wir nun ein eher abstraktes Beispiel.

Jedem Tauschakt liegt eine Dilemmastruk-tur zugrunde. Anbieter (A) und Nachfra-ger (N) geben sich jeweils ein Leistungs-versprechen und stehen dann vor derWahl, ob sie dieses Versprechen tatsäch-lich einhalten wollen oder nicht (Abb. 4).

N: Versprechen einhalten? nein ja

ja w/b I s/s IIA: Versprecheneinhalten? nein t/t IV b/w III

Abbildung 4: Der Tauschakt als soziales Dilemma

Für den Fall, daß der Anbieter sein Ver-sprechen nicht einhält, wird der ehrlicheNachfrager ausgebeutet. Nur der unehrli-che Nachfrager kann sich gegen eine sol-che Ausbeutung schützen. Folglich ist esfür N rational, sein Leistungsversprechenebenfalls nicht einzuhalten. Wie sieht esnun aber aus, wenn A seine Leistung wieversprochen erbringt? In diesem Fall kannder ehrliche Nachfrager in den Genuß derLeistung des A kommen. Quadrant II istaus seiner Sicht besser als Quadrant IV.Noch besser hingegen ist Quadrant I. Hierprofitiert er, ohne etwas dafür zu bezah-len. Folglich ist es für N auch in diesemFall rational, sein Leistungsversprechen zubrechen. Wegen der Symmetrie des Spielsgelten die gleichen Überlegungen analogfür A. Die Folge ist, daß beide Tausch-partner ihre Leistungen zurückhalten: DerTauschakt kommt nicht zustande. Einepotentiell produktive Interaktion ist insta-bil. Die Tauschpartner bleiben unter ih-ren Möglichkeiten.

Nun sind in der Realität natürlich zahlrei-che Tauschakte zu beobachten. Wider-

46 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

spricht das nicht unserer Theorie? Wirddie Theorie durch diesen Befund gar wi-derlegt? Wir meinen nein. Denn unsereTheorie kann genau angeben, unter wel-chen Bedingungen Tauschakte zustande-kommen können, obwohl eine Dilemma-struktur zugrunde liegt. Sie kann genauangeben, welche Voraussetzungen erfülltsein müssen, damit die beiden Tausch-partner ihr Dilemma überwinden können.

Unsere Theorie weist darauf hin, daß esin einem sozialen Dilemma die individu-ellen Anreize sind, die rationale Akteuredaran hindern, ihr gemeinsames Interesseauch tatsächlich zu verfolgen. Folglich läßtsich das soziale Dilemma überwinden,wenn es gelingt, diese individuellen An-reize entsprechend zu verändern. Daswichtigste Instrument hierfür ist der Ver-trag, und zwar der rechtsstaatlich garan-tierte Vertrag. Ein Vertrag enthält nicht nurein wechselseitiges Leistungsversprechen,er legt zugleich auch eine Strafe fest, diefällig wird, falls das Leistungsversprechengebrochen wird. Durch den Vertrag wirddie wechselseitige Vereinbarung sanktio-niert, und durch diese Sanktion werdendie Anreize der Tauschpartner nachhaltigbeeinflußt. Ist die Strafe hinreichend hoch,so lohnt es sich nicht mehr, den Vertragzu brechen. Die Vorteilhaftigkeit der je-weiligen Alternativen ändert sich, wenndie Wahl der Strategie „nein” mit geeig-neten Sanktionen belegt wird (Abb. 5).Das Versprechen einzuhalten, wird nunzur besten Antwort auf die Strategie desGegenüber. Die Tauschpartner wechselnvon Quadrant IV zu Quadrant II. Ihre In-teraktion wird stabilisiert. Der Tauschaktkommt zustande.

N: Versprechen einhalten? nein ja

ja s/t I b/b IIA: Versprecheneinhalten? nein w/w IV t/s III

Abbildung 5: Die vertragliche Überwindung des Tauschdilemmas

Verträge sind folglich ein wirksames In-strument in den Händen der Bürger, mitdem sich gesellschaftliche Dilemmastruk-turen überwinden lassen. Wenn jeder dar-auf vertrauen kann, daß ein Vertragsbruchstaatlich sanktioniert wird, können sich dieBürger mit Hilfe von Verträgen ihre jewei-lige Anreizkonstellation, ihren Situations-„Rahmen”, so „zurechtzimmern”, wie esihren Bedürfnissen entspricht.

(4) Ein Problem besteht nun aber darin,daß Verträge in aller Regel unvollständigsind. Gerade bei komplizierten Tausch-akten lassen sich nicht alle Leistungsver-sprechen enumerativ auflisten, und schongar nicht läßt sich immer ohne weiteresleicht feststellen, ob ein Vertrag vereinba-rungsgemäß erfüllt wurde oder nicht. Imwirklichen Leben gilt daher oft, daß Rechthaben und Recht bekommen zwei unter-schiedliche Dinge sind. Nicht jeder, dereinen an sich berechtigten Vertragsan-spruch an sein Gegenüber hat, kann die-sen Anspruch vor Gericht auch tatsäch-lich durchsetzen, schon gar nicht kosten-los.

Obwohl Verträge ein sehr wichtiges In-strument sind, um gesellschaftlich er-wünschte Tauschakte zu stabilisieren, sindsie bei weitem nicht das einzige Instru-ment. Ein zweites, nicht minder wichti-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 47

ges Instrument ist der Wettbewerb, dembeide Marktseiten ausgesetzt werden. Wirkönnen sagen, daß hinsichtlich der Über-windung des Tauschdilemmas die Insti-tution des Vertrages ein funktionales Äqui-valent zur Institution des Wettbewerbsdarstellt. Beide ergänzen sich gegenseitig.Die zugrunde liegende Überlegung ist ein-fach: Der Vertrag dient dazu, den Tausch-partner zu bestrafen für den Fall, daß ersein Tauschversprechen nicht einhält. An-gesichts unvollständiger Verträge kannman sich auf diese Anreizwirkung nichtimmer verlassen. In solchen Fällen ist eshilfreich, den Wettbewerb als Strafe ein-zusetzen: Wer seinen Leistungsverspre-chen nicht nachkommt, wird durch dieKonkurrenten ausgebootet. Deshalb hatjeder Marktteilnehmer einen Anreiz, sichauch bei unvollständigen Verträgen ver-einbarungsgemäß zu verhalten, um seinezukünftigen Tauschpartner nicht zu ver-lieren. Ähnlich wie Verträge, ist auch derWettbewerb ein Disziplinierungsinstru-ment. Er verändert die Anreize für Inter-aktionen.

Wir wollen nun auch den Wettbewerb mitHilfe unseres Modells untersuchen. Dochzuvor wollen wir noch einmal die Syste-matik unserer Argumentation in Erinne-rung rufen. Bisher haben wir Beispielediskutiert, in denen eine allgemein alsunerwünscht empfundene Situation alssoziales Dilemma rekonstruiert werdenkann, und wir haben überlegt, was derStaat tun kann, um dieses Dilemma zuüberwinden. Hier haben wir unterschie-den zwischen staatlichen Anweisungenauf der einen Seite und der Institution desrechtsstaatlich garantierten Vertrags aufder anderen Seite. Das erste Beispiel fügtsich dieser Systematik insofern ein, als es

auf eine Situation abstellt, die man als in-ternationale Anarchie bezeichnen kannund deren Schwierigkeiten gerade auf dieAbwesenheit eines (Welt-)Staates zurück-geführt werden können. Genau deshalbwar es in der Tat über Jahrzehnte hinwegso schwierig, aus dem kalten Krieg her-auszufinden. Wir haben darauf hingewie-sen, daß die Institution des Vertrags unddie Institution des Wettbewerbs im Prin-zip die gleiche Funktion erfüllen: Beidestabilisieren gesellschaftliche erwünschteTauschakte. Für die weitere Argumenta-tion müssen wir nun einen neuen Gedan-ken einführen. Wir werden im folgendenzeigen, daß der Wettbewerb selbst als einsoziales Dilemma aufgefaßt werden kann,und zwar als ein sozial erwünschtes Di-lemma, und daß die Aufgabe des Staatesdarin besteht, dieses Dilemma nicht auf-zulösen, sondern zu etablieren und auf-rechtzuerhalten. Der Systematik folgt diesinsofern, als der eigentliche Sinn des Wett-bewerbs – als soziales Dilemma zweiterOrdnung – darin besteht, die Interaktions-probleme zwischen Tauschpartnern – einsoziales Dilemma erster Ordnung – lösenzu helfen. Hier wird also ein Dilemma eta-bliert, um ein anderes Dilemma zu über-winden. Das geht nicht ohne staatlicheHilfe. Deshalb lautet unsere These, die wirim folgenden entwickeln wollen: Einewichtige Aufgabe des Staates liegt darin,Konkurrenz in den Dienst gesellschaftli-cher Kooperation zu stellen.

Betrachten wir die Akteure einer Markt-seite, zwischen denen Wettbewerbherrscht, z.B. die Anbieterseite. Hier ha-ben die Unternehmen ein gemeinsamesInteresse an hohen Absatzpreisen. Daswirksamste Mittel, um dieses gemeinsa-me Ziel zu erreichen, besteht darin, ein

48 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

Kartell zu bilden und sich auf Kosten derNachfrager zu bereichern. Unter Wettbe-werbsbedingungen jedoch ist das nichtganz so einfach (Abb. 6). Denn jeder An-bieter steht vor der Wahl, ob er den abge-sprochenen Kartellpreis einhalten soll odernicht. Der individuelle Anreiz, den Kartell-preis zumindest ein wenig zu unterbieten,besteht darin, von den KartellmitgliedernKunden abzuziehen, so daß der niedrige-re Preis durch höhere Absatzmengen ge-winnwirksam überkompensiert wird.

B: Preis unterbieten?

ja nein

nein w/b I s/s IIA: Preisunterbieten? ja t/t IV b/w III

Abbildung 6: Wettbewerb als sozial erwünsch-tes Dilemma

Wir betrachten einen Anbieter A und fas-sen alle übrigen Anbieter, d.h. alle seineKonkurrenten, zur Gruppe B zusammen.Wenn sich alle an den Kartellpreis halten,ist es für A besonders lukrativ, den Preiszu unterbieten. Wenn hingegen auch dieanderen zu Wettbewerbspreisen anbieten,kann sich A nur dann im Markt halten,wenn er sich preislich nicht unterbietenläßt. In jedem Fall also hat er einen indi-viduellen Anreiz, die Kartellabsprache zuverletzen. Das Ergebnis ist eine kollekti-ve Selbstschädigung der Anbieter, undzwar zum Wohle der Nachfrager, der Kon-sumenten.

Dies wissend, können die Kartellmitglie-der nun nach Mitteln und Wegen suchen,ihre Kartellabsprache anreizkompatibel zu

machen, d.h. sich einen Sanktionsmecha-nismus einzurichten, der kartellkonformesVerhalten belohnt und kartellschädlichesVerhalten bestraft. Das wirksamste Instru-ment hierfür wäre ein Vertrag. Und ge-nau hier setzt nun die Rolle des Staatesein; denn während Tauschverträge rechts-staatlich garantiert werden (müssen), umgesellschaftlich erwünschte Tauschakte zustabilisieren, sind Kartellverträge rechts-staatlich zu unterbinden. Kartellverträgesind Verträge zu Lasten Dritter. Indem derStaat solche Verträge nicht nur nicht ga-rantiert, sondern aktiv verbietet, destabi-lisiert er die gesellschaftlich unerwünsch-te Interaktion zwischen Konkurrenten.Das Kartellamt dient dazu, den Wettbe-werb aufrechtzuerhalten und wettbe-werbswidrige Absprachen zu verhindern.

Wir können diesen Gedanken mit Hilfevon Abbildung 7 noch einmal anders zumAusdruck bringen. Auf einem Markt ste-hen sich Anbieter und Nachfrager gegen-über, die Leistung und Gegenleistung aus-tauschen. Um diese vertikalen Austausch-beziehungen zu stabilisieren, sind zumeinen Verträge erforderlich, deren Durch-setzung rechtsstaatlich garantiert wird. Dieerforderliche Anreizkompatibilität wirdangesichts prinzipiell unvollständiger Ver-träge auch mit Hilfe des Wettbewerbs her-gestellt, d.h. durch eine Unterbindung derhorizontalen Absprachen zwischen denAkteuren auf der Marktnebenseite. Auchdie Unterbindung von Kartellverträgenmuß rechtsstaatlich garantiert werden. Soparadox es zunächst auch klingen mag:Ein funktionierender Markt beruht darauf,daß ein horizontales Dilemma etabliertwird, um ein vertikales Dilemma zu über-winden.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 49

A A A

N N N

Abbildung 7: Horizontale versus vertikale Markt-beziehungen

III. Eine liberale Theorie des Staates

Wir wollen nun, gestützt auf die Diskus-sion zahlreicher Beispiele für gesellschaft-liche Dilemmastrukturen, die Quintessenzformulieren. Hinsichtlich der einleitendaufgeworfenen Fragen ziehen wir folgen-de Schlußfolgerungen.

1. Der Staat ist eine Zwangsinstitution.Da gibt es nichts zu beschönigen. Folg-lich muß die Rechtfertigung des Staatesdie Anwendung von Zwang rechtfertigen.Für eine liberale Staatstheorie ist dies eineanspruchsvolle Aufgabe. Aber im Rekursauf gesellschaftliche Dilemmastrukturenläßt sich diese Aufgabe lösen.

2. Das Verhältnis von Freiheit und Zwangist neu zu bestimmen. Freiheit und Zwangsind nicht einfach bloße Gegensätze. Viel-mehr kann Freiheit durch Zwang aucherweitert werden. Institutionelle Ein-schränkungen des individuellen Hand-lungsspielraums können dazu führen, daßdie gesellschaftlichen Akteure ihren Mög-lichkeitenraum besser ausschöpfen kön-nen. Mit Hilfe staatlichen Zwangs kön-nen die Bürger in die Lage versetzt wer-den, soziale Dilemmasituationen zu über-winden und kollektive Selbstschädigun-gen zu vermeiden, d.h. von Quadrant IV

zu Quadrant II zu wechseln. Der mit Hil-fe staatlichen Zwangs glaubwürdig ge-machte Verzicht auf Quadrant III ist derPreis, den A dafür zahlt, daß B simultanauf Quadrant I verzichtet. Auf diese Wei-se kann eine kollektive Selbstbindung ausRationalfallen befreien.

3. Der Markt ist das wichtigste Beispieldafür, daß es für die Überwindung eines(vertikalen) Dilemmas erster Ordnungvorteilhaft sein kann, ein (horizontales)Dilemma zweiter Ordnung zu etablieren.Zugleich wird deutlich, daß staatlicherZwang sowohl zur Überwindung als auchzur Aufrechterhaltung solcher Dilemma-situationen eingesetzt werden kann. Folg-lich besteht die Aufgabe staatlicher Poli-tik in einem institutionell differenziertenManagement sozialer Dilemmasituatio-nen. Vor diesem Hintergrund ist die Fra-ge „viel oder wenig Staat” falsch gestelltund hoffnungslos unterkomplex. Eskommt nämlich einzig und allein daraufan, ob staatlicher Zwang der Anforderunggenügt, kollektive Selbstbindungen derBürger zu unterstützen, Selbstbindungenalso, mit deren Hilfe sich die Bürger ausRationalfallen befreien können.

4. Die hier vorgestellte Perspektive istauf den Rechtsstaat ebenso anwendbarwie auf den Sozialstaat. Der Rechtsstaat,der uns aus der Anarchie befreit, löst ge-nauso ein soziales Dilemma auf wie derSozialstaat, der die Anreizprobleme dermodernen Gesellschaft lösen hilft, etwaindem er die Versorgung mit öffentlichenGütern übernimmt.Wir wollen dies an einem weiteren Bei-spiel2 deutlich machen: Auch der Bezie-hung zwischen Eltern und Kindern liegteine gesellschaftliche Dilemmastrukturzugrunde. In jungen Jahren sind Kinder

50 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

auf ihre Eltern angewiesen, während um-gekehrt in älteren Jahren die Eltern derHilfe der Kinder bedürfen. In diesemSachverhalt liegt ein enormes Tausch-potential. Die volle Ausschöpfung diesesTauschpotentials würde erfordern, dieVorleistung der Eltern an eine verbindli-che spätere Gegenleistung der Kinder zuknüpfen. Das wirksamste Mittel hierzuwäre ein Vertrag. Genau dieser Art vonVerträgen wird in allen modernen Gesell-schaften jedoch der staatliche Rechts-schutz entzogen, und zwar mit gutenGründen: Kinder sollen davor geschütztwerden, daß ihre Interessen verletzt wer-den, was zumindest möglich wäre, wennEltern für ihre Kinder Verbindlichkeiteneingehen könnten, von denen sie selbst alsEltern, nämlich als elterliche Vertragspart-ner, unmittelbar profitieren. Das Verbotsolcher Verträge ist äußerst folgenreich.Zum einen folgt, daß das Interesse derEltern schwindet, in ihre Kinder zu inve-stieren, d.h. die Erziehung, Bildung undAusbildung der Kinder mit eigenem Kon-sumverzicht zu erkaufen. Zum anderenfolgt, daß das Interesse der Kinder schwin-det, sich um bedürftige Eltern zu kümmernund sie im Alter und/oder Krankheitsfallentsprechend zu pflegen. Der Entzug derrechtsstaatlichen Durchsetzungsgarantieder entsprechenden intra-familialen Ver-tragsbeziehungen führt also in ein sozia-les Dilemma. Einen Weg aus diesem Di-lemma heraus weist nun der Sozialstaat,indem er einen inter-familialen Genera-tionenvertrag organisiert und sich sowohlum die Humankapitalbildung der jungenGeneration als auch um die Humankapi-talpflege der älteren Generation kümmert.Hieran zu kritisieren ist lediglich, daß die-ses „Kümmern” nicht unbedingt in staat-licher Regie erfolgen muß und daß es viel-

fach besser wäre, von der traditionell über-kommenen staatlichen Herstellung öffent-licher Güter zu einer staatlichen Finan-zierung überzugehen – schon allein des-halb, weil es dann leichter wird, mit Hilfedes Wettbewerbs zusätzliche Effizienz-potentiale zu erschließen.

5. Der Staat ist eine Zwangsinstitution.Hieran haben wir keinen Zweifel gelas-sen. Aber wir halten es für völlig verfehlt,dem Staat als der Sphäre kollektivenZwangs den Markt als die Sphäre indivi-dueller Freiheit gegenüberzustellen, wiedies oftmals geschieht, wenn mehr Marktund weniger Staat gefordert wird. ZweiArgumente sprechen dafür, daß eine sol-che Gegenüberstellung unangemessen ist.Zum einen bedarf der Markt einer rechts-staatlichen Garantie für Tauschverträgeund zugleich einer rechtsstaatlichen Unter-bindung von Kartellverträgen. Der Marktist folglich auf eine artifizielle Umgebunginstitutioneller Rahmenbedingungen ange-wiesen, wenn er denn funktionieren soll,und diese lassen sich am besten mit Hilfedes Staates sicherstellen. Zum anderenberuht der Markt auf Wettbewerb, unddieser Wettbewerb ist seinerseits eineZwangsinstitution, denn er zwingt die demWettbewerb ausgesetzten Akteure zu ei-ner kollektiven Selbstschädigung. Vor die-sem Hintergrund lautet die liberale Recht-fertigung für einen funktionierendenMarkt, daß er die Konkurrenz in denDienst gesellschaftlicher Kooperationstellt. Und die liberale Rechtfertigung füreinen funktionierenden Staat – für einendemokratischen Rechts- und Sozialstaat– besteht darin, daß er die Freiheit derBürger erweitert, indem er ihnen hilft, sichaus unerwünschten Rationalfallen zu be-freien (und zu diesem Zweck erwünschte

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 51

Rationalfallen, also Wettbewerb, allerersteinzurichten und aufrechtzuerhalten).Kollektive Entwicklung individueller Frei-heit, so lautet das Legitimationsargumenteiner liberalen Theorie des Staates.3

6. Der Staat ist eine Organisation, ein In-strument der Gesellschaft; ein gefährlichesInstrument, aber eben auch ein höchst pro-duktives Instrument. Es gibt keinen ver-nünftigen Grund, die Lernprozesse mit derAnwendung dieses Instruments mutwilligabzubrechen. Forderungen nach einemMinimalstaat können wir uns daher nichtanschließen. Und libertären Utopien einerGesellschaft ohne Staat halten wir die zeit-los aktuelle Einsicht von Thomas Hobbesentgegen, der das Leben in einer Anar-chie aus guten Gründen als „solitary, bru-tish, nasty, and short” gekennzeichnet hat.Die ausgelebten Träume der Libertärenkönnten sich als ähnlich alptraumhaft er-weisen wie die ausgelebten Träume ihrersozialistischen Widerparts. Beide revoltie-ren letztlich gegen die Moderne, derenFunktionsprinzipien sie offenbar nicht be-griffen haben. Hier tut Aufklärung not,und zwar genau jene Form metaphysik-freier Aufklärung, die sich allein auf nach-prüfbare Zweckmäßigkeitsargumentestützt und zu der wir mit diesem Aufsatzbeizutragen versucht haben.4

Anmerkungen:1 Wir folgen damit einer Argumentationslinie,die im 17. Jahrhundert mit Thomas Hobbes(1651, 1989) begann und im 20. Jahrhundert vonJames Buchanan (1975, 1984) wieder aufgenom-men wurde. Für eine Weiterentwicklung diesesAnsatzes vgl. Homann (1988) und Pies (1993).Im folgenden wollen wir die interaktionsöko-nomische Pointe dieser Weiterentwicklung er-läutern.2 Vgl. Becker und Murphy (1988, 1996).3 Vgl. hierzu Homann und Pies (1993).

4 Vgl. hierzu auch die Schriftenreihe „Konzep-te der Gesellschaftstheorie”, z.B. Pies und Lesch-ke (1996). Wenn man das Wort „Nationalöko-nomie” ersetzt durch „Interaktionsökonomik ge-sellschaftlicher Dilemmastrukturen”, dann läßtsich mit Ludwig von Mises (1927, 1993; S. 170)auch heute noch zeitgemäß formulieren: „Mankann Liberalismus nicht ohne Nationalökono-mie verstehen. Denn der Liberalismus ist ange-wandte Nationalökonomie, ist Staats- und Ge-sellschaftspolitik auf wissenschaftlicher Grund-lage.”

Literatur:

Becker, Gary S. und Kevin M. Murphy(1988, 1996): Die Familie und Staat, in:Gary S. Becker: Familie, Gesellschaft undPolitik, übersetzt von Monika Streissler,hrsg. von Ingo Pies, Tübingen, S. 197-216.James Buchanan (1975, 1984): Die Gren-zen der Freiheit, Tübingen.Hobbes, Thomas (1651, 1989): Leviathanoder Stoff, Form und Gewalt eines kirch-lichen und bürgerlichen Staates, hrsg. undeingeleitet von Iring Fetscher, 3. Aufl.,Frankfurt a.M.Homann, Karl (1988): Rationalität undDemokratie, Tübingen.Homann, Karl und Ingo Pies (1993): Li-beralismus: Kollektive Entwicklung indi-vidueller Freiheit – Zu Programm undMethode einer liberalen Gesellschafts-theorie, in: Homo Oeconomicus X(3/4),S. 297-347.Mises, Ludwig von (1927, 1993): Libe-ralismus, Sankt Augustin.Pies, Ingo (1993): Normative Institutio-nenökonomik. Zur Rationalisierung despolitischen Liberalismus, Tübingen.Pies, Ingo und Martin Leschke (1996)(Hrsg.): James Buchanans konstitutionelleÖkonomik, Tübingen.

52 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

Es wird im allgemeinen angenommen,dass jeder Mensch die Möglichkeit habensollte, sein eigenes Leben in den wichtig-sten Bereichen selbst zu bestimmen. Die-se Ansicht kann aus der skeptischen Po-sition erfolgen, dass niemand besser alsdas Individuum selbst weiss, was für esgut ist; oder aus der inhaltlich normativenPosition, dass die Autonomie des einzel-nen beachtet werden sollte. In beiden Fäl-len wäre jede Fremdbestimmung begrün-dungsbedürftig, auch die Fremdbestim-mung durch den Staat. Nach Ansicht dermeisten Autoren ist eine solche Begrün-dung staatlicher Tätigkeit sehr wohl mög-lich. Zumindest die Existenz eines Mini-malstaates, der für den Schutz seiner Bür-ger, ein Rechtssystem und öffentliche Gü-ter sorgt, sei für jeden Bürger unverzicht-bar.Diese Position, die auch Robert Nozickin dem inzwischen klassischen Buch desmodernen Libertarismus „Anarchy, Stateand Utopia” (1974) vertritt, wird von ei-nigen neueren Libertären wie Hans-Her-mann Hoppe, Hardy Bouillon, GerardRadnitzky oder Murray N. Rothbard inFrage gestellt. Sie betonen, dass es kei-neswegs notwendig sei, den Schutz derFreiheit und die Herstellung (weiterer) öf-fentlicher Güter an einen Staat zu dele-gieren. Diesen Vertretern eines strikten Li-bertarismus oder Anarcho-Liberalismusgegenüber mag man einräumen, dass eszumindest denkbar ist, dass der Schutz dereigenen Privatsphäre und die Herstellungjener Güter, die im allgemeinen als öffent-liche Güter bezeichnet werden (wie Ver-

teidigung, saubere Umwelt, ...), durch pri-vate Anbieter übernommen wird. Es istjedoch eine andere Frage, ob es für deneinzelnen pragmatisch sinnvoll ist, in al-len Fragen der eigenen Sicherheit und beiallen Gütern dem freien Markt zu vertrau-en. Die individuellen Kosten wären be-trächtlich, die in Auswahl der Vertrags-partner, in Verhandlungen, in Kontrolle derLeistungen und Rückversicherungen inve-stiert werden müssten. Der einzelne müss-te so viel Zeit und Aufwand in die Orga-nisation des eigenen Lebens investieren,dass er für eine weitere Gestaltung des ei-genen Lebens, für Freizeit und Weiterbil-dung, nur schwer Platz fände. Ja, es wäreanzunehmen, dass das Leben in einer solchvollkommen freien Welt viele Menschen(unter anderem kognitiv) überfordernwürde. Dies wird von Libertären teilwei-se zugestanden. In Diskussionen räumensie (so etwa Hardy Bouillon in den Nürn-berger Seminaren der Thomas Dehler-Stif-tung) die Möglichkeit ein, dass es für freieBürger sinnvoll sein könnte, wenn sichletztendlich so etwas wie private Staatenbilden würden, die alle traditionellen Staat-saufgaben übernehmen. Ja, es wird sogareingeräumt, dass eine dieser Schutzfirmenein natürliches Monopol haben könnte.Libertäre scheinen die These zu vertreten,dass ein solcher privater Staat die tradi-tionellen Aufgaben übernehmen könnte,ohne im selben Sinne Zwang auf die Bür-ger auszuüben oder im selben Sinne dieFreiheit der Bürger zu verletzen.

Dr. Klaus-Peter Rippe (Zürich)Von privaten und von real existierenden StaatenKritische Anmerkungen zum libertären Freiheitsverständnis

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 53

Mir scheint, dass sich an diesem Punkt,wo zwischen einem (libertär tolerierten)privaten Staat und den (libertär nicht to-lerierten) real existierenden Staaten un-terschieden wird, entscheidende Theorie-defizite des Liberalismus aufzeigen las-sen. Ich werde erstens zeigen, dass dielibertäre Theorie auf empirischer Ebenevon einem synchronen Gesellschaftsbildausgeht, das Wandel und Geschichte igno-riert (Abschnitt 1). Ich werde zweitensnachweisen, dass auch bei Zugrundele-gung eines libertären Freiheitsverständnis,das ich im Abschnitt 2 kurz vorstelle, nichtdavon die Rede sein kann, dass eineStaatsbürgerschaft durch Geburt und Her-kunft per se eine Freiheitsverletzung dar-stellt (Abschnitte 3-5). Die unterschiedli-che Beurteilung von privaten und real exi-stierenden Staaten erweist sich dabei zwarin der Theorie des Libertarismus als kon-sequent; aber dabei zeigt sich zugleich dieUnattraktivität der zugrundeliegendennormativen Theorie.

1. Eine Welt für Seidenraupen, eineWelt für MenschenIn real existierenden Staaten wird das Indi-viduum durch Abstammung, seinen Ge-burtsort oder andere kontingente Faktorenin eine Staatsbürgerschaft hineingezwun-gen. Traditionell wird vorgebracht, derVerbleib in einem Territorium oder gene-rell das Behalten seiner Staatsbürgerschaftstelle zumindest eine implizite Zustim-mung zum Staat dar. Schon David Humehat freilich darauf verwiesen, dass eineAuswanderung durch die mit ihr verbun-denen sozialen Verluste und andere Ko-sten für die wenigsten Menschen einewirkliche Handlungsoption darstellt. Dernur eine Landessprache beherrschende,arme Bürger kann nicht wählen, das Land

zu verlassen. Wenn man sagte, er hätte diefreie Wahl, so könnten wir, wie DavidHume sagt, „ebensogut behaupten, dassein Mann durch seinen Aufenthalt auf ei-nem Schiff die Herrschaft des Kapitänsfreiwillig anerkennt, obwohl er im Schlafan Bord getragen wurde und ins Meerspringen und untergehen müsste, wenn erdas Schiff verlassen wollte.” (Hume 1772,1988: 311) Der einfache Mensch wird inden Staat hineingezwungen und hat alleFolgen der Staatsbürgerschaft inklusivedes Kriegsdienstes gezwungenermassenauf sich zu nehmen.Wäre dies aber anders, wenn ein privaterStaat bestünde? Dies scheint mir nicht derFall zu sein. Schon bei der Partizipationan der Verteidigung wäre die Situation deseinzelnen ähnlich, ja gleich. Ich werde imfolgenden nicht den aktiven Kriegsdienstnehmen, sondern nur den finanziellen Bei-trag zur Verteidigung. Entscheidend isthier sicher das Aktionsprinzip des priva-ten Staates. Der private Staat könnte ent-weder nur dann handeln, wenn er die Ein-willigung aller Vertragspartner hat (i), eskönnte ein Mehrheitsprinzip geben, dasdessen Handlungen lenkt (ii), oder derfreie Mensch hätte seine Entscheidungs-befugnis (iii) an die Leitenden des priva-ten Staat delegiert, die ihre Entscheidun-gen ohne weitere Rücksprachen mit denVertragspartnern treffen.Gehen wir beispielsweise davon aus, dassdie Verteidigung der Vertragspartner nachAnsicht von Experten verbessert werdenkönnte, wenn der private Staat zehn Al-phajets kauft; und nehmen wir weiter an,dass es eine kleine, durch Argumente nichtmehr zu überzeugende Minderheit gibt,die diesen Kauf aus den unterschiedlich-sten Gründen ablehnt. Wenn der privateStaat (i) nur bei Konsens aller Vertrags-

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partner handeln könnte, müsste die Mehr-heit in diesem Fall versuchen, die Vertre-ter der Minderheitsmeinung durch Kom-pensationszahlungen dazu zu bewegen,dem Kauf der Alphajets zuzustimmen.Aber in diesem Fall wäre es für jedenVertragspartner rational, seine Zustim-mung nur gegen Kompensationszahlungzu leisten. Ja, wir stehen vor dem altbe-kannten Problem, dass jeder danach stre-ben würde, als letzter einen möglichst ho-hen Preis für seine Einwilligung heraus-zuschlagen. Die Kosten für einen Alpha-jet wären schliesslich vernachlässigbar ge-ring gegenüber den Kompensationszah-lungen, die an die anderen Vertragspart-ner gezahlt werden müssten. Angesichtsder Zeit, die für die notwendigen Verhand-lungen verwendet werden müssten, sindZweifel angebracht, dass ein solcherartkonstituierter privater Staat handlungsfä-hig wäre.Libertäre könnten vielleicht erwidern, dasses möglich wäre, nur jene von Dienstlei-stungen profitieren zu lassen, die dafür be-zahlten. Doch nicht nur, dass diese Lö-sungen in vielen Fällen äusserst kompli-ziert ausfallen werden, mag man zudembestreiten, dass in allen Fällen eine Lö-sung möglich ist. Einige Bürger haben, umwiederum die Verteidigung zu nehmen.dafür bezahlt, dass ihr Eigentum und Le-ben durch Abwehrraketen, Panzer und In-fanterie verteidigt wird; sie haben denKauf der Alphajets jedoch nicht unter-stützt. Wenn im Falle des Angriffs durcheine mafiöse Firma auch der Einsatz vonAlphajets erforderlich wäre, reicht die Zeitkaum aus, um zu diesem Zeitpunkt derenZustimmung einzuholen und doch nochJets zu kaufen. Kann man dann die Zah-lungsverweigerer davon ausschliessen,durch den Einsatz der Jets auch beschützt

zu werden? Dies wird in Ausnahmefäl-len, aber nicht immer möglich sein. Odersollen sie nach der erfolgreichen Abwehrzur Zahlung angehalten werden? Für je-den einzelnen gälte dann folgendes Kal-kül: Wenn ich im Frieden für Alphajetszahle, könnte es sein, dass diese nie zumEinsatz kommen. Wenn ich sie nicht zah-le, werde ich nur dann zahlen, wenn siegebraucht wurden. Also zahle ich nicht,sondern warte den Ernstfall ab.1

Würde aber (ii) ein Mehrheitsbeschlussder Vertragspartner ausreichen, hiessedies, dass die Minderheit gezwungen wür-de, wider ihren Willen dem Kauf einerWaffe zuzustimmen. Aber wie unterschie-de sich deren Situation von der Situationeines Staatsbürgers? Auch dieser wirdschliesslich durch parlamentarische Mehr-heiten oder durch die Mehrheit der Bür-ger sehr oft dazu gezwungen, dass ein Teilseiner Steuermittel für Ausgaben verwen-det wird, deren Sinn er nicht einsieht bzw.,die er selbst missbilligt. Der Libertäre wirdfreilich darauf insistieren, dass die Ab-stimmungsregelungen und Bedingungen,wie abweichende Minderheiten kompen-siert werden, im privaten Staat Teil desVertragsabschlusses sind. Auch wennMinderheiten hier durch Verträge dazugezwungen werden, Entscheidungen zuunterstützen, die sie missbilligen, wäredieser Zwang nicht mit dem Zwang in realexistierenden Gesellschaften zu verglei-chen. Im Gegensatz zum Bürger eines realexistierenden Staates könne der freieMensch, dies sei der entscheidende Punkt,die Vertragsbestimmungen nämlich freiwählen. Dasselbe gilt für die letzten nochzu untersuchende und plausibelste Mög-lichkeit, die Delegation der Entschei-dungsbefugnis. Würden nämlich (iii) dieAngestellten des privaten Staates allein

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über die zur Verteidigung notwendigenMassnahmen entscheiden, ist die Analo-gie zum real existierenden Staat zwargross, aber auch hier bestünde der Unter-schied, dass die freien Menschen ihreEntscheidungsbefugnis freiwillig delegier-ten und den Bedingungen des privatenStaaten freiwillig zustimmten.Hier zeigt sich jedoch ein Hauptproblemder libertären Position. Weder der freieMensch noch die privaten Anbieter vonSchutz und Gütern haben irgendeine Formvon Geschichte. Der freie Mensch beginntzur Stunde Null, wo keine Institutionenund Verträge bestehen und kreiert und ge-staltet neue Institutionen. Der freie Menschbleibt dann aber stets in dieser Stunde Nullstehen, bzw. es wird vorausgesetzt, dasser jederzeit zu diesem Urzustand zurück-wechseln kann, um neue Verträge zuschliessen und neue Institutionen zu schaf-fen. Allerdings leben wir nicht in einersolchen zeitlosen und ahistorischen Welt!Wenn die libertäre Philosophie jemals voneiner Gesellschaft realisiert werden soll-te, wäre nur die Gründergeneration in ih-ren Vertragsabschlüssen vollkommen frei,nicht aber die auf sie folgenden. Der Li-bertarismus scheint denselben Fehler zubegehen, den Hume den Vertragstheore-tikern vorwirft. Ihre Theorie funktionier-te, wenn „eine Generation von Menschenauf einmal verschwinden und eine neueauftauchen würde, wie im Falle der Sei-denwürmer und Schmetterlinge”. (Hume1772, 1988: 312). Dann könnte diese Ge-neration ohne Rücksicht „auf die Gesetzeoder Vorbilder ihrer Vorfahren” vorgehenund könnte einen jeweils neuen Staatsver-trag entwerfen und beschliessen. Aberjede menschliche Gesellschaft befindetsich, so Hume, „in ständiger Bewegung,wobei zu jeder Stunde ein Mensch diese

Welt betritt und ein anderer sie verlässt.”(Hume, 1772, 1988: 312)Auch in einer libertären Gesellschaft wür-de der freie Mensch so nicht in der Stun-de Null in die Geschichte eintreten; erwürde in eine Gesellschaft geboren, in derer zwischen bestehenden Anbietern vonDienstleistungen zu wählen hat. Damit istseine Freiheit aber stets eingeschränkt.Sollen etwa private Tennisvereine ihreMitgliedsbedingungen jeweils neu aus-handeln, wenn ein Mitglied um Neuauf-nahme bittet? Dies widerspräche dem In-teresse und Willen der anderen Mitglie-der, die von jedem neuen Mitglied erwar-ten werden, dass es die Vereinsregeln mitall ihren Rechten und Pflichten einhält.Wenn der freie Mensch der 2. GenerationTennis spielen will oder zumindest priva-te Tennisanlage nutzen will, ist er nichtvöllig frei. Fehlen ihm die finanziellenRessourcen, eigene Tennisplätze und Ten-nispartner zu finanzieren, ist er gezwun-gen, sich an einen der bestehenden Ten-nisvereine und eine der bestehenden Ver-einssatzungen zu halten. Gäbe es nur ei-nen Tennisverein in seinem Gebiet, hat ernur die Wahl, ihm beizutreten oder nicht.So frei ist der freie Mensch einer libertärenWelt also nicht. Seine Handlungsoptionensind durch ein bestehendes Angebot ein-geschränkt; und die Schaffung eines neu-en Angebots ist mit so hohen Kosten ver-bunden, dass nur wenige diese Option alsOption sehen oder ergreifen werden.Einem Tennisverein kann man fernblei-ben, wenn man will. Anders sieht es je-doch aus, wenn es um Anbieter vonSchutz und öffentlichen Gütern geht. Hierist jeder um des Überlebens willen daraufangewiesen, einen Vertrag abzuschliessen.Hätte sich in einer libertären Gesellschaftein natürliches Monopol eines privaten

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Staates herausgebildet, hiesse dies, dasses in dem jeweiligen Territorium nur ei-nen Anbieter gäbe. Für den Menschen, derauf Schutz und auf die Herstellung ande-rer Güter nicht verzichten kann, bestündendann nur drei Möglichkeiten. Er könntedie Dienste des privaten Staates nutzen,er könnte auf ein anderes Territoriumwechseln, wo ein anderer privater Staatbesteht, oder er könnte versuchen, eineneigenen neuen privaten Staat zu kreieren.Die ersten Möglichkeiten entsprächenvollkommen den Optionen, die Bürger realexistierender Staaten haben. Aber dassel-be gilt für die dritte Möglichkeit. Dennauch in einem real existierenden Staatkann der einzelne versuchen, die bestehen-den Regeln zu verändern und einen neu-en Staat zu schaffen. Er kann sich inner-halb des politischen Systems engagieren,ja, er kann revoltieren und eine Revoluti-on initiieren. Man mag sagen, dass tradi-tionelle Staaten solchen Revolten und Re-volutionen anders begegnen werden unddass das Risiko für den freien Menschenin einem privaten Staat kleiner wäre.

Aber ist dies wirklich zu erwarten? Es gibtschliesslich keinen Superstaat als Garan-ten dafür, dass ein privater Staat die ihmzur Verfügungen stehenden Zwangsmit-tel inkl. der zur Verfügung stehenden pri-vaten Schutzgruppen nicht auch benutzenwird, um mögliche Konkurrenten auszu-schalten. Prinzipiell sind die Handlungs-optionen in einer Gesellschaft mit einemprivaten Staat also genauso eingeschränktwie in einem traditionellen Staatsgebiet.Der Kunde einer Firma, die staatliche Auf-gaben übernommen hat, befindet sich inderselben Situation wie ein Bürger einesStaates. Eine Person hat in beiden Fällendrei Handlungsoptionen, bei denen zwei

mit solchen Kosten verbunden sind, dasssie diese kaum ergreifen wird.Man könnte sagen, Libertäre könnten ihrePosition aufrechterhalten, wenn sie die-sen privaten Staat ablehnen. Sie müsstenMöglichkeiten ersinnen, wie verhindertwerden kann, dass eine vorherrschendeSchutzorganisation ein Monopol erhält.Aber in einer libertären Gesellschaft gibtes natürlich keine Garantie, die einen sol-chen privaten Staat verhindert. Denn eineKartellbehörde besteht ja nicht; und wennman sie kreierte, was wäre es anders alsein neuer Staatsvertrag und der Wechselvon einem libertären zu einem ordolibe-ralen System? Diesen Schritt können Li-bertäre aber nicht vollziehen. Ihr Freiheits-verständnis scheint zu gebieten, jeglichestaatliche Ordo abzulehnen. Während dertraditionelle Staat als Bedrohung der Frei-heit gesehen wird, scheint ein solcher pri-vater Staat tolerierbar zu sein.Dies kann nicht nur mit der libertärenFurcht vor dem unersättlichen, alles ver-schlingenden Leviathan zu tun haben. IhrArgument, dass es, wenn es einen Staatgibt, dieser unaufhaltsam wachsen müsseund immer neue, freiheitseinschränkendeAufgaben an sich reissen würde, müssteim selben Sinne auch für private Staatengelten, sobald diese ein natürliches Mo-nopol haben. Denn warum sollte sich nichtauch dieser private Staat in einen ewighungrigen Leviathan verwandeln? DasArgument von der wachsenden Staats-quote allein kann also die unterschiedli-che Bewertung nicht begründen. Der Ur-sprung für die unterschiedliche Beurtei-lung muss an einem theoretisch funda-mentaleren Ort zu finden sein.

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2. Unterschiedliche Freiheits- undTheoriekonzeptionenEs lohnt sich, den libertären Freiheits-grundsatz näher zu betrachten. Dabei gehtes, um einem möglichen Missverständnisvorzubeugen, nur um die politische Frei-heit, nicht um Fragen der Willens- undHandlungsfreiheit. Auch wenn man die-se Unterscheidung beachtet, bleibt Frei-heit ein schwer zu definierender Begriff.Die Vielfalt liberaler Positionen ist nichtzuletzt durch abweichende Freiheitsdefi-nitionen und unterschiedliche Einbettun-gen des Freiheitsgrundsatzes in eine ethi-sche Theorie zu erklären. Das Freiheits-verständnis differiert insbesondere inzweierlei Hinsicht. Zum einen ist unklar,inwiefern Freiheit ein steigerbarer Wert istoder nicht. Zum anderen differeriert dieRolle des Freiheitsgrundsatzes je nachtheoretischem Umfeld. Man kann Freiheitzum einen als Wert bezeichnen, der in derkonsequentialistischen Bewertung vonHandlungsfolgen zu berücksichtigen ist.Oder man kann Freiheit in einer deonto-logischen Ethikkonzeption als Grundsatzauffassen, der jede Folgebewertung gera-de verbietet. Libertäre und Anarcholibera-le vertreten eine deontologische Ethik, inder Freiheit als nicht steigerbarer Begriffaufgefasst wird.In unserem Alltagsverständnis von Frei-heit ist es durchaus möglich, von freierenund unfreieren Menschen zu sprechen. Jemehr Handlungsoptionen der einzelne hat,je weniger Optionen dem Menschen durchZwang verschlossen sind, desto grösser istseine Freiheit. Dabei geht es, um ein mög-liches Missverständnis zu vermeiden,nicht um die Zahl der Handlungsoptioneninsgesamt, sondern um bedeutende Hand-lungsoptionen. Ohne diese Einschränkungkönnte ein totalitäres Land wie Albanien,

so Taylor (129 f.), das Religions- und Mei-nungsfreiheit unterdrückt, vielleicht alssehr freiheitlich gelten, nur weil seine Ver-kehrsregeln den Autofahrern alle Optio-nen lassen.Mill und Humboldt legen ihrem Werk einsolches perfektionistisches Freiheitsver-ständnis zugrunde. Gleichberechtigungder Frau (Mill), die wissenschaftliche Zi-vilisation (Humboldt) oder Bildung (Hum-boldt und Mill) werden begrüsst, weil sieFreiheit ermöglichen. Wohlfahrtsstaat(Humboldt) und Massenkultur (Mill) wer-den abgelehnt, weil sie zu einer Verküm-merung der Freiheit beitragen. SowohlMill wie Humboldt gehen dabei nicht ein-fach von unserem Alltagsverständnis vonFreiheit aus, sie verstehen Freiheit als Ent-wicklung und Ausübung höherer Fähig-keiten, dies kann hier allerdings nicht in-teressieren. Entscheidend ist, dass Libertä-re von einem ganz anderen Freiheitsver-ständnis ausgehen. Der Libertarismus –und dies gilt für die moderate Version desfrühen Robert Nozick wie für den Anar-choliberalismus – fordert nicht, dass Men-schen so viele (wichtige) Handlungsop-tionen wie möglich haben sollten. Alter-native Welt- und Gesellschaftszuständewerden also nicht danach bewertet, ob inihnen ein möglichst grosses Mass an Frei-heit verwirklicht wird. Es wird aus-schliesslich danach gefragt, ob und inwelchem Masse in den alternativen Wel-ten in die Entscheidungsbefugnis einge-griffen wird. Vielleicht ist diese Formu-lierung noch irreführend, weil sie eineFamilienähnlichkeit zum negativen Uitili-tarismus andeutet, nur dass es eben nichtum Leidensminimierung, sondern Mini-mierung von Freiheitsverletzungen geht.Der Libertarismus ist aber keine kon-sequentialistische Theorie. Denn kein

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Libertärer würde sagen, dass es erlaubtsein könnte, in die Entscheidungssphäreeines Menschen einzugreifen, um damitzu verhindern, dass die Freiheit dreierMenschen verletzt wird. Solche konse-quentialistischen Überlegungen, die einenmöglichst guten oder den am möglichstwenig schlechten Gesellschaftszustand zuermitteln suchen, stehen den Libertärenfern. Es geht ihnen, dies die bedeutendsteDifferenz zwischen Nozick und Rawls,nicht um Endzustände. Es geht dem Li-bertären darum, dass es nicht legitim ist,wenn Politik bestimmte Endzustände an-zustreben sucht und dabei in die Entschei-dungssphäre des einzelnen eingreift. Frei-heit ist im Rahmen einer deontologischenTheorie ein beschränkendes Prinzip (con-straint), das eine Folgebewertung geradeausschliesst und verbietet. Freiheit beziehtsich also immer auf den Schutz einer ge-gebenen Entscheidungssphäre.In der Literatur werden diese unterschied-lichen Freiheitskonzeptionen und die un-terschiedliche Einbettung des Freiheits-grundsatzes in eine umfassende normati-ve Theorie oft ignoriert. In der weit ver-breiteten Einführung in die politische Phi-losophie legt zum Beispiel der kanadischeSozialphilosoph Will Kymlicka (1990,1996; 98ff) eine ausführliche Kritik desLibertarismus vor. Aber wenn man genauhinsieht, argumentiert Kymlicka stets miteinem Mill’schen Freiheitsbegriff gegenden Libertarismus. Aber genau diesenFreiheitsbegriff, wo es um die Ermögli-chung von Entscheidungen und Tätigkei-ten geht, würden Libertäre gerade ableh-nen. Die Kritik läuft so an deren Theorienvorbei. Letztlich ist es nichts als ein stetesInsistieren: „Man hat den Liberalismusaber auch ganz anders verstanden!” – keinsehr einschlägiger Einwand gegen eine

Theorie. Bouillion (1997; 15ff , 36) irrtsich auf der anderen, libertären Seite,wenn er meint, klassische Liberale wie W.v. Humboldt oder Hayek hätten den Frei-heitsgrundsatz nicht strikt genug verwen-det und hätten ihren Liberalismus konse-quentialistisch aufgeweicht. Humboldtund Hayek verwenden den Freiheits-grundssatz sehr wohl strikt, nur eben nichtin einer deontologischen, sondern einerkonsequentialistischen Theorie. Eine de-ontologische Theorie lag ihnen beidengänzlich fern.Man kann natürlich sagen, dass es ihnendabei nicht um Freiheit im eigentlichen,im libertären Sinne geht. Bouillon (1997:116-121) vertritt diese Position. Den stei-gerbaren Begriff von Freiheit, der den Be-sitz von Handlungsoptionen betont, fasster sogar unter einem anderen Namen,nämlich als Macht. Dabei ist ihm sicher-lich rechtzugeben, dass der Besitz vonHandlungsoptionen Macht bedeutet.Wenn wir oben davon sprachen, dass einAngestellter einer Firma keine Handlungs-option hat, die Firmenpolitik zu ändern,kann dies vielleicht wirklich eher als eineSituation der Ohnmacht, denn als Unfrei-heit bezeichnet werden. Aber der Bouil-lionschen Definition der steigerbaren, po-sitiven Freiheit als Macht muss doch ent-gegengehalten werden, dass auch positi-ve Freiheit immer ein triadischer Begriffist, dass man von etwas x frei ist, um et-was y zu tun. Es geht also nicht nur umHandlungsoptionen. Die Rede von Reli-gionsfreiheit z.B. sagt nicht nur, dass Per-sonen die Optionen haben, eine eigene re-ligiöse Auffassung zu vertreten und zupraktizieren. Damit wird zugleich ja so-gar insbesondere zum Ausdruck gebracht,dass keine Person oder Institution an die-ser Handlung hindern darf (es sei denn,

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durch die religiöse Praxis werden Rechteanderer verletzt). Den Gedanken, ein klas-sischer Liberaler wie Mill hätte Freiheitmit Macht verwechselt, muss man so zu-rückweisen.Konsequentialistische und deontologischeKonzeptionen des Liberalismus2 zeichnennicht nur zwei unterschiedliche Freiheits-begriffe aus. Der Libertarismus fusst da-bei – als eine rigoristisch und konstrukti-vistische Moraltheorie – auf einem einzi-gen normativen Grundsatz, dem Freiheits-grundsatz. (vgl. allg. zu diesem Grundsatzund dem libertären Argument den kriti-schen Aufsatz von Kagan 1994). JederMensch hat den formalen Anspruch, dassseine Entscheidungssphäre respektiert undnicht von anderen verletzt wird. Aus die-sem Freiheitsgrundsatz folgt dann konse-quent, dass die Freiheit des einzelnen dortihre Grenze hat, wo die Freiheit des ande-ren beginnt. Auch das Provisoargument,das der Aneignung von Eigentum morali-sche Grenzen setzt, muss in diesem Sinneinterpretiert werden. Auch hier kann es,sollen nicht verdeckt konsequentialistischeÜberlegungen hineinkommen, nur darumgehen, dass durch Aneignung von Eigen-tum nicht Rechte anderer verletzt werden.3Diese sehr einfache Struktur und der Auf-bau einer politischen Theorie aus einemeinzigen normativen Grundsatz herausträgt wesentlich zur Anziehungskraft desLibertarismus bei. Die aprioristische Be-gründung und der empirieferne moralischeRigorismus mögen aber viele von diesenTheorien zurückschrecken lassen. Ob dieOption besteht, auf einen Apriorismus, seies naturrechtlicher oder transzendental-pragmatischer Spielart, zu verzichten, seijedoch dahingestellt. Radnitzky und Bouil-lion scheinen diesen Weg vorzuschlagen.Sie scheinen den einzelnen die Wahl des

moralischen Freiheitsgrundsatzes überlas-sen zu wollen. Aber warum sollte der ein-zelne einen einzigen moralischen Wertwählen und nicht neben Freiheit auch an-dere Werte wie Gleichheit und Gerechtig-keit? Und warum sollte der einzelne be-reit sein, das ganze Konstrukt einer aufdem Freiheitsgrundsatz aufbauenden li-bertären Welt zu befürworten? Der Ethik-skeptizismus nimmt dem Libertarismuseher Anziehungskraft, als dass er ihn be-reichert.Ob diese Anziehungskraft aber begründetist, sei dahingestellt. Dabei habe ich nichtnur hier nicht weiter auszuführende Zwei-fel bezüglich der jeweiligen Letztbegrün-dungsversuche, sondern auch in bezug aufdas libertäre Freiheitsverständnis. EineSchwäche dieser Position zeigt sich ins-besondere im Zusammenhang des hiererörterten Unterschieds zwischen priva-ten und real existierenden Staaten.

3. Freiheit und GlückDem libertären Freiheitsverständnis zufol-ge hat jeder Mensch eine Entscheidungs-sphäre, in die kein anderer eingreifenkann. Freiheit wird nicht erworben, erlerntoder errungen, man hat sie. Die Herrschaftüber die eigene Person steht jedem Men-schen als Menschen von Geburt an zu. Erhat damit die volle Selbstbestimmung überdas eigene Leben, den eigenen Körper unddaraus abgeleitet das eigene Eigentum. Li-bertäre Theorien gehen, wie in Abschnitt2 ausgeführt, nicht auf die Frage ein, wieman Freiheit des Menschen verbessernund steigern könnte. Es geht ihnen um dieFrage, wie die Freiheit des Menschen ge-schützt werden kann.Wenn man von diesem Freiheitsverständ-nis ausgeht, wäre aber zu fragen, inwie-fern eine durch Geburt und Herkunft de-

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finierte Staatsbürgerschaft überhaupt alseine Freiheitsverletzung verstanden wer-den kann. Diese Redeweise ist ja alles an-dere als selbstverständlich. Auch Libertä-re bezeichnen nicht jede Beeinträchtigungder Entscheidungssphäre als Freiheits-verletzung. Eine Verletzung von Freiheitliegt nur dann vor, wenn die Einschrän-kung dieser Handlungsoptionen intentio-nal herbeigeführt bzw. künstlich von Men-schen erzeugt wurde. Wenn ich gerade-aus laufen will, von anderen Menschenaber daran gehindert werde und sie michwider meinen Willen auf eine andere Rou-te zwingen, so kann dies als ein Eingriffin meine Freiheit bezeichnet werden. Inähnlicher Weise ist es Zwang, also Frei-heitsverletzung, wenn ich durch die Be-drohung mit einer Pistole um eine Geld-zahlung erpresst werde.Wie sieht es aber mit Staatsbürgerschaftaus? Staatsbürger eines real existierendenLandes werde ich durch die kontingentenUmstände meiner Geburt und meiner Her-kunft. Ich werde nicht wie Humes See-mann schanghait und in einen Staat hin-eingetragen, ich werde als Bürger einesStaates geboren. Von daher liegt es nahe,Staatsbürgerschaft mit anderen kontingen-ten Bedingungen des eigenen Lebens zuvergleichen: Wenn eine Person im Jahre1800 geboren wurde, hätte sie bestimmteHandlungsoptionen nicht gehabt, die ichdurch meine späte Geburt erhalten habe.Sie hätte nicht mit Flugzeugen fliegen kön-nen und wäre gezwungen gewesen, zuFuss, zu Pferde oder mit der Kutsche zureisen. Sie hätte keinen Computer benut-zen können, sondern hätte mit dem Feder-kiel vorlieb nehmen müssen usw. Ob einePerson etwas tun kann oder nicht, wirdweiterhin davon abhängen, ob sie in ei-nem Entwicklungsland oder in einer In-

dustrienation geboren wurde, ob die El-tern reich oder arm sind, auch ob sie aufdem Land oder in der Stadt leben. Allge-meiner gesprochen, der Entscheidungs-spielraum jedes einzelnen wird dadurchmitbestimmt, wo und wann, als wessenKind er geboren wurde. Diese kontingen-ten Bedingungen der eigenen Geburt stel-len jedoch keinen Eingriff in die Freiheitder betroffenen Person dar, sie sind Fra-gen des Glücks.4 Analoges gilt für physi-sche Merkmale wie die Hautfarbe, für dasGeschlecht oder die genetischen Disposi-tionen. Wenn aber die biologischen Vor-aussetzungen und Bedingungen der Iden-tität keine Freiheitsverletzungen darstel-len, muss dies auch für deren kulturelleBedingungen und Voraussetzungen gelten.Auch die von Kindheit an erlernten Kon-ventionen, die mich prägende Ethnizität,insbesondere die in der Kindheit erlernteSprache beeinflussen Umfang und Inhaltmeiner Entscheidungssphäre. Es wäre je-doch absurd zu sagen, dass es eine Frei-heitsverletzung darstellt, dass meine Mut-tersprache Deutsch ist. Genauso wie mei-ne genetische Ausstattung und mein Ge-schlecht ist meine Sprachzugehörigkeiteine Frage des Glücks. Aber die Staats-zugehörigkeit unterscheidet sich jedochnicht prinzipiell von anderen kulturellenBedingungen meiner Identität. Ob ich indiesem oder jenem Staat geboren bin, be-stimmt zwar meine Entscheidungssphäre,aber sie verletzt sie nicht. Staatsbürger-schaft ist wie vieles andere eine Frage desGlückes. Eine Verletzung der Freiheitkönnte allenfalls vorliegen, wenn eine Per-son daran gehindert wird, die durch Ge-burt erworbene Staatsangehörigkeit zuverlassen. Aber auch hier liegt keine prin-zipielle Differenz zu anderen Faktoren vor.Denn es ist ja auch fraglich, ob man ge-

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hindert werden darf, eine neue Religionanzunehmen oder eine andere Sprache zuerlernen.Vor diesem Hintergrund scheint die wer-tungsmässige Unterscheidung zwischenprivaten und real existierenden Staatenwenig plausibel. Es scheint nicht nur einereine Frage des Glücks, in welchen realexistierenden Staat man als Bürger gebo-ren wird, es ist auch eine Frage des Glücks,ob man in einem Land geboren wird, woein real existierender oder ein privaterStaat besteht. Aber es ist fraglich, ob Li-bertäre diese Sicht wirklich akzeptierenkönnen. Der Bezug zum Glück ist näm-lich in anderer Hinsicht mit Schwierigkei-ten verbunden. Bisher haben wir festge-stellt, dass persönliche Eigenschaften wieallgemeine physische Beschaffenheit, Ge-schlecht, Intelligenz oder Sprache von Li-bertären gänzlich oder zu einem grossenTeil als eine Frage des Glücks betrachtenwerden müssten. Dasselbe gilt für die Fra-ge, ob man das Kind reicher oder armerEltern ist. Durch das Glück Benachteilig-te können daher keine Ansprüche an dieGesellschaft erheben, sondern haben ge-nau denselben Anspruch wie alle ande-ren, nämlich jenen, dass ihre wie auchimmer beschaffene Entscheidungssphärenicht verletzt wird. Es gibt also keine be-vorzuge Behandlung von Behindertenoder sozial Benachteiligten. Soweit bewe-ge ich mich wohl noch im Rahmen libertä-rer Theorien.

Aber an einer anderen Stelle erweist sichdieser Rahmen als brüchig. Wie bei denoben aufgeführten Faktoren könnte esauch eine Frage des Glücks ein, ob manals Kind freier Menschen oder als Sklavegeboren ist. Libertäre müssten also davonreden, dass es geborene Sklaven gibt, und

müssten einräumen, dass diese Menscheneben Pech gehabt hätten. Diese Möglich-keit ist jedoch mit zwei Nachteilen ver-bunden. Erstens wären Libertarismus undSklaverei miteinander vereinbar, was si-cher nicht für die libertäre Position sprä-che. Unsere Intuitionen könnten natürlichauf einem Irrtum und Vorurteilen beruhen,aber unsere Ablehnung der Sklaverei istein so tiefes und für unsere ganze Moralso grundlegendes Urteil, dass dies über-raschen würde. Zweitens wäre es ein Ein-geständnis, dass die unterschiedliche Be-urteilung von privaten und real existieren-den Staaten auf einem Irrtum beruhte.Staatsangehörigkeit wäre eine Frage desGlücks. Daraus folgt freilich, dass Liber-täre neben der Sklaverei auch jeglicheDiktatur und Tyrannei dulden müssten, indie Menschen hineingeboren werden. Li-bertäre haben an dieser Stelle zwei Mög-lichkeiten, diese unliebsamen Konsequen-zen zu vermeiden:

(i) Libertäre könnten sagen, dass jederMensch bestimmte Entscheidungs-optionen unveräusserlich besitzt undnicht verlieren kann. Zu diesen unver-äusserlichen Freiheiten gehören aufjeden Fall die Selbstbestimmung überdas eigene Leben und den eigenenKörper. Jeder Mensch ist von Geburtan frei und kann diese Freiheit, d.h.sein Recht auf Selbstbestimmungüber das eigene Leben und Eigentum,niemals verlieren. Sklaverei wäredemnach niemals legitim, und nie-mand könnte als Kind von Sklavengeboren werden. Analog könnte auchdie zwangsweise Staatszugehörigkeitmöglicherweise einen Verstoss odereine Missachtung eines unveräusserli-chen Rechtes darstellen.

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(ii) Libertäre könnten sagen, dass Skla-verei auf früheren Verletzungen derFreiheit beruhte und deshalb illegitimwären. Damit würde – im Gegensatzzu (i) – die Möglichkeit eingeräumt,dass sich Personen freiwillig in dieSklaverei verkaufen können und ei-nige Menschen das Pech haben könn-ten, als Sklaven geboren zu werden.Sklaverei, die auf früherem Unrechtberuht, müsste jedoch abgelehnt wer-den. Analoges könnte für die Bürgerreal existierender Staaten gelten. Siewären nachgeborene Opfer eines frü-heren Unrechts.

In den folgenden beiden Abschnitten wer-de ich die Möglichkeiten (i) und (ii) prü-fen.

4. Libertarismus und unveräusserlicheRechteWenn es unveräusserliche Rechte gibt,was zunächst nicht in Frage gestellt wer-den soll, zählt das Selbstbestimmungsrechtüber das eigene Leben und den eigenenKörper sicherlich zu den aussichtsreich-sten Kandidaten. Kann das Recht, staatli-chen Regelungen und staatlicher Autori-tät zuzustimmen, aber in dem selben Sin-ne ein unveräusserliches Recht sein? Staats-bürgerschaft verletzt das Selbstbestim-mungsrecht über das eigene Leben undden eigenen Körper wohl nicht in demGrade, wie es Sklaverei tut. Sicherlich istdas Leben in einem Staat dadurch gekenn-zeichnet, dass dem einzelnen bestimmteHandlungen aufgezwungen werden undandere durch Zwang verboten werden.Aber ähnliches gilt auch für Sprache, Re-ligion und Konventionen. Der Staat istnicht die einzige Zwangsmacht und nichtder einzige Erzieher unseres Lebens.

Selbst wenn es um die Strenge und denEinfluss auf unser Leben geht, ist die Re-ligion ein vergleichbarer Machtfaktor inunserem Leben. Und genauso wie im Staathängt auch meine Religion in weitem Gra-de davon ab, wann und wo ich geborenwurde. Ich kann einer Religion zwar ent-kommen, kann aus einer Kirche austreten– aber diese Kosten waren historisch nichtimmer geringer als die persönlichen Ko-sten einer Auswanderung oder einer Ent-lassung aus der Staatsbürgerschaft. Mög-licherweise hat jeder Mensch ein Freiheits-recht, dass er seine Staatsangehörigkeitwechseln kann. Aber er hat kein An-spruchsrecht, nicht als Staatsbürger gebo-ren zu werden. Wenn der Libertäre dieerste Möglichkeit wählt, hat er somit kei-ne Lösung für unser anfängliches Pro-blem. Die unterschiedliche Bewertungprivater und real existierender Staaten istnicht aufrechtzuerhalten.Kann der Libertäre auf diesem Weg aberzumindest den Makel abwenden, die Skla-verei tolerieren zu müssen? Auch dieswird er nicht unbeschwerten Herzens tunkönnen. Betrachten wir das Argument vonden unveräusserlichen Rechten nämlichgenauer: Die These, dass das Selbstbe-stimmungsrecht über das eigene Lebenund den eigenen Körper unveräusserlichist, hat eine gewisse Anfangsplausibilität.Wir sind es gewohnt, hier von einem un-veräusserlichen Recht zu sprechen. Aberdie Begründung dieser These ist keines-wegs einfach. Der Blick in die Klassikerder politischen Theorie zeigt zudem, dassdiese These nur unter Beanspruchung vonanderen Annahmen möglich ist, die nurdie wenigsten unterschreiben würden. AlsUrheber der Lehre von den unveräusser-lichen Rechten gilt im allgemeinen JohnLocke. Man muss hier, wie der amerika-

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nische Locke-Experte John A. Simmons(1993: 115f) anmahnt, jedoch vorsichtigsein. Locke spricht sehr wohl davon, mankönne das Recht auf das eigene Lebennicht veräussern. Daraus folgt bekanntlichdas Widerstandsrecht ebenso wie die The-se, man könne sich nicht freiwillig in dieSklaverei verkaufen. Aber entscheidendist hier, wieso man dieses Recht nach Lok-ke nicht veräussern kann. Die Entschei-dung über Leben und Tod liegt nach Lok-ke nämlich nicht in der Bestimmungs-gewalt des Menschen. Das eigene Lebengehört nicht dem einzelnen Menschen,sondern Gott (und damit ist dem Men-schen Suizid z.B. untersagt). BestimmteRechte des Menschen sind also deshalbunveräusserlich, weil sie dem Menschenniemals zukämen. Diese Sicht wird vonheutigen Libertären wohl kaum geteilt.Wenn sie von unveräusserlichen Rechtenreden wollten, müssten sie davon reden,dass es Rechte gibt, die jeder Mensch be-sitzt, die er aber nicht aufgeben kann.Ohne eine transzendente Macht wie Gottoder eine Pflicht gegenüber der GattungMensch, der der einzelne Mensch nach-kommen muss, ist diese Rede aber nichteinsichtig.Libertäre würden dieser Kritik vielleichtzustimmen. Genauso wie sie einräumenwürden, dass man das eigene Eigentumverschenkt oder Organe des eigenen Kör-pers verkaufen kann, könnten sie davonsprechen, dass auch das Selbstbestim-mungsrecht über das eigene Leben an eineandere Person abgetreten werden kann.Libertäre würden also vielleicht einräu-men, dass sich ein Mensch in die Sklave-rei verkaufen darf. Der Libertäre hat dannweiter die Möglichkeit (i). Das Recht aufSelbstbestimmung müsste er nur in einemschwächeren Sinne konzipieren, so dass

ausschliesslich die Geburt als Sklave aus-geschlossen wird. Libertäre müssten nurvertreten, dass jedem neugeborenen Men-schen als Menschen ein Recht auf Selbst-bestimmung zukommt. Was der einzelneaus seinem Leben macht, ob er ein freierMensch bleiben will oder ein Sklave wird,ja, ob er überhaupt weiterleben will odernicht, ist dann alles eine Frage der eige-nen Entscheidung. Wenn der Libertäre die-se Position vertreten will, steht er jedochvor einem Problem. Es geht hier nichtmehr allein um den Schutz einer wie auchimmer gegebenen Entscheidungssphäre,sondern darum, dass jeder Mensch alsMensch das Recht hat, bestimmte (wich-tige) Entscheidungen über das eigene Le-ben selbst zu treffen. Das heisst jedoch,dass der Libertäre von einer Zwang ab-wehrenden, negativen Freiheitskonzeptionzu einer anderen Freiheitskonzeption über-gehen muss, in der wichtige Handlungs-optionen geschützt werden. Wenn derLibertäre dies einräumen würde, drängtesich sofort die Frage auf, welche wichti-ge Handlungsoptionen dem Menschen alsMenschen denn zukommen müssten. Dasheisst, mit der Einräumung eines unver-äusserlichen Rechts betritt der strikte Li-bertäre eine schlüpfrige Bahn, die zu ei-nem positiven Freiheitsbegriff führt undzu Anspruchsrechten des einzelnen gegen-über der Gesellschaft. Dieser schlüpfrigenBahn wollen und müssen Libertäre aberaus dem Wege gehen. Ein Libertarismuswird so auf die Konzeption unveräusser-licher Rechte verzichten bzw., er kann sieallenfalls in dem Sinne ihres ErzvatersJohn Locke auffassen, dass jene Rechteunveräusserlich sind, die ein anderer be-sitzt. Für den Libertären, der Libertärerbleiben möchte, bleibt also nur die Mög-lichkeit (ii).

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5. Die Illegitimität real existierenderStaatenDie Ablehnung real existierender und To-lerierung privater Staaten könnte daraufzurückzuführen sein, dass kein real exi-stierender Staat auf die Zustimmung derBürger zurückgeht. Demnach könnte sichjeder freiwillig einem Staat unterordnen,wie man sich freiwillig in die Sklavereiverkaufen darf. Genau dies geschähe beiprivaten Staaten. Denn der Vertragsab-schluss mit einem privaten Staat ist letzt-lich eine schwache Variante, sich selbstzu verkaufen. Das bedeutete jedoch fürdie Nachkommen dieser Firmengründer,dass ihre Existenz in diesem oder jenemprivaten Staat genauso auf Glück beruhtewie ihre genetische Ausstattung, ihr so-zialer Status oder ihr kulturelles Erbe. AlleStaaten, die nicht auf Zustimmung, son-dern auf Usurpation und Eroberung zu-rückgehen, wären dagegen illegitim.Genau dies trifft aber, so der libertäre Vor-wurf, auf real existierende Staaten zu. Derlibertäre Vorwurf wäre also nicht, dassStaatszugehörigkeit per se illegitim sei,sondern nur, dass die Bürgerschaft in denderzeit real existierenden Staaten illegitimsei, weil diese historisch auf illegitime Un-terwerfungen zurückgehen. Gegen dieseThese, in der Wandel und Geschichte nunauch in die libertären Theorien Einzughält, sind jedoch einige Einwände mög-lich:Ich werde zunächst die Konsequenzen fürdie Sklaverei betrachten, dann jene für dieStaatsbürgerschaft. Diese Möglichkeit (ii)verfolgende Position scheint den Vorteilzu haben, dass Libertäre die historischeSklaverei verurteilen können und somitunseren Intuitionen näher kommen. Diehistorische Sklavenhaltung beruhte tat-sächlich nicht auf freiwilligen Verträgen,

mit denen sich Personen an andere ver-kauften. Die Sklaven waren Opfer vonEntführungen und der Kriegsgefangen-schaft. Was wäre aber, wenn sich der eineoder andere Sklave doch freiwillig in dieSklaverei verkaufte? Hiesse dies nicht,dass es unter den Millionen von histori-schen Sklaven einige geben müsste, dierechtmässig Sklaven waren und derenKinder rechtmässig als Sklaven geborenwurden? Diese Position, die ein histori-sches Unrecht betont, hat also schwerwie-gende Konsequenzen für die Rechtssicher-heit. Denn wie soll im Einzelfall ermitteltwerden, wie die ursprüngliche Verskla-vung erfolgte? Auch bei einer allgemei-nen Sklavenbefreiung ergäbe sich ein Pro-blem. Denn es bestünde stets die Gefahr,dass ein legitimes Eigentumsrecht einigerSklavenhalter verletzt werden könnte.Nähme man Eigentumsrechte ernst – unddies tun Libertäre ohne Zweifel – , bedürf-te es wohl jahrzehntelanger Einzelfallab-klärungen, bevor auch nur ein Sklave be-freit werden könnte. Wären die Vereinig-ten Staaten 1865 ein libertäres Land ge-wesen, dauerte die Sklavenbefreiung wohlnoch an.Eine vergleichbare Rechtsunsicherheit er-gäbe sich für bei der Beurteilung real exi-stierender Staaten. Vielleicht gehen eini-ge Staaten ja auf eine rechtmässige Staats-gründung zurück und wären damit natür-liche Monopole. Sicherlich ist diese An-nahme unplausibel. Aber wer sagt, dassdies nicht doch auf den einen oder ande-ren Staat zutreffen könnte? Vielleichtwurden sie ja einst in abgelegenen Berg-tälern durch freiwillige Zustimmung insLeben gerufen und sind durch Glück allerUsurpation und Eroberung durch fremdeArmeen und Usurpatoren entgangen. Li-bertäre könnten vielleicht sagen, dass dies

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in so hohem Masse unwahrscheinlich sei,dass man diesen Fall ignorieren müsste.Aber selbst wenn man dies zugesteht, be-friedigt diese Position nicht.Denn es stellt sich doch die Frage, wiesodie Umstände einer ursprünglichen Staats-gründung für Heutige überhaupt relevantsein sollen. Wieso sollte sich Illegitimitätvon Generation zu Generation vererben?Nehmen wir wiederum Humes Seemann-Beispiel zum Ausgang. Sicherlich ist demschanghaiten Seemann Unrecht zugefügtworden. Er wurde schlafend auf das Schiffgetragen und hatte keine Möglichkeit, eszu verlassen. Wie sähe es aber aus, wennnicht nur der Seemann auf dem Schiffbliebe, sondern auch seine Kinder undKindeskinder auf dem selben Schiff ar-beiten und leben würden? Ich bezweifle,dass man so einfach sagen kann, sie seienunfreiwillig und wider ihren Willen aufdem Schiff. Dies wird noch offensichtli-cher, wenn man das Beispiel aus unsererWelt in eine andere überträgt, in der dieErde gänzlich von Meeren bedeckt ist undauf der grosse menschliche Gemeinschaf-ten auf gewaltigen Schiffen leben. Gehenwir auch hier davon aus, dass ein Seemanneinst schlafend auf eines dieser Schiffegetragen wurde; sagen wir weiter, dass erdort – wider Willen – sein weiteres Lebenverbrachte, eine Familie gründete undKinder bekam. Seine Kinder hat keineUnrechtshandlung auf das Schiff ge-bracht. Sie wurden dort geboren, weil ihreEltern auf diesem Schiff lebten, und siehaben nie etwas anderes gesehen als die-ses Schiff. Je mehr Generationen die er-ste Schanghaiung zurückliegt, desto stär-ker werden sich die Kinder mit demSchicksal des Schiffes identifizieren, de-sto mehr werden sie sich dessen Ziele zueigen machen und desto mehr werden sie

selbst nach verantwortungsvollen Füh-rungspositionen streben und sich alsgleichberechtige Mitglieder der Crew be-greifen. Je weiter aber man in der Genera-tionenfolge voranschreitet, desto unplau-sibler erscheint die Betonung des einsti-gen Unrechts. Könnte man wirklich sa-gen, dass ein Kapitän eines Schiffes un-rechtmässig und gezwungen auf einemsolchen Schiff fährt, nur weil ein Urahndereinst schanghait wurde und schlafendauf das Schiff getragen wurde?Man mag vielleicht einwenden, auf die-sem Weg könnte man auch das Schicksalder Sklaven rechtfertigen. Aber diesstimmt nicht. Denn es besteht ein wichti-ger Unterschied: Sklaven werden wichti-ge und elementare Entscheidungsmöglich-keiten vorenthalten. Sie können nicht wäh-len, wann und wen sie heiraten; sie habenkeine Möglichkeit, die Ausbildung unddas Schicksal der eigenen Kinder zu len-ken; sie können das eigene Tätigkeitsfeldnicht selbst bestimmen, müssen gewahrsein, dass sie in jedem Moment ihres Le-bens durch eine Laune ihres Herrn ausihrem Wohnort, ihrer Familie, ja aus ih-rem Leben selbst fortgerissen werden.Egal wie lange ein Familienverband in derSklaverei lebte, jede Generation muss je-weils von Neuem grausam spüren, was esheisst, ein Sklave sein. Sklaverei nimmtdem einzelnen jene wichtigen Entschei-dungsoptionen, ohne die kein menschli-ches Leben auf Dauer gelingen kann. Diesist aber weder bei den obigen Seemanns-familien, noch bei den Bürgern eines realexistierenden Staates der Fall. Ja, die Exi-stenz in der Gemeinschaft einer Schiffs-crew oder mit anderen Bürgern des Staa-tes ist für das Treffen und Verwirklichendieser wichtigen Entscheidungen im Ge-genteil sogar hilfreich!

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So verstösst Sklaverei gegen elementareRechte des Menschen. Im Falle der Staats-bürgerschaft kann nur dann von Unrechtgesprochen werden, wenn Menschendurch Gesetz und Zwangsmittel darangehindert werden, den Staat zu verlassen,um eine andere Staatsbürgerschaft anzu-nehmen. Auch in unserem Beispiel derSchiffscrew könnte man sagen, dass je-der das Recht hat, vom Schiff abzuheuern.Aber dieses – eher dem Recht auf freieBerufswahl analoge Recht – berührt we-niger wichtige und bedeutsame Hand-lungsalternativen als die Sklaverei. Sokann man wohl darüber streiten, ob undwie ein Freiheitsrecht auf Staatsbürger-schaft und freie Berufswahl formuliertwerden soll, aber nicht darüber, ob es einRecht geben sollte, kein Sklave zu sein.Der eigentliche Unterschied zwischenSklaverei und Staatsbürgerschaft wird alsonur dann augenfällig, wenn man den Blickvon der negativen Freiheit hinaus auf eine(recht verstandene) positive Freiheit wen-det. Die blosse Beschränkung auf einenlibertären, negativen Freiheitsbegriff ver-schleiert diesen Unterschied nur. Denndann müssten einige geborene SklavenSklaven bleiben und sie hätten eben dasPech, dass ihre Entscheidungssphäre der-art begrenzt ist, dass weder die Entschei-dungen über Wohnort, Tätigkeit, Familien-gründung, Erziehung der Kinder und ei-genen Tod enthalten sind. Und alle Bür-ger eines real existierenden Staates müss-ten sich in ihrer Freiheit verletzt fühlen,nur weil in historischen Zeiten das Miss-geschick geschah, dass ihre Vorfahren statteinen privaten Staat zu schaffen, die Er-oberung und Usurpation durch andereduldeten. Wäre damals allerdings ein pri-vater Staat gegründet worden, hätte diesfür das Leben der Heutigen wohl keine

weitere Bedeutung. Deren Leben wärewohl nicht besser, aber auch nicht schlech-ter als das jetzige.

ZusammenfassungDer Artikel nimmt seinen Ausgangspunktbei einer auf den ersten Blick verblüffen-den wertungsmässigen Unterscheidung,die Libertäre zwischen den real existie-renden Staaten einerseits und privaten Fir-men andererseits vornehmen, die als na-türliches Monopol die derzeitigen Staats-aufgaben betreiben. Werden real existie-rende Staaten abgelehnt, würden Libertäreeinen solchen „privaten Staat” tolerieren.Diese Unterscheidung fusst zunächst aufeinem rein synchronen Ausgangspunkt,der Geschichte ignoriert und eine Genera-tionenfolge wie bei Schmetterlingen undSeidenraupen voraussetzt. Wenn man vonMenschen ausgeht, die – wie bei Men-schen nicht anders möglich – in einen hi-storisch gewachsenen Staat hineingeborenwerden, so müsste der Libertäre Staats-angehörigkeit wie andere kontingente Fak-toren der Geburt als eine Frage des Glücksverstehen. Um diese Sicht zu verhindern,die auch deshalb problematisch ist, weilauch in Sklaverei Geborene Sklaven blei-ben müssten, hat der Libertäre zwei Mög-lichkeiten. Die Wahl der Staatsbürger-schaft kann zu den unveräusserlichenRechten gehören, die jedem Menschen vonGeburt an zukommen. Oder aber dieStaatsbürgerschaft in real existierendenStaaten gälte deswegen als illegitim, weildiese Staaten nicht durch Übereinkunft,sondern durch Usurpation entstanden. Dieerste Möglichkeit habe ich u.a. deswegenabgelehnt, weil ein Abwehrrecht gegenStaatsbürgerschaft nicht plausibel ist. Zu-dem habe ich darauf verwiesen, dass dieRede von unveräusserlichen Rechten die

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libertäre Position insofern aufweicht, weilsie neben negativer Freiheit auch positiveFreiheiten einbezieht. Die zweite Möglich-keit habe ich zurückgewiesen, weil einlange zurückliegendes, anderen Genera-tionen zugefügtes Unrecht keineswegs denUnrechtscharakter heutiger Staaten be-gründet. Von einer bewertungsmässigenUngleichbehandlung privater Staaten undreal existierender Staaten ausgehend, habeich so nachgewiesen, dass der Libertaris-mus entweder praktisch unplausible Fol-gen hat, er fragwürdige Schlüsse aus histo-rischen Begebenheiten zieht oder er nichtin der Lage ist, die Beschränkung auf ei-nen negativen Freiheitsbegriff aufrechtzu-erhalten. Ein strikter Libertarismus scheintkaum in der Lage, diese Theoriedefiziteabzubauen.Literatur:Barry, Norman (1986), On Classical Liberalism

and Libertarianism, Houndsmills & Lon-don: Macmillan

Bouillion, Hardy (1997), Freiheit, Liberalismusund Wohlfahrtsstaat. Eine analytischeUntersuchung zur individuellen Freiheitim Klassischen Liberalismus und imWohlfahrtsstaat, Baden Baden: Nomos.

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Kagan, Shelly (1994), The Argument fromLiberty, in: Jules L. Coleman & AllanBuchanan, eds., In Harm’s Way, Essays

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Kavka, Gregory S. (1991), An Internal Critiqueof Nozick’s Entitlement Theory, in:J.Angelo Corlett, eds., Equality and Li-berty, Analyzing Rawls and Nozick,Houndmills and London: Macmillan,298-310

Kymlicka, Will (1990, 1996), ContemporaryPolitical Philosophy, An Introduction,Oxford: Oxford UP 1990; dtsch: Politi-sche Philosophie heute. Eine Einführung,Frankfurt: Campus 1996, 98ff.

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Anmerkungen:1 Komplizierter wird der der Fall, wenn die

abschreckende Wirkung eines Heereseinbezogen wird. Denn von deren Schutzkann man Personen sehr schlecht aus-schliessen.

2 Ihnen zur Seite stehen als Drittes nochdie liberalen Prozesstheorien, die sowohleine normative Bewertung von Endzu-ständen wie deontologische Prinzipienablehnen. James Buchanan oder der späteJohn Rawls gehören diesem Theorietypan, der teilweise auch als politischer Li-beralismus bezeichnet wird. Vgl. zu ei-ner Systematisierung der liberalen Theo-rietradition: N.Barry (1986)

3 Vgl hierzu auch Nozick (1974), sowiekritisch hierzu Kavka (1991). De Jasay(1991, 1995: 95ff) will sich deshalb al-lein auf den Prioritätsgrundsatz („Werzuerst kommt, mahlt zuerst“) beschrän-ken. Dieser Grundsatz regulierte die An-eignung von Eigentum dann, wenn kei-ne Rechtsansprüche anderer vorliegen.Dieser Schritt ist konsequent, aber nichtzwingend geboten.

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FragestellungSozialer Ausgleich als Rechtfertigungdes Staates. Daß der Staat berechtigt sei,in das gesellschaftliche und wirtschaftli-che Leben der Bürger einzugreifen, ist einZugeständnis, das eng verknüpft ist mitder Behauptung, der Staat würde (odersolle) den sozialen Ausgleich schaffen.Unabhängig davon, ob eine Berechtigungzum Eingriff moralisch überhaupt gege-ben ist, stellt sich die Frage, ob denn dersoziale Ausgleich durch staatliche Maß-nahmen tatsächlich erreicht werde oderwenigstens erreicht werden könne. Ob so-zialer Ausgleich erreicht werde, muß em-pirisch beantwortet werden. Ob der Aus-gleich (wenn er denn empirisch gesehennicht stattfindet) im Prinzip mit staatlichenMitteln erreicht werden könne, muß dieTheorie entscheiden.

„Spätetatismus“. Im vorliegenden Papiergebe ich eine Übersicht über Erkenntnis-se, die gestellten Fragen empirisch undtheoretisch zu beantworten. Der Schwer-punkt liegt auf der Empirie. Da in der Tatfür fast alle Maßnahmen, die vorgeschla-gen werden, um durch Staat den sozialenAusgleich zu schaffen, bereits empirischeDaten vorliegen, spreche ich vom „Spät-etatismus“: Es können wohl kaum mehrMaßnahmen ergriffen werden, die ihrerArt nach nicht schon durch Erfahrung zuüberprüfen sind.

Einschränkung des Gegenstandes derUntersuchung. Im Zuge der Globali-sierung sowohl der Weltmärkte als auch

der Staatstätigkeit ist es wenig sinnvoll,nach dem sozialen Ausgleich nur auf na-tionaler Ebene zu fragen. Gleichwohl be-schränke ich mich im wesentlichen auf dieUntersuchung der Maßnahmen des Staa-tes, die wir in Deutschland (Westeuropaund Amerika) zur Zeit vorfinden. Hinwei-se auf die Wirkungen von Staatstätigkeitin der sogenannten Dritten Welt sowie aufdie Entwicklungshilfe gebe ich nur amRande. Sie bedürften einer eigenen Un-tersuchung.

Was ist Armut?Die prinzipiellen Bedingungen der Ar-muts-Diskussion. Der Wunsch nach so-zialem Ausgleich kann nur unter zweiBedingung entstehen:A. Es gibt Menschen, deren soziale Lageunterdurchschnittlich ist. Diese Menschenwerden „Arme“ genannt.B. Es besteht die Ansicht, die Menschenmit einer überdurchschnittlichen sozialenPosition seien moralisch zu einem Aus-gleich verpflichtet. Die zweite Bedingunginteressiert im Zusammenhang mit mei-ner Fragestellung nicht.

Erklärungen der Ursachen der Armut.Die Erklärungen für die Entstehung derArmut lassen sich, grob gesehen, in dreiGruppen einteilen:

1. Armut als individuelles Schicksal:Arme seien körperlich oder geistig schwa-che Menschen, die aufgrund unterdurch-schnittlicher Leistungsfähigkeit oder Lei-stungsbereitschaft geringere oder gar kei-

Stefan BlankertzStaat macht arm

Was die Armen arm macht

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ne Einkommen erzielen. Wenn dies zu-trifft, können sich diese Menschen nuraufgrund von freiwilligen Spenden („Al-mosen“) oder staatlichen Maßnahmen er-halten. Zu untersuchen wäre dann, unterwelchem System sie besser gestellt wä-ren. Obwohl diese Erklärung für Einzel-fälle sicherlich zutreffend sein kann, istsie für die Armut von Schichten oder Re-gionen nicht überzeugend. Wenn in derVolksrepublik China Hunger herrscht,während die Auslandschinesen in der gan-zen Welt zu den Erfolgsmenschen zählen,zeigt dies, daß keine rassischen, sondernwirtschaftliche Bedingungen zu Armutführen. Wenn es in Nordkorea nichts zuEssen gibt, während Südkorea prosperiert,folgt daraus, daß Armut keine geographi-schen oder geschichtlichen Ursachen hat.

2. Armut als soziales Schicksal, Varian-te A: Arme seien Opfer des Kapitalismus.Wenn dies wahr wäre, müßte man konse-quent die Abschaffung des Marktes for-dern, nicht sozialen Ausgleich. Diese Er-klärung brauchen wir nicht genauer zu un-tersuchen, weil sie offensichtlich empi-risch widerlegt ist. Die gigantischen Ex-perimente mit der Abschaffung des Mark-tes in Faschismus und Sozialismus habenElend in unvorstellbarem Ausmaß verur-sacht. Die Hungerkatastrophen in derUdSSR, in China, in Äthiopien und inNordkorea sprechen eine deutliche Spra-che.

3. Armut als soziales Schicksal, Varian-te B: Arme seien Opfer des Staates. DieseThese verfolge ich im vorliegenden Pa-pier als Alternative zum gescheitertenstaatssozialistischen Ansatz. Eine solcheErklärung macht es absurd, sich an denStaat wenden zu wollen, um sozialen Aus-

gleich erreichen zu sollen. Es gibt zwarviele Einzeluntersuchungen, die die The-se von der politisch produzierten Armutnahelegen, gleichwohl noch keine zusam-menhängende Theorie. Die Ideologie, daßder Staat soziale Unterschiede ausgleicheoder dies wenigstens tun solle, ist tief ver-wurzelt. Mit meiner Übersicht versucheich, die Entwicklung der Theorie voran-zutreiben, um die Ideologie anzugreifen.

Probleme der Definition von Armut.Die Definition von Armen als Menschenmit „unterdurchschnittlichem Sozial-status“ ist sehr vage und kann sogar miß-braucht werden. Der „Durchschnitt“ mußsich auf eine bestimmte Region beziehen.Das durchschnittliche Einkommen inDeutschland ist höher als das in der Tür-kei. Eine Maßnahme, die versuchte, hiervollkommene Gleichheit zu schaffen, wür-de die Deutschen arm, die Türken abernicht reich machen. Reichtum, der verteiltanstatt geschaffen wird, verfliegt.

Mißbrauch der Armuts-Definition.Eine am Durchschnitt orientierten Defi-nition der Armut kann so mißbraucht wer-den: Bevölkerungsgruppen, die im natio-nalen Vergleich unter dem Durchschnittliegen, werden zum Gegenstand von Maß-nahmen des Ausgleiches gemacht, auchwenn sie dies ablehnen. Die Umsiedlungvon „armen“ Indianer (z.B. im sozialisti-schen Nicaragua) oder die Sanierung vonangeblichen „Slums“ in den industriellenZentren stößt bisweilen auf erbitterten Wi-derstand. Die betroffenen Menschen se-hen sich nicht als „arm“ und die Maßnah-men des Ausgleiches empfinden sie alsBevormundung.

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Eine andere Armuts-Definition. Auf deranderen Seite ist es klar, daß es die Ge-sundheit eines Menschen gefährdet, wenndie Verfügung über Nahrung und Schutzunter ein gewisses Minimum sinkt.

Relative und absolute Armut. Aufgrunddieser Überlegungen schlage ich vor, zu-nächst zwischen absoluter und relativerArmut zu unterscheiden. „Absolute Ar-mut“ bedeutet, daß das Leben des betrof-fenen Menschen bedroht ist. „Relative Ar-mut“ bedeutet, daß der betroffene Menschüber weniger Güter verfügt als in seinergeographischen Region durchschnittlichüblich ist.

Präzisierung des Gegenstandes der Un-tersuchung. Im folgenden untersuche ich,in welcher Weise die Tätigkeit des Staa-tes das Leben der Menschen im unterenDrittel einer beliebigen, aber differenzier-ten industriellen Gesellschaft beeinflußt.Wenn die negativen Einflüsse des Staatesein gewisses Maß übersteigen, kann ausrelativer Armut absolute Armut werden.Aus dem unteren Drittel wird dann dieMehrheit der Bevölkerung.

Was ist Staat?Definition des Staates. Meiner Untersu-chung liegt die klassische anarchistischeDefinition zugrunde: Zum Staat gehörenalle Institutionen, deren Einnahmen, Aus-gaben und Regelungen nicht auf freiwil-liger Übereinkunft, sondern auf demGewaltmonopol beruhen. Neben den of-fensichtlichen staatlichen Institutionen wieMilitär, Justiz, Polizei und Sozialverwal-tung gehören zu ihm die steuerfinanziertenSchulen und Hochschulen, Wohlfahrtsver-bände, Zwangsversicherungen und Rund-funkanstalten sowie Leistungen staatlicher

oder monopolisierter Anbieter wie zumBeispiel die Stadtwerke oder Nahver-kehrsbetriebe. Eine Zwitterstellung neh-men Institutionen und Berufsgruppen ein,die über staatlich garantierte Monopol-oder Oligopolstellungen verfügen wie et-wa Energieversorger, Banken, Versiche-rungen, Ärzte, Raumfahrt, berufsständi-sche Kammern. Die Firmen und die Be-rufsgruppen, die hohe und dauerhafteSubventionen empfangen, gehören eben-falls zu der staatlichen Infrastruktur (VW,Landwirte etc.). Nicht subventionierte Fir-men, die dauerhaft oder ausschließlich ihreLeistungen an den Staat verkaufen wiez.B. manche Bau- oder Bildungsunter-nehmen, begründen mit staatlichen Insti-tutionen eine korporative Struktur.

Die Möglichkeiten der Staatstätigkeit.Formal gibt es drei Möglichkeiten für denStaat, tätig zu werden. Diese formalenMöglichkeiten sind in sich im modernenStaat sehr ausdifferenziert. Die folgendeAufzählung ist nicht erschöpfend:

1. Einnahmen (betrifft das Verhältnis desStaates zum Bürger)

SteuernEinkommenssteuern auf Gehalt,Gewinn, Eigentum, Zinsen usw.Verbrauchssteuern auf Konsum all-gemein („Mehrwertsteuer“) oderauf spezielle Güter (Benzin, Tabak,Brandwein, Luxus usw.)

Kreditaufnahme/Verschuldung inkl. sog. „Schattenhaushalte“

AbgabenZwangsbeiträge an Kranken-, Ar-beitslosen-, Pflege- und Rentenkas-senKommunalabgaben für Straßenrei-nigung, Müllbeseitigung usw.

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Verwaltungsgebühren für An- undAbmeldung, Bescheinigungen usw.

Inflation(Eine bedeutsame, nicht offiziell zu-gegebene Einnahmequelle des Staa-tes. Die Funktionsweise wird weiterunten erläutert.)

2. Ausgaben (betrifft das Verhältnis desBürgers zum Staat)

Sicherheit: Militär, Polizei, Justiz inkl. Vollzug

Infrastruktur: Straßenbau, Strom-, Wasser-, Energieanbindung

Bildung: Schulen, Universitäten, For- schungseinrichtungen

Zwangsversicherung: Kranken-, Ar- beitslosen- und Pflegegeld, Renten

Sozialausgaben: Sozialhilfe, sozialer Wohnungsbau, Wohngeld

Subventionen: Industrie, Bergbau, Landwirtschaft, Kultur

Verwaltung: Finanzen, Ordnungs- und Aufsichtsämter, Behörden

3. Regelnde Eingriffe (greift in das Ver-hältnis des Bürgers zum Bürger ein)

Gesetze Verwaltungsverordnungen Geldpolitik Tarifrecht Jugendschutz Gewerbe- und Bauaufsicht

Erneute Bestimmung des Gegenstandesder Untersuchung. Die Staatstätigkeitenuntersuche ich hier ausschließlich unterdem Blickwinkel ihrer Wirkung auf dieArmen. Für die Ermittlung dieser Wirkungist es jedoch entscheidend, bestimmte öko-nomische Kausalzusammenhänge zu ken-nen. Diese Zusammenhänge werde ich nurstreifen. Ebenso wie die empirischen Be-

lege für die tatsächliche Wirkung ist ver-tiefende Literatur der ökonomischenTheorie am Schluß des Papiers aufgeführt.

Wirkungen der Einnahmeseite von Staats-tätigkeit:Steuern: EinkommenssteuernSteuerprogression als Instrument dessozialen Ausgleichs. Steuern auf das Ein-kommen von Bürgern können progressivgestaltet werden. Auf diese Möglichkeitbaut sich im Endeffekt die stärkste Hoff-nung, der Staat könne sozial ausgleichendwirken: nämlich dadurch, daß Menschenmit höheren Einkommen prozentual mehrabgeben müssen als Bezieher kleinererEinkommen. Dies träfe natürlich nur dannzu, wenn die Bezieher höherer Einkom-men nicht mehr Leistungen vom Staatbezögen. Dies kann durch eine „Steuer-bilanz“ geklärt werden, die Thema bei derEinschätzung der Wirkung der Ausgaben-seite ist.

Unterhöhlung der Steuerprogression.Allerdings wird die Steuerprogression be-reits auf der Einnahmeseite unterhöhlt. DaBezieher höherer Einkommen über mehrMöglichkeiten verfügen, ihr Einkommenzu verschleiern und „etwas abzusetzen“,zahlen sie sogar in absoluten Zahlen bis-weilen weniger als die Bezieher kleinererEinkommen.

Wem tun Steuern weh? Wenig beachtetworden ist auch die Tatsache, daß für ei-nen Bezieher eines kleinen Einkommensein geringer Steuersatz belastender seinkann als für einen Bezieher eines höherenEinkommens der große Steuersatz. Wervon 10.000 DM Monatseinkommen 50%abführen muß, verfügt mit 5.000 DM nettoimmer noch eine vergleichsweise beach-

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tenswerte Summe. Wer von 1.000 DM10% abführen muß, kann sich mit demverbleibenden 900 DM vielleicht nichtmehr sein Zimmer leisten, wo er zur Un-termiete wohnt. Daß dies so hartnäckigübersehen wird, hängt damit zusammen,daß nicht sauber zwischen relativer undabsoluter Armut unterschieden wird.In Deutschland ist die Regierung vomVerfassungsgericht gezwungen worden,davon abzusehen, das Existenzminimummit direkten Steuern zu belegen. Dies istdurchaus ein Fortschritt. Die weiter untenbesprochenen, indirekten Verbrauchssteu-ern allerdings werden dadurch in ihrer re-gressiven Wirkung nicht reduziert.

Wirtschaftliche Auswirkungen derSteuererhebung. Entscheidend dabei, dieWirkung der Einkommenssteuer einzu-schätzen, ist darüber hinaus die Betrach-tung der ökonomischen Zusammenhänge.Steuern wirken zum einen leistungshem-mend und setzen zum anderen einen Pro-zeß der Überwälzung in Gang. Beide Wir-kungen schaden den Armen mehr als denBesserverdienenden.

Wirkung 1: Leistungshemmung. Dieleistungshemmende Wirkung der Steuernwird von vielen sozialdemokratischenPolitikern gern in Abrede gestellt. Sie kannjedoch ganz einfach überprüft werden:Wenn der Staat 100% des Einkommenskassierte, würde niemand mehr diesesEinkommen erzielen wollen. Auch eineSenkung auf 99% könnte da wohl nichtviel helfen. Also muß zwischen dem Steu-ersatz von 0% bis 100% irgendeine Stei-gerung der Leistungshemmung stattfin-den. (Die leistungshemmende Wirkungbraucht allerdings nicht linear zu steigen,sondern kann „springen“.)

Beispiel. Nehmen wir an, jemand der10.000 DM Einkommen habe, würde sei-ne Leistungen so einschränken, daß eraufgrund der Steuerprogression netto fastdie gleiche Summe Geldes zur Verfügunghabe, aber brutto bei 8.000 DM liege. Die2.000 DM, die er nun weniger Bruttoein-kommen hat, werden nicht geleistet. In derWirtschaft sind demnach weniger Werteentstanden. Verknappung von WertenGütern oder Dienstleistungen zieht Ver-teuerung nach sich. Unter Verteuerungleiden naturgemäß die Bezieher kleinerEinkommen mehr als die Bezieher großerEinkommen. Außerdem bedeutet die Tat-sache, daß weniger Werte geschaffen wer-den, daß weniger Arbeitsplätze existieren.Auch bei Verknappung von Arbeitsplät-zen sind die Bezieher kleiner Einkommenin der Regel härter betroffen, weil ihreArbeitskraft eher nicht spezifisch (d.h.„austauschbar“ oder „ersetzbar“) ist.

Wirkung 2: Überwälzung. Derjenige,der in dem Beispiel 10.000 DM brutto hat,kann auch anders reagieren als mit Lei-stungseinschränkung: Er kann, wenn sei-ne Arbeitskraft hinreichend spezifisch(„unersetzbar“ oder „schwer ersetzbar“)ist, ein höheres Gehalt durchsetzen, umdie Steuerlasten auszugleichen. Da durchdiese Erhöhung des Gehaltes aber seinOutput nicht steigt, heißt dies, daß seinArbeitgeber die gestiegenen Lohnkostenentweder bei weniger verdienenden Mit-arbeitern einsparen oder in Form von hö-heren Preisen an die Konsumenten wei-tergeben muß. Dieses Phänomen wird„Überwälzung“ genannt. Die Überwäl-zung führt dazu, daß Steuern – auch pro-gressive Einkommenssteuern – tendenzi-ell auf den Konsum fallen. Im Prinzipwirkt jede Steuer wie die Mehrwertsteuer.

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Steuern: VerbrauchssteuernRegressivität der Verbrauchssteuern.Verbrauchssteuern sind vom Einkommenunabhängig. Sie wirken bereits bei derErhebung eher regressiv. Wenn eine Fa-milie ihr Haushaltseinkommen von 2.000DM komplett verkonsumiert, zahlt sie beieinem Verbrauchssteuersatz von 15% =300 DM. Ein Single, der von seinemNettogehalt, das 5.000 DM beträgt, 1.000DM verkonsumiert (und den Rest spart),zahlt nur 150 DM.

Wem tun Steuern weh? Da Verbrauchs-steuern stets die Produkte verteuern, sindsie für die Armen besonders schlimm.Wenn etwa die Grenze relativer Armutohne Verbrauchssteuern bei 2.000 DMliegt, würde sich, sobald eine Verbrauchs-steuer von beispielsweise 20% erhobenwird, die Grenze auf 2.200 DM erhöhen.Wer einen Lohn von 2.100 DM bezieht,wäre vor der Steuererhebung nicht arm;aber danach müßte man ihn zu den Ar-men zählen.

Wirkungen der Einnahmeseite von Staats-tätigkeitKreditaufnahmeKreditaufnahme wirkt zinssteigernd.Kreditaufnahme ist deshalb eine für Poli-tiker so verlockende Art, Geld in dieStaatskasse zu bekommen, weil sie zu-nächst niemandem eine Last aufzuerlegenscheint (wie das bei der Steuererhebungder Fall ist). Kreditaufnahme wirkt jedochmittelfristig zinssteigernd. Das heißt, daßdiejenigen Menschen, die Schuldzinsenzahlen, den Teil des Staatshaushaltes fi-nanzieren, der mit Krediten abgedecktwird. Zum einen sind dies innovative Un-ternehmer, die Investitionen tätigen. Wennihre Möglichkeiten zu wirtschaftlichen

Aktivitäten durch steigende Zinsen einge-schränkt wird, schadet dies selbstverständ-lich am meisten denjenigen, in den neuenBetätigungsfeldern Arbeit gefunden hät-ten. Zum anderen werden durch steigen-de Zinsen all die schwer belastet, die trotzgeringer Einkommen einen Kredit aufge-nommen haben („Überschuldung“).

Abwehr von Zinssteigerungen birgt In-flationsgefahr. Um diese beiden negati-ven wirtschaftlichen Auswirkungen stei-gender Zinsen zu vermeiden, werden dieZinsen vom Staat geldpolitisch gering ge-halten. Dann allerdings stellt sich das Pro-blem der Inflationsgefahr. Dem ThemaInflation ist ein eigener Abschnitt gewid-met.

Wirkungen der Einnahmeseite von Staats-tätigkeitAbgabenUntergeordnete Rolle der Abgaben.Abgaben spielen bei der Finanzierung vonder Tätigkeit des Staates normalerweiseeine untergeordnete Rolle. Meist handeltes sich um Zahlungen von Dienstleistun-gen, die kommunal monopolisiert sind.Die Abgabenhöhe wird in der Regel poli-tisch und nicht betriebswirtschaftlich be-stimmt. Darum gibt es sowohl nicht ko-stendeckende, als auch überteuerte Abga-ben. Für die Frage der Auswirkung aufdie Armen ist dabei nur entscheidend, vonwelchen Leistungen sie wie viel beziehenund was sie dafür an Abgaben bezahlen.Dies ist Thema der „Steuerbilanz“ in derDiskussion der Ausgabenseite des Staa-tes.

Preistreibende Rolle der Abgaben. InSituationen, in denen Steuererhöhungenzwar fiskalisch gesehen nötig, politisch

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aber nicht durchsetzbar sind, können überdie Erhöhung von Abgaben jedoch ver-steckte Steuern erhoben werden. Es hatin den 90ern in Deutschland Jahre gege-ben, in denen die Steigerung der Lebens-haltungskosten ausschließlich auf der Er-höhung von Abgaben beruhte. Es ist klar,daß die Steigerung von Lebenshaltungs-kosten die Bezieher unterer Einkommensowie von feststehenden Renten besonderstrifft.

Wirkungen der Einnahmeseite von Staats-tätigkeitZwangsbeiträgeLohnnebenkosten. Der Anteil, der demBruttolohn zwangsweise für die sog. So-zialbeiträge abgezogen und der ihm als„Arbeitgeberanteil“ aufgeschlagen wird,ist in Deutschland sehr hoch. Dieser An-teil ist prozentual vom Einkommen abhän-gig, das heißt, daß er sich progressiv staf-feln läßt. Eine sozial ausgleichende Wir-kung geht davon allerdings nicht aus: Die„Lohnnebenkosten“ verteuern die Arbeitdeutlich. Das heißt, daß Menschen mitgeringer Grenzproduktivität kaum eineChance auf Arbeit bekommen. Sie blei-ben arbeitslos.

Bedeutung der Schwarzarbeit. Ein In-diz dafür, daß Steuern und Lohnneben-kosten Arbeitsplätze verhindern, ist dieVerbreitung von Schwarzarbeit: Schwarz-arbeit ist Arbeit, nach der Nachfrage un-ter der Bedingung besteht, daß die Brutto-kosten um die Steuer- und Zwangsbeiträgereduziert sind. Ist die Reduktion nichtmöglich, wird die Arbeit nicht nachge-fragt. Da jedoch nicht alle Arbeit alsSchwarzarbeit angeboten werden kannbzw. viele Arbeitsanbieter und -nachfragerdie mit der Schwarzarbeit verbundene Kri-

minalisierung fürchten, liegt das Niveauvon Schwarzarbeit weit unter dem, wasan Arbeitsplätzen entstehen könnte, wür-de die entsprechende Abgabenlast redu-ziert.

Wirkungen der Einnahmeseite von Staats-tätigkeitInflationVorbemerkung. Inflation ist keine offi-zielle Einnahmequelle des Staates wieSteuern, Kreditaufnahme, Abgaben undZwangsbeiträge. Warum ich sie zu derEinnahmeseite der Staatstätigkeit zähle,bedarf der Erläuterung.

Definition der Inflation. Inflation istnicht, wie vielfach mißverständlich be-hauptet wird, eine Preissteigerung, son-dern Geldvermehrung. Die Geldvermeh-rung kann (aber muß nicht) eine Preisstei-gerung nach sich ziehen. Die Preissteige-rung kann ausbleiben, wenn beispielswei-se statt dessen die Produktivität steigt. Inden letzten Jahren ist alles rund um dieComputertechnologie extrem im relativenWert gesunken. Stabiles Preisniveau isthier objektiv eine Inflationswirkung, weildie Preise hätten noch stärker sinken müs-sen.

Ursache der Inflation. Erzeugt wird dieInflation durch das Drucken von zusätzli-chen Banknoten oder durch geldpolitischeVerbilligung des Kredits. Schon in den30er Jahren hat F.A. Hayek nachgewie-sen, daß die zyklischen Wirtschaftskrisen(die erst Marx und dann Keynes fälsch-lich als unausweichliches Marktgeschehenbezeichnet hatten) auf die Kreditexpansionzurückzuführen sind. In den 70er Jahrenist diese bis dahin verdrängte Theorieempirisch bestätigt worden.

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Funktion der Inflation. Durch Inflationverschleiert der Staat seine Kreditaufnah-me. Allerdings ist die Erwartung, daßdurch Inflation die Wirtschaft angekurbeltwerde, so daß die Kreditaufnahme einegleichsam für den Bürger kostenneutraleStaatsfinanzierung wäre, höchst trüge-risch. Denn das neu gedruckte Geld reprä-sentiert ja keine substantiellen Werte. Esentsteht (unter einer Reihe anderer Wir-kungen) die „Geldillusion“, in der dieWirtschaft meint, es stünden produktiveWerte zur Verfügung, die es jedoch nichtgibt, bzw. die vom Staat verkonsumiertwerden. Aus dieser Geldillusion herausneigen Unternehmer dazu, falsche Ent-scheidungen zu treffen, die zu den bekann-ten Krisenerscheinungen führen.

Wem tut Inflation weh? Die Krisener-scheinungen und die (sichtbaren oder ver-steckten) Preissteigerungen sind immerzum besonderen Nachteil der kleinen Leu-te: Sie sind es, die arbeitslos werden, undsie haben damit zu kämpfen, wie sie beisteigenden Preisen und sinkenden Real-löhnen ihren Lebensunterhalt bestreitensollen.

Wirkungen der Ausgabenseite von Staats-tätigkeitSteuerbilanzAlle Staatsausgaben sind Steuern. Sy-stematisch gesehen beruhen alle Ausga-ben des Staates auf „Steuern“, ob sie nunso heißen oder nicht. Denn alles, was derStaat ausgibt, muß er irgendwo und ir-gendwie vereinnahmt haben.

Definition Steuerbilanz. Die Frage lau-tet, ob die Wirkungen der Steuern progres-siv oder regressiv sind, das heißt, ob derStaat einen sozialen Ausgleich herstellt

oder nicht. Um diese Frage zu klären, mußdas, was der einzelne an den Staat als Steu-ern zu zahlen hat, gegen das aufgerechnetwerden, was er vom Staat als Leistungbekommt. Das ist die „Steuerbilanz“.Wenn diese Steuerbilanz negativ ist, ist derBetreffende ein Nettosteuerzahler, ist siepositiv, ist er ein Nettosteuerkonsument.

Beispiel Autobahnbau. Wenn jemandkein Auto besitzt, so finanziert er dennochüber seine Steuern den Autobahnbau mit– eine Leistung, die er nicht beansprucht.Wenn es richtig ist, daß Besserverdienen-de durchschnittlich mehr Autos besitzenund mehr Kilometer Straße benutzen alsdie Kleinverdiener, dann ist es wahr-scheinlich, daß die Armen die Mobilitätder Reichen subventionieren.

Wie sieht die Steuerbilanz aus? Ein gro-ßer Teil der Staatsausgaben bezieht sichin gleicher Weise wie der Autobahnbautendenziell mehr auf Bedürfnisse der Bes-serverdienenden: Bildungsausgaben,Rechtsprechung und Sicherheitsdienst,Kulturangebote und Subventionen werdennaturgemäß zum großen Teil oder sogarvollständig von den Beziehern höhererEinkommen in Anspruch genommen. DieSteuerbilanz für die Armen ist so negativ,daß sogar dann, wenn in einem Arme-Leute-Gebiet 50% der Einwohner Sozial-hilfe beziehen, gleichwohl für die gesam-te Gruppe mehr Steuergeld aus dem Ge-biet abfließt als hinkommt.

Beispiel Wohngeld. Wer zum BeispielWohngeld bekommt, kann in der Steuer-bilanz objektiv gesehen Nettosteuerzahlersein, wenn er mehr an den Staat direkt überseine Einkommens- und Konsumsteuersowie indirekt über die Inflationswirkung

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bezahlt, als er an Leistungen insgesamterhält. Selbstverständlich müssen alle Lei-stungen gezählt werden: vom Wohngeldüber die kostenlose Schul- und Gehsteig-benutzung bis hin zur Partizipation an derSicherheitsstruktur, die die Polizei dar-stellt.

Beispiel Sozialhilfe. Sogar jemand, derals Langzeitarbeitsloser Sozialhilfe beziehtund gar keine Steuern zahlt, muß als Net-tosteuerzahler betrachtet werden: Wenn eraufgrund von Krisen, die die Geldpolitikhervorruft, arbeitslos ist oder aufgrund vonhohen Lohnnebenkosten, dann beträgtseine objektive Steuerzahlung die Diffe-renz zwischen dem von ihm erzielbaremLohn und seinem Sozialhilfesatz.

Umverteilung von unten nach oben.Empirische Studien zur Wirkung vonstaatlichen Ausgaben kommen durchwegzu dem Schluß, daß die Steuerbilanz fürdie Armen negativ, für die Reichen posi-tiv sei. Gordon Tullock faßt diese Ergeb-nisse unter dem Schlagwort „welfare forthe well to do“ zusammen. HistorischeUntersuchungen z.B. zur Schulentwick-lung legen nahe, daß die Mittel- und Ober-schicht die Einrichtung öffentlicher Bil-dungsinstitutionen mehr oder weniger be-wußt forciert haben, um von der Quersub-ventionierung durch die Armen zu profi-tieren (z.B. Katz 1968, West 1975). Weilinzwischen klar ist, daß die Besserverdie-nenden von der Zwangspflegeversiche-rung mehr haben als die Armen, sollte manüberlegen, ob die wirklichen Nutznießerdies nicht von Anfang an kalkuliert ha-ben. Es wäre dann nur Ideologie, wennMaßnahmen des Wohlfahrtsstaates mitdem Argument eingeführt werden, daßdamit den Armen geholfen werden solle.

Wirkungen der Ausgabenseite von Staats-tätigkeitEffizienzWem tut Verschwendung von Steuer-geldern weh? Staatliche Leistungen sind,so geht aus der Steuerbilanz hervor, nichtwirklich kostenlos, sondern sie scheinennur so zu sein. Sie stehen zwar jedem zurVerfügung, ohne daß er sie in Abhängig-keit von der Nutzung bezahlen muß, je-doch finanziert er sie über seine Steuer-zahlungen. Darum ist es sehr wichtig zufragen, wie günstig denn das Leistungs-angebot des Staates ist: Wenn der StaatLeistungen monopolisiert und sie damit(im Einklang mit allen Monopoltheorien)verteuert, schadet er den Armen. Sie sindes, die Konsumverzicht leisten müssen.

Beispiel Telekommunikation. Jahrelangist den Deutschen eingeredet worden, dieTelekommunikation müsse als staatlichesMonopol angeboten werden, damit für diekleinen Leute – die oft bemühte „arme alteFrau mit kleiner Rente“ – das Telefonie-ren günstig bleibe. Dies werden durch eine„Quersubventionierung“ erreicht, d.h. be-rufliche Vieltelefonierer würden höhereGebühren zahlen, um damit geringe Pri-vatgebühren „gegenzufinanzieren“. Dieteilweise Privatisierung und Liberalisie-rung der Telekommunikation hat aller-dings gezeigt, daß auch die Privatgebührensinken. Daraus folgt, daß für lange Zeitdie Armen mit zu hohen Telefonkostenbelastet worden sind. Sie mußten die Ideo-logie des Wohlfahrtsstaates mit Konsum-verzicht bezahlen.

Beispiel Kohlesubventionen. Die Frageder Effizienz stellt sich besonders auch beiSubventionen. Wenn man die Gesamtsum-me, mit der der Kohlebergbau subventio-

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niert wird, durch die Zahl der Bergleutedividiert, könnten sie ein extrem hohesManagergehalt ausbezahlt bekommen. Eswäre in der Tat billiger, den Bergleutenihr Gehalt zu zahlen und sie nichts tun zulassen, als den Bergbaubetrieb aufrecht zuerhalten. Das Geld, das durch die Kohle-subventionen verschwendet wird, müssendie Nettosteuerzahler aufbringen, also diekleinen Leute. Sie bezahlen auch hier mitKonsumverzicht, daß unfähige Managersubventioniert werden.

Beispiel Sozialhilfe. Selbst bei Subven-tionen, die nicht über den Umweg überdie Finanzierung unwirtschaftlich arbei-tender Unternehmen ausgeschüttet, son-dern direkt den angeblich Bedürftigen aus-gezahlt werden, stellt sich die Frage derEffizienz. Man schätzt, daß gut zwei Drit-tel des Geldes für soziale Ausgaben in dieVerwaltung und in die Bezahlung von So-zialarbeitern und anderer Mittelschicht-berufe fließt. Höchstens ein Drittel kommtbei den Betroffenen an. Milton Friedmanhat errechnet, daß es sehr viel billiger wä-re, die Wohlfahrtsbürokratie durch ein al-len Bürgern garantiertes Mindesteinkom-men („Bürgergeld“) zu ersetzen, das ohnejede bürokratische Formalitäten ausge-zahlt wird.

Wer wirklich subventioniert wird. Diewahren Empfänger von Subventionen sindsowieso meist die Besserverdienenden, diewissen, wie sie die entsprechenden Mög-lichkeiten ausschöpfen. Die Subventionenfür die Landwirtschaft, mit denen angeb-lich armen Bauern geholfen werden soll,hat in Wahrheit die Industrialisierung undMonopolisierung der Landwirtschaft for-ciert.

Beispiel Kultursubventionen. Eine Rei-he von Subventionen beziehen sich gänz-lich auf Angebote, die fast ausschließlichvon Mitgliedern der gehobenen Klasse inAnspruch genommen werden. Dazu zähltdie Oper ebenso wie das Studium.

Beispiel öffentliche Sicherheit. Eine be-sonders schlechte Performanz zeigt derStaat in einem Bereich, in welchem er ei-gentlich sein ursprüngliches Recht be-hauptet: Polizei, Justiz und Vollzug. DieGefängnisse, die oft aus kleinen Gaunerngroße Verbrecher machen, werden vonallen bezahlt, auch den Opfern. Die mei-sten Opfer von Verbrechen sind wohlge-merkt kleine Leute. Aber es wird fastnichts getan, um ihnen Wiedergutma-chung zu verschaffen. Die Justiz ist ver-stopft mit Zankereien zwischen wohlha-benden Nachbarn oder zwischen wohlha-benden Unternehmen, während für dieFälle der kleinen Leute weder Zeit nochkompetente einfühlsame Richter vorhan-den sind. Die Polizei kümmert sich umden teueren Personenschutz für Politikerund Unternehmer, die auch private Body-gards bezahlen könnten, während für denvergleichsweise billigen Schutz von Bahn-höfen oder gefährdeten Nachbarschaftenkein Interesse besteht.

Wirkungen der Ausgabenseite von Staats-tätigkeitBedürfnisgerechtigkeitLeistungen, die nicht den Bedürfnissenentsprechen. Neben der Frage, ob derStaat denn seine Leistungen effizient pro-duziert, sollte überprüft werden, ob er sieentsprechend den Bedürfnissen der Be-troffenen gestaltet. Wer eine Leistung aufdem Markt anbietet, muß sie stets so ge-stalten, daß die potentiellen Abnehmer

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auch wirklich bereit sind, für sie zu zah-len. Der Staat muß dies nicht, weil er kei-ne Bereitschaft zum Zahlen braucht. Ererzwingt die Zahlung. Insofern macht sichder Staat von den Nachfragern unabhän-gig.

Beispiel Nahverkehrsmittel. Der Staatmonopolisiert den öffentlichen Nahver-kehr unter anderem mit der Begründung,er müsse für arme Rentner die Möglich-keit der Mobilität garantieren. Wenn derStaat jedoch darauf verzichten würde, vonden Rentnern über die Mehrwertsteuer er-hebliche Summen abzuschöpfen, könntensie selbst entscheiden, welche Form desNahverkehrs sie benutzen wollten, selbstwenn das dann etwas teuerer wäre als heu-te. (Obwohl, wie gesagt, die Wahrschein-lichkeit besteht, daß nach einer Privatisie-rung die Preise sinken anstatt steigen.)

Beispiel Bildungsinstitutionen. Bei derBildung ist dieses Phänomen sehr gut un-tersucht: Schulen und Hochschulen ori-entieren sich bei ihrem Angebot an Wer-ten, Inhalten und Zielen der Mittel- undObersicht. Selbst wenn Mitglieder der Un-terschicht das kostenlose öffentliche An-gebot ausnutzen, ist es nicht auf ihre Be-dürfnisse zugeschnitten (vgl. Goodman1962, Nasaw 1979, Prengel 1984, Blan-kertz 1989).

Wahlfreiheit nur für die Reichen. Dieperverse Folge des öffentlichen Angebotsvon Leistungen besteht darin, daß die Ar-men nehmen müssen, was der Staat fürangemessen hält, während die ReichenWahlfreiheit haben. Bedingt durch diehohe Steuerlast haben die Armen keineWahl, das staatliche Angebot entweder zunutzen oder auf Bildung (bzw. eine der

anderen staatlichen Leistungen) zu ver-zichten. In Deutschland ist diese Perver-sität wohl auf die Spitze getrieben wor-den im Bereich des Sozialversicherungs-wesens: Sogar das Gesetz schreibt vor, daßdie kleinen Leute die überteuerten und un-sicheren staatlichen Angebote im BereichKranken- und Rentenkassen in Anspruchnehmen müssen, während ausdrücklichnur die Besserverdienenden die günstige-ren und vertragstreuen privaten Kranken-und Rentenversicherungen wählen dürfen.

Leistungen, denen keine Bedürfnissegegenüberstehen. Neben den ineffizientproduzierten Gütern gibt es auch staatli-che Leistungen, nach denen gar keineNachfrage besteht. Dazu gehören etwaweite Teile der Sozialarbeit oder des Ju-gendschutzes, die von den Betroffeneneher als Einmischung in ihre Angelegen-heiten denn als großzügige Hilfe bewer-tet werden. Auch das Eingreifen der Poli-zei bei opferlosen Delikten wie z.B. Dro-genhandel und -konsum oder Prostitutionfolgt nicht der Nachfrage. Gleichwohlmüssen auch diese Leistungen bezahltwerden. Sie werden von den kleinen Leu-ten bezahlt, denen sie eher schaden alsnutzen, während die Werte, die diesen„Leistungen“ zugrundeliegen, die Werteder Mittel- und Oberschicht reflektieren.

Nochmal Beispiel Sozialhilfe. Die Aus-zahlung von sozialer Unterstützung magim Interesse der Betroffenen sein (unab-hängig von der Frage, warum sie Betrof-fene sind). Gleichwohl folgt diese Zahlungoffensichtlich nicht den Bedürfnissen derBetroffenen, sondern denen der Bürokra-tie. Ein besonders augenfälliges Beispielist die in allen Wohlfahrtsstaaten zu be-obachtende Tendenz, Empfänger von

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Ausgleichszahlungen räumlich zu konzen-trieren. Dadurch entstehen „soziale Brenn-punkte“, aus denen es für diejenigen, dieeinmal in den Genuß von staatlichen Zah-lungen gekommen sind, kaum noch einEntrinnen gibt. Auf diese Weise stellt dieBürokratie sicher, daß es immer eine ge-nügend große Zahl von Menschen gibt,die auf Gedeih und Verderb den Zahlun-gen und Regelungen der entsprechendenÄmter unterworfen sind.

Beispiel sozialer Wohnungsbau. In dieKategorie nicht bedürfnisgerechter Lei-stungen gehört auch der soziale Woh-nungsbau. Zusätzlich zu der Tatsache, daßder soziale Wohnungsbau meist objektivmietpreissteigernd wirkt, handelt es sichin der Regel um städtebauliche Katastro-phen. Die Wohnungen, die auf diese Wei-se zur Verfügung gestellt werden, entspre-chend nicht den Lebensgewohnheiten undden Werten der Betroffenen. Edward Ban-field hat gezeigt, daß die Differenz zwi-schen Unterschicht und Mittelschicht zueinem großen Teil auf die verschiedenenZeitpräferenz zurückgeführt werden kann.Angehörige der Unterschicht legen mehrWert auf kurzfristigen Konsum als auflangfristige Wertakkumulation. Diese Ver-schiedenheit hat eine weitreichend Kon-sequenz für den sozialen Wohnungsbau:Wenn Menschen mit kurzer Zeitpräferenzin Wohnungen untergebracht werden, dienach den Werten der Mittelschicht geplantsind, wird das Ergebnis nicht eine Ver-besserung der Lage der Betroffenen sein,sondern Vandalismus. Genau dies ist esauch, was empirisch an fast allen Objek-ten des sozialen Wohnungsbaus überallauf der Welt zu beobachten ist.

Beispiel Justizvollzug. Die erwähnteschlechte Performance der Gefängnisseliegt ebenso weder im Interesse der Opfernoch in dem der Täter: Die Opfer werdenin der Regel nicht entschädigt, nicht ein-mal das Bedürfnis nach Rache wird durchden heutigen, bürokratisierten Strafvoll-zug befriedigt. Aber auch den Tätern wirdnichts Gutes getan: Sie werden weder indie Lage versetzt, ihre Schuld den Opferngegenüber so weit wie möglich abzutra-gen, noch erhalten sie eine Chance, wie-der ins Leben der Normalbürger zurück-zukehren. Da das Versagen der Gefäng-nisse, die Gesellschaft zu schützen, denOpfern Genugtuung zu verschaffen oderdie Täter zu resozialisieren, so offensicht-lich und seit langem bekannt ist, hat Mi-chel Foucault die These aufgestellt, daswirkliche Ziel des Gefängnisses sei dieSchaffung einer Schicht von Kriminellen.

Wirkungen der regelnden StaatstätigkeitWem tun staatliche Regeln weh? DerStaat schädigt die Armen nicht nur, indemer ihnen von dem wenigen Geld, was siehaben, etwas als „Steuern“ abnimmt undin einer Weise ausgibt, die in der Regelden Besserverdienenden zugute kommt,sondern auch durch die Regeln, die er auf-stellt. Das Erlassen der Regeln ist weitge-hend kostenneutral (bis auf die legislati-ven und exekutiven Kosten). Die Folgenkönnen jedoch sehr hohe Kosten sein. Ichbespreche beispielhaft die Wirkungen ei-niger wichtiger Bereiche, die staatlich ge-regelt werden.

Folgen von Mindestlohnbestimmun-gen. Die höchsten direkten Kosten für dieArmen enthalten die Bestimmungen überden Mindestlohn. In Deutschland sind sieTeil des Tarifrechts. Mindestlöhne werden

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oft als notwendig proklamiert, damit Ar-beitenden mit geringem Einkommen we-nigstens ein Minimum garantiert wird. Diewirkliche Konsequenz ist jedoch, daß dieArbeit für wenig Qualifizierte ganz ein-fach wegfällt. Sie werden arbeitslos. Diewirklichen Absichten der Mindestlohn-bestimmungen kommen jedoch auch bis-weilen ans Licht. Im Südafrika der Apart-heit und in den USA haben rassistischeweiße Gewerkschaften Mindestlohnbe-stimmungen bewußt eingesetzt, um diebillige schwarze Konkurrenz auszugren-zen. Ebenso werden in Deutschland imBaugewerbe Mindestlöhne benutzt, umbillige Konkurrenz aus Osteuropa fernzu-halten. Ökonomisch gesprochen verrin-gern Mindestlohnbestimmungen die Ko-sten der Diskriminierung.

Folgen von Schutzbestimmungen. Ähn-lich wie Mindestlohnbestimmungen wir-ken eine Reihe von anderen Schutzbe-stimmungen, zum Beispiel in den Berei-chen Mieterschutz, Jugendschutz undMutterschutz. Diese Schutzbestimmungensenken alle die Kosten der Diskriminie-rung, so daß Vermieter und ArbeitgeberFrauen, Randgruppen oder Arme aus-schließen können, ohne daß ihnen dadurchEinnahmemöglichkeiten verloren gehen.Der Mutterschutz hat die Folge, daß Frau-en erst gar nicht eingestellt werden. DerJugendschutz hat die Folge, daß Jugend-liche sich gar nicht erst ihren Lebensun-terhalt verdienen können, sondern abhän-gig von den Eltern (oder den Institutionendes Wohlfahrtsstaates) bleiben. Der Mie-terschutz führt zu objektiv höheren Prei-sen, zu weniger Mietangeboten für armeFamilien und zu stärkerer Diskriminie-rung.

Folgen von Zulassungsbestimmungen.Approbationen und andere Zulassungs-bestimmungen haben eine doppelte Wir-kung auf die Lage der Armen: Zum einenkann durch die Approbation der Zugangzu einem Beruf (z.B. Arzt, Anwalt usw.)gesteuert werden, was sich zumeist alsDiskriminierung von Armen und anderenAußenseitern bemerkbar macht. Zum an-deren werden durch Approbation die Ein-kommen der Approbierten hochgehalten,was ihre Leistungen kostspielig und even-tuell für Arme unerschwinglich macht.

Folgen des Geldmonopols. Die höchstenindirekten Kosten für die Armen gehenvom Geldmonopol aus. Mit Hilfe der geld-politischen Manipulationen, die das Geld-monopol ermöglicht, verschafft sich derStaat (wie im Abschnitt „Inflation“ gesagt)über die Steuereinnahmen hinaus Mittel.Die Folgen davon sind nicht nur ein ob-jektiv höherer Konsumverzicht der Bür-ger, der einer indirekten Steuer gleich-kommt, sondern vor allem Wirtschaftskri-sen, die sich in Arbeitslosigkeit ausdrük-ken. Eine weitere Konsequenz des Geld-monopols ist, daß es weniger Möglichkei-ten für Arme gibt, alternative Formen desHandelns zu entwickeln wie z.B. Tausch-handel.

Folgen von Prohibitionen. Sehr vielElend und sehr hohe Kosten verursacht dieDrogenprohibition. Drogenkonsumentenund (kleine) Drogenhändler werden kri-minalisiert und zu potentiellen Armuts-kandidaten. Da die gehandelte Ware ille-gal ist, gibt es keine Qualitätskontrollen,was die gesundheitlichen Schädigungenweit höher als nötig macht. Die Verfol-gung von Drogenkonsumenten, Drogen-händlern und den Beschaffungskrimi-

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nellen kostet die Steuerzahler viel Geldund zieht die Kapazität der Polizei vonanderen, wirklich wichtigen Aufgaben imBereich von Kapitalverbrechen ab.

Kann der Staat anders?Linke und Rechte Demagogie. Die Em-pirie ist eindeutig: Daß die Tätigkeit desStaates in Geschichte und Gegenwartüberall auf der Welt die Reichen begün-stigt und die Armen beschädigt, steht öko-nomisch und soziologisch fest. Rechte undlinke Demagogen und „Populisten“ be-haupten jedoch stets, dies müsse nicht sosein. Sie argumentieren, der Staat dieneden Reichen, weil er „schwach“ sei undsich von den Reichen instrumentalisierenlasse. Demgegenüber propagieren sie ei-nen „starken“ Staat, der sich unabhängigvon den Einflüssen der Reichen machensolle. Dieser starke Staat werde dann en-ergisch durchgreifen, Gerechtigkeit durch-setzen und den Armen wieder zu Würdeund Wohlstand verhelfen.

Empirie gegen den starken Staat. Al-lerdings gibt es auch für die Vision desstarken Staates genügend empirische Ge-genbeweise: Weder der Faschismus in Ita-lien, Deutschland, Spanien, Portugal, Ar-gentinien und Paraguay noch der Sozia-lismus in Rußland, Ost-Deutschland, Ju-goslawien, Nordkorea, Cuba, China, Vi-etnam, Algerien und Äthiopien haben zueiner egalitären und lebenswerten Wohl-standsgesellschaft geführt.

In wessen Dienst die Demagogie steht.Die Masse an Beweisen, daß der Staat un-abhängig von der ideologischen Ausrich-tung, von der geographischen Lage undvon den menschlichen Qualitäten der Po-litiker Armut verschärft, einfach mit der

Aussage zu kontern, es müsse eben derehrliche Mann oder die ehrliche Frau her,die den sozialen Ausgleich ernsthaft be-treibe, scheint wohl kaum noch naiv ge-nannt werden zu dürfen: Eine solche Ar-gumentation ist böswillige Demagogie.Sie steht objektiv im Dienst der herrschen-den Klasse, die den Staat zur eigenen Be-reicherung braucht.

Die soziologische Erklärung. Es kannsoziologisch gesehen nicht anders sein, alsdaß der Staat den Mächtigen nützt und denArmen schadet. Der kleinste gemeinsameNenner aller Staatsformen ist die Möglich-keit, Macht auszuüben. Damit sind dieje-nigen, die die Instrumente der Macht „be-dienen“, die Herrschenden. Sie erlangenihren Einfluß und ihr Einkommen aus derTatsache, daß sie ohne die Zustimmungder Betroffenen deren Geld durch Steu-ern nehmen und deren Leben durch Ge-setze und Verordnungen regulieren kön-nen.

Arme und Reiche. Die Reichen sindnicht an sich die Feinde der Armen. Werseinen Reichtum erlangt, indem er auf demMarkt Leistungen anbietet, die die Mit-menschen benötigen und die sie habenwollen, vermehrt den Wohlstand von al-len und schafft Arbeitsplätze. Es ist dabeivollkommen einerlei, durch welche Art derLeistungen der Reichtum geschaffen wird.Entscheidend ist, daß die Leistungen auffreiwillige Nachfrage stoßen und durchfreiwillige Kooperation geschaffen wer-den.

Arme und Mächtige. Die Feinde der Ar-men sind die Mächtigen, die ihren Reich-tum dadurch erlangen, daß sie für ihreLeistungen Geld zwangsweise einstrei-

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chen und Leistungen anbieten, die nie-mand freiwillig annehmen will. Sie zerstö-ren den Reichtum. In Krisensituationenkann diese Zerstörung bis dahin führen,daß Hungersnot ausbricht.Anarchie ist der höchste Ausdruck derOrdnung. Die Alternative zum Staat, derarm macht, ist nicht ein anderer Staat,sondern die Abschaffung des Staates zu-gunsten einer Ordnung der Freiheit.

Ausgewählte Literatur:Baader, Roland, Fauler Zauber: Schein undWirklichkeit des Sozialstaates, Gräfeling 1997Bakunin, Michael, Staatlichkeit und Anarchie(1866), Frankfurt/M. 1972Banfield, Edward, The Unheavenly CityRevisited, Boston 1984Bauer, Peter, Dissent on Development, Cam-bridge 1979Blankertz, Stefan, Politik der neuen Toleranz:Plädoyer für einen radikalen Liberalismus,Wetzlar 1988Blankertz, Stefan, Legitimität und Praxis, Wetz-lar 1989Blankertz, Stefan, Die Kosten der Schulgeld-freiheit, in: ders., Gestaltkritik, Köln 1990Blankertz, Stefan, Vom Nährwert der Anarchie:Aufforderung zur Rückeroberung des Brotes, in:Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt:Uwe Timm zum 60. Geburtstag, Berlin 1993Blankertz, Stefan, Die Therapie der Gesell-schaft, Wuppertal 1998Block, Walter, Discrimination, Affirmative Ac-tion, and Equality of Opportunity, Vancouver1982Bronzen, Yale, The Minimum Wage: Who Pays,Washington 1966Foucault, Michel, Überwachen und Strafen,Frankfurt/M. 1976Frazer Institut, Rent Control: A Popular Pa-radox, Vancouver 1975Friedman, Milton, Kapitalismus und Freiheit(1962), Frankfurt/M. 1984Goodman, Paul, Communitas (1947), Köln1992Goodman, Paul, Das Verhängnis der Schule(1964), Frankfurt/M. 1975

Goodman, Paul, People or Personnel, NewYork 1965Habermann, Gerd, Der Wohlfahrtsstaat: Ge-schichte eines Irrweges, Berlin 1997Hayek, F.A., Individualismus und wirtschaftli-che Ordnung, Salzburg 1976Hayek, F.A., Unemployment and MonetaryPolicy: Government as Generator of the Busi-ness Cycle, San Francisco 1979Institut of Economic Affairs, The Long Debateon Poverty, London 1974Katz, Michael, The Irony of Early School Re-form, Boston 1968Krauss, Melvyn, Development Without Aid:Growth, Poverty, and Government, New York1983Lavoie, Don, National Economic Planning:What Is Left, Cambridge 1985Mises, Ludwig, Liberalismus (1927), SanktAugustin 1993Mises, Ludwig, Die Gemeinwirtschaft (1932),Salzburg 1981Murray, Charles, Loosing Ground, New York1984Rothbard, Murray, Americas Great Depressi-on (1963), New York 1983Rothbard, Murray, Power and Market:Government and the Economy, Kansas City 1977Nasaw, David, Schooled to Order, New York1979Oppenheimer, Franz, Der Staat (1908), Berlin1990Prengel, Annedore, Schulversagerinnen, Gie-ßen 1984Sale, Kirkpatrik, Human Scale, New York 1980Sowell, Thomas, Markets and Minorities, NewYork 1981Tullock, Gordon, Welfare for the Well to do,Dallas 1983West, E.G., Education and the Industrial Revo-lution, London 1975Williams, Walter, The State against the Blacks,New York 1982

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 83

Ordnungskonzeptionen im Vergleich

Nahezu alle politischen Parteien inDeutschland bekennen sich heute zu ei-ner Wirtschaftsordnung, die meist mit demBegriff „soziale Marktwirtschaft” um-schrieben wird. Folgt man der gängigenLiteraturauffassung, so ist hierunter einWirtschaftssystem zu verstehen, das „...imRahmen einer marktwirtschaftlichen Wirt-schaftsordnung soziale Sicherheit und so-ziale Gerechtigkeit anstrebt, indem durchmarktkonforme wirtschaftspolitische Ein-griffe und Maßnahmen die Nachteile ei-ner freien unkontrollierten Marktwirt-schaft vermieden werden.”1 Diese Defi-nition, die auf Alfred Müller-Armack zu-rückgeht, läßt allerdings viel Spielraum fürunterschiedliche Interpretationen und po-litische Vorstellungen. Deshalb kann esnicht verwundern, daß Wirtschafts- undSozialpolitiker verschiedener Couleur dieeine oder andere Reformmaßnahme als„Sozialabbau” oder aber als „notwendi-gen Umbau” des Sozialstaats bezeichnen.Eine weitere Folge dieser wenig trenn-scharfen Definition ist eine Inflation derAdjektive, die der näheren Beschreibungeiner fortentwickelten „sozialen Markt-wirtschaft” dienen sollen („ökologisch-soziale Marktwirtschaft”).2 Ziel diesesBeitrags ist es deshalb zunächst, die ver-schiedenen wirtschaftlichen Ordnungs-konzeptionen, die auf einer liberalenWirtschafts- und Gesellschaftsphilosophiebasieren, vorzustellen und voneinander ab-zugrenzen. In einem zweiten Schritt er-folgt eine theoretische und empirische

Analyse des ökonomischen Erfolgs-potentials alternativer Ordnungskonzep-tionen und eine Gegenüberstellung mit denErfahrungen in der Bundesrepublik vordem Hintergrund veränderter ordnungspo-litischer Realitäten. Bewegt man sich aufdem Boden einer freiheitlichen Wirt-schafts- und Gesellschaftsordnung, so las-sen sich die folgenden alternativen Ord-nungskonzeptionen auseinanderhalten:

· Libertäre Ordnungsmodelle,· Klassisch-liberale Ordnungsmodelle,· Manchestertum,· Neoliberalismus,· Ordoliberalismus,· Soziale Marktwirtschaft (mit großem „S”),· soziale Marktwirtschaft (mit kleinem „s”),· Wohlfahrtsstaat.

Auf der Grundlage dieser Systematik las-sen sich die Unterschiede in den konsti-tuierenden Merkmalen relativ leicht fest-stellen. Dann wird auch eine Gegenüber-stellung mit praktisch realisierten Syste-men möglich.Die wohl konsequenteste Verwirklichungdes Prinzips des freien Tausches als we-sentliches Merkmal einer liberalen Ord-nung ist in der Konzeption des „Liberta-rianism” (ich verwende hier die amerika-nische Bezeichnung) zu sehen. Hier folgtaus der totalen Ablehnung jeglichen staat-lichen Zwangs die Forderung, alle Ebe-nen gesellschaftlicher Interaktionen aufder Basis freiwilliger Verträge zu organi-sieren. Dies gilt nicht nur für den ökono-mischen Bereich, sondern auch für „klas-

Dr. Richard ReichelSoziale Marktwirtschaft, Sozialstaat

und liberale Wirtschaftsordnung

84 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

sische” Felder staatlicher Tätigkeit, wieder Bildung oder der inneren und äußerenSicherheit. In letzter Konsequenz führtdies zu einem Absterben bzw. Überflüs-sigwerden des Staats. Eine solche Kon-zeption ist anarchistischer Natur und kanndeshalb auch als „Anarchokapitalismus”bezeichnet werden.3 Als Rechtfertigungdieser Ordnung mit (gewollt) utopischemCharakter wird von libertären Vertreterndie angebliche Inkonsequenz klassisch-li-beraler Ordnungsvorstellungen ins Feldgeführt, die in der Koexistenz staatlichenZwangs mit gesellschaftlichen und wirt-schaftlichen Freiheiten bestehe. DiesesNebeneinander führe letztlich zu einemAnwachsen der Staatsmacht und damit zueiner schleichenden Aushöhlung individu-eller Freiheitsrechte. Konsequenterweiselöst man dieses Problem dadurch, indemman den Staat gleich ganz abschafft. Ver-treter dieser Theorie sind in Amerika bei-spielsweise Ökonomen der Mises-Schulewie beispielsweise Murray Rothbard, inDeutschland wird sie von Philosophen undPublizisten wie Gerard Radnitzky, HardyBoullion oder Stefan Blankertz propagiert.

Alle anderen Ordnungsvorstellungen rech-nen hingegen mit der Existenz eines Staatsim hergebrachten Sinne, wenngleich ihmvöllig unterschiedliche (und unterschied-lich umfangreiche) Aufgaben zugewiesenwerden. In klassisch-liberaler Sicht, d. h.aus dem Blickwinkel der ÖkonomenAdam Smith, David Ricardo und Jean-Baptiste Say bestehen diese vor allem inder Gewährleistung innerer und äußererSicherheit, sowie in der Bereitstellungweiterer öffentlicher Güter wie beispiels-weise Infrastruktur und Bildung. Im Ge-gensatz zum Klischee vom angeblichen„Nachtwächterstaat” kommen durchaus

auch wirtschafts- und sozialpolitische In-terventionen – wenn auch aus heutigerSicht in bescheidenem Umfang – hinzu.Insbesondere Adam Smith hat sich fürsolche Eingriffe auf den Gebieten desAußenhandels und der Sozialgesetzge-bung ausgesprochen.4 Dieses Ordnungs-modell erfreut sich bei Ökonomen bis indie heutige Zeit einer gewissen Beliebt-heit, in Deutschland wurde es prononciertvon dem Finanzwissenschaftler HorstClaus Recktenwald vertreten. Der soge-nannte Manchesterliberalismus kann vordiesem Hintergrund als eine extreme Va-riante des klassischen Liberalismus be-zeichnet werden. Ohne die Existenzbe-rechtigung des Staates (als Produzent öf-fentlicher Güter) in Frage zu stellen, wirdvon seinen Vertretern äußerste Zurückhal-tung bei der Einmischung in die Wirt-schaftsfreiheit verlangt. Das Manchester-tum mit seinen Hauptvertretern Cobdenund Bright in England, Bastiat in Frank-reich und Prince-Smith in Deutschlandfordert als Ideal den völligen Freihandelund lehnt eine staatliche Sozialpolitik (je-denfalls im Prinzip) ab. Aus den Äußerun-gen wichtiger Repräsentanten kann aberdennoch abgeleitet werden, daß eine mi-nimale Sozialpolitik zur Sicherung desExistenzminimums in außerordentlichenNotlagen akzeptiert wird.5 Als Beispielkann hier die Forderung Prince-Smithsnach Belastung der vermögenden Bevöl-kerungsschichten zur Linderung einertemporären Hungersnot in Notstandsbe-zirken angeführt werden. Ein solcherStaatseingriff wird sowohl humanitär alsauch ökonomisch begründet. Er darf abernur dann erfolgen, wenn die individuelleHilfe und Solidarität an ihren Grenzen an-gelangt ist. Das Credo manchesterliberalerSozialpolitik faßt Prince-Smith dabei mit

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folgenden Sätzen zusammen:6

„So sehr wir also im Prinzipe die wirth-schaftliche Solidarität verwerfen, müssenwir doch in der Praxis mit der humanitä-ren Solidarität paktieren. ... Es mag dieNoth noch so intensiv sein, die Selbsthülfebleibt immer noch die nächste und wirk-samste, und leistet immer verhältnismässigviel mehr, als irgend fremde Beihülfe esvermag.”Grundsatz staatlicher Solidarität müsseaber immer das Subsidiaritätsprinzip blei-ben, das Prince-Smith lange vor dessenPropagierung durch die katholische So-ziallehre ausführlich theoretisch und ampraktischen Beispiel erläutert. Hinsichtlichder Außenhandelspolitik vertritt das Man-chestertum kompromißlosen Freihandel,ein Bestreben, das um die Mitte des 19.Jahrhunderts in Großbritannien (Abschaf-fung der Kornzölle) und Deutschland (er-folgreicher Widerstand gegen protektioni-stische Tendenzen im Gebiet des Zollver-eins) auch von Erfolg gekrönt war.

Die Ära der klassischen Nationalökono-mie und des Manchestertums endete inden letzten Jahrzehnten des vergangenenJahrhunderts, wobei allerdings bis zumAusbruch des I. Weltkrieges die liberaleOrdnung nur wenig verändert wurde (So-zialgesetzgebung, Schutzzölle). Die fol-genden Jahrzehnte standen hingegen imZeichen des marxistischen Sozialismusund des wirtschafts- und sozialpolitischenInterventionismus. Obwohl liberale Theo-retiker7 in jener Zeit nicht müde wurden,auf die katastrophalen Folgen dieser Irr-wege hinzuweisen, kam es erst in der Zeitnach dem II. Weltkrieg zu einer Renais-sance marktwirtschaftlicher Ideen, dieauch Eingang in die praktische Wirt-schaftspolitik fanden.

Dabei ist das Ordnungskonzept des Neo-liberalismus das wohl am schwersten zudefinierende. Heute in der politischen Dis-kussion meist als Kampfbegriff gegen al-les marktwirtschaftliche verwendet, um-fasst es den Versuch, einen von seinen(wahren oder angeblichen) Nachteilen ge-reinigten Liberalismus zu begründen. Alssolche gelten unter anderen die Entstehungeiner sozialen Frage, die Problematik zu-nehmender Wettbewerbsbeschränkungenund unberechenbare Konjunkturschwan-kungen aufgrund fehlender Konjunkturpo-litik. Je nach Forschungsschwerpunkt zäh-len deshalb frühe Theoretiker wie Ludwigvon Mises und Friedrich August vonHayek, aber auch heutige Ökonomen desMonetarismus und der angebotsorientier-ten Schule zu den Vertretern des Neolibe-ralismus. Gemein ist den meisten Vertre-tern das Eintreten für eine lediglich dasExistenzminimum sichernde staatlicheSozialpolitik und das Prinzip des Freihan-dels. In diesem Sinne könnte man denNeoliberalismus auch als Wiederauflagedes klassischen Liberalismus bezeichnen.Neu ist indes die Forderung nach einerstaatlichen Wettbewerbspolitik, die sichaus den in der Ära des klassischen Libe-ralismus beobachteten Wettbewerbsbe-schränkungen durch die völlige Vertrags-freiheit (mit der Folge der Bildung vonKartellen und Monopolen) ergab. Die vor-geschlagenen wettbewerbspolitischen undordnungsrechtlichen Maßnahmen gehenallerdings innerhalb des Neoliberalismusweit auseinander. Sie reichen von der„laissez-faire”-Haltung der Chicago-Schule (Größe und Konzentration alsKennzeichen wirtschaftlicher Leistungs-fähigkeit) bis hin zur starken ordnendenHand des Staats, die die Sicherung einesfunktionierenden Wettbewerbs eine Wett-

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bewerbsordnung einschließlich der hier-zu nötigen rechtlichen und institutionel-len Voraussetzungen schafft. Die letzterePosition wurde einer spezifisch deutschenVariante des Neoliberalismus, dem sog.Ordoliberalismus, der von den Ökonomenund Wirtschaftsjuristen der FreiburgerSchule (Walter Eucken, Leonhard Miksch,Franz Böhm) begründet wurde, vertreten.Hier wird der Wettbewerbsprozeß alsstaatlich organisierte und überwachte Ver-anstaltung gesehen. Auf konjunktur- undwährungspolitischem Gebiet herrscht un-ter den Neoliberalen ähnliche Meinungs-vielfalt. Während der Ordoliberale Wal-ter Eucken ursprünglich eine Warenreser-vewährung als Ersatz der Goldwährungvorgeschlagen hatte, sprechen sich heutedie meisten Vertreter durchaus für dis-kretionäre Konjunkturpolitik – allerdingsmit geldpolitischem Schwerpunkt – aus.Friedrich August v. Hayek plädierte garfür eine Aufgabe des staatlichen Wäh-rungsmonopols. Weitgehende Einigkeit je-doch herrscht bei der Beurteilung sozial-politischer Staatsinterventionen. Die Si-cherung gegen existenzgefährdende Not-lagen wird allgemein akzeptiert, Forderun-gen nach Schaffung „sozialer Gerechtig-keit” jedoch meist abgelehnt.

Der Aspekt der sozialen Gerechtigkeitspielt hingegen im Konzept der sozialenMarktwirtschaft (hier zunächst mit klei-nem „s”) eine wesentliche Rolle und führtuns auf die eingangs vorgestellte Defini-tion von Alfred Müller-Armack zurück.8

Grundprinzip aller Spielarten der sozialenMarktwirtschaft ist es demnach, die Effi-zienz der Marktwirtschaft mit sozialemAusgleich, der natürlich bestimmte Vor-stellungen von sozialer Gerechtigkeit vor-aussetzt, zu verbinden. Zugeschrieben

wird die Begriffsprägung zwar Müller-Armack,9 erstmals verwendet dürfte erjedoch bereits im Jahre 1944 worden sein.Karl Günther Weiss, ein damaliger Mitar-beiter im Reichswirtschaftsministerium,nannte ihn in einer Diskussion mit Lud-wig Erhard.10 Die soziale Marktwirtschaftversucht, eine prinzipiell liberale markt-wirtschaftliche Wettbewerbsordnungdurch ordnungspolitische Gestaltung soauszugestalten, daß die Ergebnisse desWettbewerbsprozesses bestimmten Maß-stäben sozialer Gerechtigkeit und Sicher-heit genügen.11 Sie ist keine Kombinati-on aus freier Marktwirtschaft und sozial-staatlichem Reparaturbetrieb. Vorausset-zungen für die Verwirklichung solch „so-zialer” Ergebnisse des marktwirtschaftli-chen Prozesses sind

– eine Währungsordnung (unabhängigeNotenbank), die dem Ziel der Preisniveau-stabilität verpflichtet ist,– eine Wettbewerbsordnung, die die Ent-stehung von leistungslosen Monopolge-winnen verhindert sowie– eine Wachstums- und Konjunkturpoli-tik, die Vollbeschäftigung sichert undSchwankungen der Wirtschaftsaktivitätabmildert.

Durch diese Komponenten wird sicherge-stellt, daß unsoziale Verteilungswirkungender Inflation (Benachteiligung der Besit-zer kleiner Vermögen) ebenso vermiedenwerden wie Konzentrationen wirtschaft-licher Macht, die mit überhöhten Preisenfür die Konsumenten verbunden sind. DieGewährleistung gesamtwirtschaftlicherVollbeschäftigung schließlich stellt einenEckpfeiler individueller sozialer Sicherheitdar. Im Programm der sozialen Marktwirt-schaft soll sie allerdings nicht durch ex-

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pansive Geld- und Fiskalpolitik im key-nesianischen Sinne, sondern durch eineangebotsorientierte Wachstumspolitik,verbunden mit beschäftigungskonformerLohnpolitik erreicht werden. Zu diesenprimär wirtschaftspolitischen Programm-punkten tritt allerdings die Forderung nachaktiver, aber begrenzter staatlicher Sozial-politik im klassischen Sinne hinzu, da die-se nötig sei, um noch verbleibende sozia-le Härten abzufedern und soziale Sicher-heit in besonderen Lebenslagen (Krank-heit, Arbeitslosigkeit, Alter) zu gewähr-leisten.12 Auch soll ein gewisses Maß an„sozialer Gerechtigkeit” durch ein pro-gressives Steuersystem und staatlicheTransferzahlungen erreicht werden. Ver-treter der sozialen Marktwirtschaft spre-chen sich dabei für marktkonforme Inter-ventionen aus, die das Funktionieren desPreismechanismus nicht behindern. Diesschließt beispielsweise staatlich festgelegtHöchst- oder Mindestpreise aus.

Allerdings lassen sich unter den Vertre-tern der sozialen Marktwirtschaft zwei„Fraktionen” identifizieren. Die eine be-tont, daß das Ergebnis einer ordnungspo-litisch richtig gesteuerten Marktwirtschaftper se „sozial” sei und daß mit zunehmen-dem Wohlstand der Bedarf an klassischerSozialpolitik immer mehr abnehme. Jereicher eine Gesellschaft werde („Wohl-stand für alle”), desto mehr könnten de-ren Bürger für sich selbst sorgen und de-sto eher könnte die Rolle des Staates aufdie eines „Großschadenversicherers” zu-rückgestuft werden. Bekanntester Vertre-ter einer solchen Interpretation von sozia-ler Marktwirtschaft ist sicherlich LudwigErhard, der Vater des deutschen Nach-kriegswirtschaftswunders. Erhard stehtdeshalb eindeutig in der Tradition des

Ordoliberalismus,13 Begriffe wie der der„sozialen Gerechtigkeit” waren ihmfremd, er verwendete diesen Ausdruck inAnführungszeichen.14 Andere Akzentesetzte Alfred Müller-Armack, der demmodernen Sozialstaat größere Bedeutungzubilligte. Während Erhard bereits in den50er Jahren die Belastung mit Steuern undSozialabgaben für zu hoch hielt, ist beiMüller-Armack die Scheu vor steuerfinan-zierten Staatsleistungen deutlich wenigerausgeprägt. Mit Blick auf das Kriteriumder Marktkonformität schreibt er:15

„Selbst eine hohe Besteuerung zugunsteneines sozial- und staatswirtschaftlichenKonsums ist bei Wahl richtiger Steuer-formen eine marktwirtschaftlich durchausneutrale Tatsache, welche die Nachfrage-daten zwar entscheidend verändert, derenBerücksichtigung aber die marktwirt-schaftlichen Spielregeln nicht verletzt.”

An anderer Stelle, bei der Vorstellung sei-nes Programms einer zweiten Phase dersozialen Marktwirtschaft im Jahre 1960lesen wir:16

„Generell kann festgestellt werden, daß dieöffentlichen Leistungen dem, was produk-tionell erreicht wurde, nicht zu folgen ver-mochten... Die Situation, in der wir ste-hen, verlangt gebieterisch eine quantitati-ve Steigerung all jener Aufwandsposten,die die öffentliche Umwelt, in der wir le-ben, erst sinnvoll und harmonisch gestal-ten.”

Diese Sätze könnten auch von John Ken-neth Galbraith stammen. Ein weiteresBeispiel für die unterschiedliche Interpre-tation des Wortes „sozial” findet sich inder Diskussion um die Einführung der

88 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

dynamischen Rente im Jahre 1957. Wäh-rend sich Erhard genauso wie der Ordoli-berale Wilhelm Röpke gegen die massiveAusweitung umlagefinanzierter Staats-leistungen wandte, siegte schließlich dieRationalität des kurzfristigen politischenKalküls. Dem überwältigenden Gewinnder Bundestagswahl 1957 durch die CDU/CSU steht die heute voll sichtbare Bela-stung zukünftiger Generationen gegen-über. Bezeichnend für das unterschiedli-che Verständnis von sozialer Marktwirt-schaft ist es denn auch, wenn Erhards ehe-maliger Staatssekretär Otto Schlecht imJahre 1993 rückblickend äußerte:17

„In den fünfziger Jahren habe ich meineliberale Unschuld verloren, weil ich der-jenige war, der Ludwig Erhard ins Sozial-kabinett begleitet und ihn dabei überzeugthat, daß das Prinzip der dynamischen Ren-te durchaus in seine Wirtschafts- und Ge-sellschaftsordnung paßt.”

Demgegenüber betont Erhard:18

„Wirtschaftliche Freiheit und totaler Ver-sicherungszwang vertragen sich dennauch wie Feuer und Wasser... Besondersunverständlich erscheint dieser Prozeß,weil in dem gleichen Maße, in dem sichder Wohlstand ausbreitet und die wirt-schaftliche Sicherheit wächst, dazu unse-re wirtschaftlichen Grundlagen sich festi-gen, das Verlangen, das so Erreichte ge-gen alle Fährnisse der Zukunft absichernzu wollen, alle anderen Bedenken über-schattet. Hier liegt ein wahrlich tragischerIrrtum vor, denn man will offenbar nichterkennen, daß wirtschaftlicher Fortschrittund leistungsmäßig fundierter Wohlstandmit einem System kollektiver Sicherheitunvereinbar sind.”

Nun zum Problem der Schreibweise desBegriffs „soziale Marktwirtschaft”. So-wohl Erhard als auch Müller-Armack ha-ben meist die Großschreibung verwen-det.19 Damit sollte ausgedrückt werden,daß eine Marktwirtschaft durch geeigne-te Ordnungspolitik „sozial” gemacht wer-den kann und nicht (oder nur in geringemUmfang) eines klassischen Sozialstaatszur nachträglichen Korrektur der sozialenProbleme einer freien Marktwirtschaft be-darf. Die Diskrepanzen zwischen der Er-hardschen und der Müller-ArmackschenVariante sollten hierbei aus heutiger Sichtnicht überbewertet werden. Sie sind an-gesichts der politischen Entwicklung inden folgenden Jahrzehnten, die insbeson-dere ab Mitte der 60er Jahre zur Ausprä-gung eines anderen Verständnisses vonSozialstaat geführt haben, eher von histo-rischem Interesse.Dieses neue Verständnis von sozialerMarktwirtschaft bestand in einer Revita-lisierung der von Erhard und Müller-Armack überwunden geglaubten traditio-nellen Sozialpolitik. Es ging einher miteinem massiven Ausbau staatlicher Sozi-alleistungen und fand seinen Niederschlagin einer drastisch gestiegenen Staatsquote.Hatte diese im Jahre 1950 noch 30,8%betragen und war sie bis 1960 (trotz ge-waltiger Lasten aufgrund der Flüchtlings-eingliederung und des Lastenausgleichs)auf lediglich 32,0% gestiegen, so betrugsie 1970 schon 39,0%. Bis 1982 explo-dierte sie auf 49,8%, um im Zuge dermoderat angebotsorientierten Politik der80er Jahre auf 45,3% im Jahre 1989 zu-rückzugehen. Wiedervereinigungsbedingtbeträgt sie heute über 50%.20 Die über-große Mehrheit der Bevölkerung kann sichder Zwangsmitgliedschaft in der Sozial-versicherung nicht entziehen. Diese weit

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überproportionale Ausweitung der Staats-leistungen trotz eines historisch einzigar-tigen Wohlstandszuwachses steht in kras-sem Gegensatz zu Erhards Einschätzungund deutet auf einen gewissen Luxusgut-charakter sozialer Leistungen hin.21 Er-hard jedenfalls erklärte im Jahre 1974 ent-täuscht, die Epoche der Sozialen Markt-wirtschaft sei längst beendet, das, was ausseiner Sozialen Marktwirtschaft gewordensei, sei von seinen Vorstellungen von Frei-heit und Selbstverantwortung weit ent-fernt.22

Parallel zur Transformation der SozialenMarktwirtschaft der 50er Jahre in einensozialen Versorgungsstaat ist das Wissenum den Bedeutungsgehalt des großen „S”allmählich abhanden gekommen, so daßheute die Schreibweise „soziale Markt-wirtschaft” dominiert. Aus den Äußerun-gen von Parteipolitikern jeder Couleur läßtsich entnehmen, daß Erhards Konzeptdamit nicht gemeint sein kann. Es ist er-setzt worden durch die Konzepte derGlobalsteuerung23 und des Wohlfahrts-staats, wenngleich dieser in Deutschlandquantitativ noch weniger umfangreich alsin Schweden realisiert wurde. Dieses Kon-zept basiert zwar ebenfalls auf einer prin-zipiell (noch) marktwirtschaftlichen Ord-nung, hat sich aber der Realisierung um-fassender „sozialer Gerechtigkeit” mitHilfe der Rechts-, Versicherungs-, Steu-er- und Transferpolitik verschrieben. Was„sozial gerecht” ist, bestimmt sich – man-gels exakter Definition – im politischenProzeß. Da der Sozialstaat heutiger Prä-gung aber – bedingt durch Arbeitslosig-keit, Wachstumsschwäche und demogra-phischen Wandel – zunehmend an seineFinanzierungsgrenzen stößt, ist es abseh-bar, daß neue Wege beschritten werdenmüssen.

Sozialstaat – wieviel ist optimal?

Von entscheidender Bedeutung ist hier dieFrage nach dem wünschbaren Umfangsozialstaatlicher Aktivität.24 Mißt mandiese – etwas vereinfachend – an derStaatsquote, so legen die oben vorgestell-ten Ordnungskonzeptionen folgende Ein-teilung nahe:25

· Libertarianism 0%· Manchestertum und klassischer Libe- ralismus 10-15%· Ordo-Liberalismus und Soziale Markt- wirtschaft 25-30%· soziale Marktwirtschaft 30-50%· Wohlfahrtsstaat über 50%

Die entscheidende Frage der ökonomi-schen Analyse lautet nun: „Welcher Um-fang an Staatstätigkeit führt zu hohemWirtschaftswachstum?” Auf theoretischerEbene ist diese Frage nur schwer zu be-antworten, da sowohl wachstumsfördern-de als auch wachstumshemmende Wir-kungen denkbar sind.26 Als wachstums-fördernd können folgende Punkte genanntwerden:

(1) Sozialstaatlichkeit kann als eine ArtProduktionsfaktor interpretiert werden, dasie den sozialen Frieden fördert und eineberechenbare Grundlage für unternehme-rische Entscheidungen bietet. Hierdurchkann es zu einer Erhöhung der Produkti-vität der klassischen Produktionsfaktorenkommen.

(2) Soziale Sicherheit und soziale Gerech-tigkeit kann die – subjektiv empfundene– Wohlfahrt erhöhen, auch wenn das ma-terielle Sozialprodukt unverändert bleibt.

90 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

(3) Soziale Sicherheit kann die Bereit-schaft zur Übernahme von Risiko durchdie Wirtschaftssubjekte erhöhen, da sie imFalle eines Scheiterns gegen existenzge-fährdende Notlagen abgesichert sind. Dieskann die wirtschaftliche Wachstumsdyna-mik fördern.

Zu negativen Wirkungen auf das Wachs-tum kommt es wenn,(4) überzogene Umverteilungstätigkeit zueinem Nachlassen der individuellen Lei-stungsmotivation, zu Leistungsverweige-rung und zu einem Abwandern in dieSchattenwirtschaft führt.

(5) Ferner beeinflussen Maßnahmen derstaatlichen Sozialpolitik das System rela-tiver Preise. Insbesondere wirkt die gegen-wärtig herrschende Form der Einkom-mensbesteuerung mit der Doppelbesteue-rung des Sparens allokationsverzerrend.Sie reduziert die Kapitalbildung und be-hindert die Durchsetzung des technischenFortschritts.

Ob die positiven oder die negativen Ef-fekte überwiegen, kann nur mit Hilfe em-pirischer Studien geklärt werden. Glück-licherweise existiert eine größere Anzahlsolcher Untersuchungen,27 deren Ergeb-nisse man folgendermaßen zusammenfas-sen kann:

· Ist in der Ausgangssituation ein sehrniedriges Niveau der Staatstätigkeit zubeobachten, so wirken zusätzliche Aus-gaben wachstumsfördernd. Wird jedocheine kritische Grenze überschritten, sobremst die weitere Expansion des Sozial-staats die ökonomische Entwicklung undentzieht sich damit zunehmend ihre Finan-zierungsbasis.

· Legt man die Staatsquote als Indikatorder Staatstätigkeit zugrunde, so ergibt sichein optimaler Wert von ca. 25%.28 Da allewestlichen Industrieländer höhere Werteaufweisen, folgt daraus, daß das Wachs-tum durch eine Rückführung des Staats-anteils gefördert werden könnte. Die ge-genwärtigen Finanzierungsprobleme re-sultieren danach sowohl aus einem über-höhten Niveau der Staatstätigkeit als auchaus induzierten Wachstumsverlusten.

Vergleicht man diese Ergebnisse mit denobigen Zielwerten, so ist ersichtlich, daßdie Vorstellungen einer Sozialen Markt-wirtschaft im Sinne Erhards ein sinnvol-les, wachstumsoptimales Niveau derStaatstätigkeit beschreiben. Dieses Niveauwurde in den Anfangsjahren der Bundes-republik in etwa realisiert, ab Mitte der60er Jahre jedoch zunehmend überschrit-ten. Deutliches Indiz hierfür ist neben dengegenwärtig nur noch sehr geringenWachstumsraten der offiziellen Wirtschafteine rapide expandierende Schattenwirt-schaft, die mit jährlichen Steigerungsra-ten von 7-10% ebenso schnell wächst wiedie offizielle Wirtschaft der Erhard-Ära.Ihr Anteil am offiziellen Sozialproduktbeträgt gegenwärtig etwa 15%.29

Allerdings sollte bei der Analyse der ord-nungspolitischen Entwicklung der Bun-desrepublik nicht nur das Ausmaß ansozialstaatlicher Tätigkeit, sondern auchFaktoren wie die Regulierungsdichte, dasAusmaß an staatlichem Eigentum an Pro-duktionsmitteln, die Freiheit des Außen-handels und die Intensität des Wettbe-werbs berücksichtigt werden.30 Auf die-sen Feldern läßt sich nicht generell einVerfall ordnungspolitischer Sitten konsta-tieren. So ist die generelle Regulierungs-

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dichte im Zuge der Gesetzesflut der letz-ten Jahrzehnte zwar erheblich angestiegen,die jüngsten Privatisierungsprojekte wei-sen jedoch in eine ordnungspolitisch rich-tige Richtung. Der deutsche Außenhan-del ist heute – ähnlich wie der Kapital-markt –wesentlich liberaler als in den 50erJahren, während auf dem Arbeitsmarkt dieRegulierungen – trotz jüngster Reformen– generell zugenommen haben.31 Auchhinsichtlich der Wettbewerbsintensität er-gibt sich ein gemischtes Bild. Zwar er-scheint die Konzentrations- und Fusions-welle in verschiedenen Branchen (Handel,Banken) ordnungspolitisch problematisch,andererseits ist im Zuge der europäischenIntegration auch eine zunehmende Wett-bewerbsintensität (Versicherungen, Ban-ken) zu konstatieren.

Dennoch führt an einer grundlegendenReform des Sozialstaats in Deutschlandkein Weg vorbei. Dabei geht es nicht –wie von Politikern gegenwärtig diskutiert– um geringfügige Korrekturen, sondernum die Beseitigung fundamentaler Fehlerund die Rückbesinnung auf die Prinzipi-en der Sozialen Marktwirtschaft im Sin-ne Ludwig Erhards.

Anmerkungen:1 Harbrecht (1997), S. 190.2 El-Shagi (1997), S. 356.3 Habermann (1996), S. 142.4 Reichel (1996), S. 108.; Streminger (1997), S.11 ff.5 Prince-Smith (1868), S. 202ff.6 Prince-Smith (1868), S. 203.; S. 207.7 An erster Stelle sind hier die zahlreichen Ar-beiten von Ludwig von Mises zu nennen.8 Zu den Unterschieden zum Ordoliberalismusvgl. auch Thieme (1994), S. 22f.9 Müller-Armack (1946), S. 78.

10 Der Spiegel (1997), S. 97.11 Zusammenfassende Darstellungen finden sichbei Thieme (1994) und Dürr (1996).12 Schlecht (1994), S. 8.13 Wünsche (1994).14 Jeske (1998); eine umfangreiche Zusammen-stellung von Äußerungen Erhards findet sich beiHabermann (1994), S. 331ff.15 Müller-Armack (1946), S. 115; ähnlich S. 132.16 Müller-Armack (1960), S. 287.17 Ludwig-Erhard-Stiftung (1994), S. 97f.18 Erhard (1962), S. 148ff.19 So beispielsweise Erhard (1961) und Müller-Armack (1946). Kleinschreibung wird verwen-det in Müller-Armack (1956) und Erhard (1962).20 Lindlar (1997), S. 218; Institut der deutschenWirtschaft (1997), Tab. 80.21 Harbrecht (1997), S. 192ff.22 Zitiert nach Jeske (1998).23 Tuchtfeldt (1973).24 Libertäre Theoretiker mögen diese Frage als„konsequenzialistisch” bezeichnen, was durch-aus zutrifft. Mir geht es allerdings hier nicht dar-um, normativ zu argumentieren. Ich betrachtedie Frage vom Standpunkt der positiven ökono-mischen Theorie und Empirie aus. Vgl. auchHabermann (1996), S. 125f.25 Es ist nicht unproblematisch, hier Exaktheitvortäuschende Zahlen zu nennen. Meine Ab-schätzung stützt sich einerseits auf die histori-sche Erfahrung mit bestimmten Ordnungen, an-dererseits auf Äußerungen maßgeblicher Theo-retiker und Vertreter.26 Legt man libertäre Vorstellungen zugrunde,so macht diese Frage wenig Sinn, da bereits dieBerechnung eines „Bruttosozialproduktes” dieExistenz eines Staates erfordert.27 Heitger (1989); Scully (1995); Harbrecht/Reichel (1998).28 Vgl. beispielsweise Heitger (1989), S. 26.29 Schneider (1998), S. 53.30 Eine hervorragende Gesamtdarstellung derdeutschen Wirtschaftspolitik seit 1948 findetsich bei Giersch/Paqué/Schmieding (1992).31 Görgens (1998).

92 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

Literatur:

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Dr. Richard Reichel (*1961), Diplom-Volks-wirt, ist als wissenschaftlicher Assistent amvolkswirtschaftlichen Institut der Universi-tät Erlangen-Nürnberg tätig. Forschungs-schwerpunkte:Wachstums- und Entwick-lungsökonomie, Ordnungstheorie und -po-litik, Außenwirtschaftstheorie und interna-tionale Wirtschaftsbeziehungen.

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Dr. Jörg Guido Hülsmann (Berlin)Brauchen wir staatliche Armenhilfe?

Als ein wesentlicher Zweck modernerStaaten wird die Umverteilung der Ein-kommen angesehen. Dabei werden zweiähnliche, aber nicht völlig gleiche Zielset-zungen verfolgt. Die erste von ihnen istegalitärer Natur: Jeder Untertan der Re-gierung soll – unabhängig von allen an-deren Erwägungen wie Leistung, Ver-dienst usw. – möglichst das gleiche Ein-kommen beziehen und die gleichen Le-bensumstände genießen. Die zweite Ziel-setzung ist sehr viel bescheidener: Nur die-jenigen sollen in den Genuß staatlicherUmverteilung kommen, die sich nicht auseigener Kraft helfen können. Es geht mitanderen Worten um Hilfe für die Armenund Schwachen der Gesellschaft, für jene,„die durch das soziale Netz gefallen sind”.Im folgenden werde ich kurz die unüber-windlichen Hindernisse besprechen, dieder egalitären Zielsetzung entgegenstehen.Anschließend erfolgt eine grundsätzlicheKritik staatlicher Armenhilfe.1

Egalitäre UmverteilungZwischen den Mitgliedern einer Gesell-schaft kann keine vollkommene Gleich-heit herrschen. Die bloße Tatsache, daßsie nicht identisch sind, bedeutet bereitseine grundlegende Ungleichheit, und die-se Ungleichheit erzeugt immer wiederneue Unterschiede in den Lebensverhält-nissen der nichtidentischen Gesellschafts-mitglieder.Aus diesem Grund macht die Verfolgungegalitärer Gleichheit einen totalen Staat er-forderlich, der in jede Verästelung des in-dividuellen Lebens eingreifen kann. Jegleicher die Individuen durch eine egali-täre Politik gemacht werden, desto deutli-

cher treten auch noch die kleinsten Un-gleichheiten hervor und desto umfassendermuß die Macht des Staates sein, um dieseimmer kleiner werdenden Unterschiede zuplanieren. In ihrer radikalen Form wirdegalitäre Gleichheit daher nur selten an-gestrebt. Sie erinnert zu sehr an OrwellsGroßen Bruder, als daß sie große Über-zeugungskraft entwickeln könnte. Es gibtaber auch Erwägungen, die es zweifelhafterscheinen lassen, ob „Gleichheit der Le-bensverhältnisse“ überhaupt ein erreich-bares Ziel ist. Die grundsätzliche Schwie-rigkeit des Gleichheitsideals liegt darin,daß die Lebewesen dieser Welt und ins-besondere die Menschen nicht einförmigsind. Menschliches Leben ist keine homo-gene Einheit, sondern eine kaleidoskopi-sche Vielfalt. Man kann diese Vielfalt be-schränken, man kann versuchen, jedeÄußerung individuellen Lebens zu unter-binden, und die großen Diktatoren unse-res Jahrhunderts haben das versucht. Dochalle denkbaren Versuche dieser Art sindzum Scheitern verurteilt. Selbst wenn ei-nem zukünftigen Diktator gelänge, wasnoch keinem vor ihm gelungen ist, näm-lich die Reproduktion der Menschheitunter seine Kontrolle zu bringen und dengesamten menschlichen Nachwuchs zuklonen, so könnte er doch nie die erträumteEinheitswelt hervorbringen. Er würde dasmenschliche Leben trist machen, er wür-de ein Jammertal auf Erden schaffen, dochGleichheit der Menschen schüfe er nicht.Denn auch seine Klonenbrut wäre vonmenschlichem Geist beseelt, und dieserGeist ist ein individueller. Jede seiner Re-gungen ist individuell, und ständig bringter Verschiedenheit hervor. Man verklone

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eine ganze Generation – ein paar Genera-tionen später steht die Mannigfaltigkeit er-neut in Blüte. Eine Gesellschaft zu verklo-nen, ohne die Individuen ganz auszurot-ten, gleicht dem Versuch, einen Wasser-topf auf der Flamme zum Frieren zu brin-gen: Es mag gelingen, eine Eisschicht aufder Oberfläche zu erzeugen, aber die tie-fer liegenden Umwälzungen bringt manerst dann zum Stillstand, wenn man auchdie Flamme tötet.Die Individualität des Menschen erscheintvielen abträglich für das Leben in Gesell-schaft. Sie glauben, daß Ungleichheit dieGesellschaft zum Zerbrechen bringt. Wergrößer und stärker, klüger und gebildeterist, meinen sie, dem kann nichts an einergleichberechtigten Zusammenarbeit mitMenschen liegen, die ihm unterlegen sind.Wer alles besser kann als seine Mitmen-schen, dem können diese allenfalls nochals Sklaven nützlich sein. Weit gefehlt!Nicht nur, daß Ungleichheit keiner Gesell-schaft schadet. Es ist geradezu umgekehrt:Auf Mannigfaltigkeit allein beruht jedemenschliche Gesellschaft. Denn wenn alleMenschen gleich wären, könnten sie kei-ne Zusammenarbeit beginnen, die für allebeteiligten Seiten nützlich wäre. Sie hät-ten sich einander schlichtweg nichts zugeben. Nur weil sie unterschiedlich sind,weil sie über verschiedene Gaben und ver-schiedene Ausprägungen ihrer produkti-ven Talente verfügen, kann sich eine Zu-sammenarbeit zwischen ihnen lohnen.Das ist das „Gesetz der komparativen Ko-stenvorteile”, mit dem uns die großarti-gen Ökonomen Ricardo und Mises dasgrundlegende „Vergesellschaftungsge-setz” aufgezeigt haben.2

Egalitäre Gleichheit ist kein sinnvolles Zielfür menschliches Handeln. Es scheitertständig an der Natur des Menschen, und

wird es dennoch verfolgt, so erzeugt esNot und Elend und zerstört damit auchdie Regierung, die sie verwirklichen will.Doch die weitaus meisten Befürwortereiner staatlichen Umverteilungspolitikhaben keineswegs dieses egalitäre Ziel vorAugen. Sie wollen lediglich, daß der Staatden Hilflosen hilft. Mit diesem Anliegenwerden wir uns im folgenden befassen.Dazu sollten wir zunächst klären, was derRuf nach staatlicher Hilfe im Kern bedeu-tet. Was bedeutet es, wenn wir staatlichesHandeln fordern? Die Antwort ist einfachund ernüchternd: daß wir unsere Ziele mitHilfe der Polizei verfolgen möchten.3

Wenn wir vom Staat verlangen, er solleden Armen helfen, dann verlangen wir,daß er andere Leute zwingen soll, denArmen zu helfen. Denn der Staat kann denArmen nur das Geld geben, das er zuvorals Steuern erhoben hat. Soll der Staat alsomehr Steuern für die Armenhilfe eintrei-ben? Ja! rufen die Fürsprecher dieser Po-litik, und stillschweigend fügen sie hin-zu: „... wer nicht zahlen will, kriegt es mitder Polizei zu tun.”Nachdem wir uns diese Tatsache bewußtgemacht haben, können wir unsere Aus-gangsfrage etwas genauer formulieren. Sielautet nicht mehr allgemein: „Brauchenwir staatliche Armenhilfe?”, sondern sieheißt jetzt: „Brauchen wir staatliche Ge-walt, um armen Leuten zu helfen?”

Private Wohlfahrtsproduktion in derneueren GeschichteEin flüchtiger Blick in die Geschichte desneunzehnten und des beginnenden zwan-zigsten Jahrhunderts zeigt uns, wie Armutmit privaten Mittel gelindert werden kann– und wie der Staat diesen privaten Initia-tiven systematisch das Wasser abgegrabenhat.4

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Das wirkungsvollste Mittel war und istdabei ein kräftiges Wirtschaftswachstum.Zu keiner Zeit und an keinem Ort wurdemassenhafte Armut jemals mit bloß phil-anthropischen Mitteln beseitigt. Armut be-deutet ein geringes Realeinkommen, alsoeine geringe Verfügung über Konsumgü-ter. Um Armut zu beseitigen, muß daherviel und vor allem möglichst produktivgearbeitet werden, damit die benötigtenKonsumgüter so schnell wie möglich ent-stehen. Dieser Arbeit fügt der Staat nichtshinzu, wenn er ständig neue Gesetze er-läßt, dieses verbietet und jenes besteuert.Er behindert damit nur die Produktion dergewünschten Güter. Die beste Sozialpoli-tik ist daher eine Wirtschaftspolitik, dieden einzelnen Arbeitern nicht im Wegesteht. Jeden Bürger soll man bei seinerArbeit in Frieden gewähren lassen – dasist die Bedeutung des alten liberalenSchlachtrufs laissez faire!Doch es gab auch eine Vielzahl privaterInstitutionen, die dazu dienten, hilfsbe-dürftigen Menschen unter die Arme zugreifen. Wichtigste Produktionsstätte so-zialer Leistungen war natürlich die Fami-lie, und traditionell waren Frauen die Pro-duzenten einer Vielzahl sozialer Leistun-gen, die von der Kranken- bis zur Alten-pflege, von der Hilfe bei Schulaufgabenbis zur Vermittlung von Werten und Ge-sinnung, vom Kochen und Putzen bis zumHolzhacken reichten. In unserem Jahrhun-dert hat der Staat einen dieser Tätigkeits-bereiche nach dem anderen unter seine Fit-tiche genommen – und dafür müssen dieFamilien zahlen, ob sie die betreffendenLeistungen nun lieber selber erbringenwürden oder nicht.Ein ähnliches Schicksal teilten die priva-ten Wohltätigkeitsvereine, die es in vielenStädten gab. Sie sahen ihre Aufgabe in

der Regel darin, jenen zu helfen, die durchdas soziale Netz der Familie fielen. Da-mit erfüllten sie eine Funktion, die der heu-tigen staatlichen Sozialhilfe entspricht. Siewaren „private Wohlfahrtsproduzenten”.Auch diese privaten Wohlfahrtsproduzen-ten verdrängte der Staat, indem er ihnendie Mittel nahm, auf die sie angewiesenwaren. Denn zur Finanzierung der staat-lichen Sozialhilfe waren höhere Steuernerforderlich, und somit konnten die Bür-ger nicht nur weniger Geld für mildtätigeZwecke spenden, sondern sie verspürtenauch immer weniger Lust dazu. „Was sollich noch spenden, wo ich doch ohnehinmeinen Obulus in Form von Steuergeldernentrichtet habe?” – so dachten und den-ken viele, und das hat eine weitere, schwer-wiegende Konsequenz: Die staatliche Mild-tätigkeit macht die Bürger dem Elend ih-rer Mitmenschen gegenüber zunehmendgleichgültig. Es ist mit anderen Worten derStaat selber, der den vielbeschworenen so-zialen Mörtel bröckeln läßt. Doch dieStaatsfans sehen das anders. Sie nehmendie zunehmende soziale Kälte zum An-laß, noch mehr Steuern für mildtätigeZwecke zu fordern, was natürlich dieGleichgültigkeit gegenüber Mitmenschennoch erhöht.Die private Wohlfahrtsindustrie war nichtbloß auf Familien und Wohltätigkeitsver-eine beschränkt. Viele Berufsgruppen,darunter insbesondere Ärtze und Rechts-anwälte handelten philanthropisch, indemsie ihre Preisforderungen vom Einkom-men der Kunden abhängig machten. Armezahlten weniger, Reiche mehr. Auch die-se Form der Armenhilfe hat sich der Staatangeeignet, um sie sogleich in seinZwangskleid zu stecken und damit jedergleichgerichteten privaten Initiative denWind aus den Segeln zu nehmen.

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Welche geschichtlichen Beispiele aus derProduktion von Wohlfahrtsleistungen manauch nimmt – das Ergebnis ist immergleich: Genau wie in allen anderen Pro-duktionsbereichen handelt der Staat hierverschwenderisch und unangemessen. DieDarreichung der Hilfe ist bekanntermaßenunflexibel und bürokratisch, und daherverfehlt sie die individuellen Bedürfnissehäufiger und gravierender als es bei pri-vater Hilfe der Fall wäre. Im übrigen istaus dem gleichen Grund das Interesse derWohlfahrtsbürokraten an einer Kontrolleder Leistungsempfänger gleich Null.Wenn sie einzelnen Schmarotzern zu sehrauf die Finger schauen, werden sie gleichzurückgepfiffen, da der Maßstab ihresHandelns nicht ihr eigenes Ermessen, son-dern der unbeugsame (und unflexible)Buchstabe des Gesetzes sein soll. Natür-lich schützt uns genau diese Unflexibilitätvor der Willkür einzelner Beamter. Das istja gerade die „Tragik des Staates” – jeneDialektik, daß die Bollwerke, die uns voramtlicher Willkür schützen sollen, dasEinfallstor der Schmarotzer und Tunicht-gute sind. Im Bereich der Wohlfahrtspro-duktion gilt daher genau wie in allen an-deren Produktionsbereichen: Je wenigerStaat, desto besser.Trotz all dieser Argumente hegen die mei-sten Menschen – und auch viele entschie-dene Liberale – Vorbehalte gegen eine reinprivate Wohlfahrtsproduktion. Sie bestrei-ten gar nicht die Berechtigung der obigenÜberlegungen. Ihnen liegt aber etwas an-deres am Herzen, das sie vielleicht so for-mulieren würden: „Es ist richtig, daß derStaat Zwang und Gewalt ausübt und daßer sich hierin von der Bürgergesellschaftunterscheidet. Aber gerade weil bürgerli-che Hilfe nur freiwillig dargereicht wird,kann sie mitunter nicht auslangen. Was ist

denn mit jenen, die durch alle freiwilli-gen Sicherungssysteme gefallen sind?Wenn es keinen Staat gäbe, würden sieverrecken. Deshalb befürworte ich staat-lichen Zwang, um auch diesen Menschennoch in der Not zu helfen.”

Gewaltsame Armenhilfe – der räube-rische Samariter und der StaatDie entscheidende Frage lautet also: Wasist, wenn freiwillige private Hilfe nichtausreicht, um Hilfsbedürftige zu unterstüt-zen? Brauchen wir den Staat nicht wenig-stens dann?Erörtern wir diese Fragen an einem Bei-spiel: Krösus sitzt an einem wohlgedeck-ten Tisch in seinem Garten. Vor sich siehter knusprige Schweinshaxen, saftige Weiß-würste, duftendes Sauerkraut, goldgelbeBratkartoffeln, ein aromatisches Nok-kerlnsüppchen, ein Flasche vom bestenRotwein und was sein Herz nicht sonstnoch begehrt. Nun kommen vier Hunger-leider des Weges. Sie schleppen sich mitletzter Kraft und drohen, in der nächstenStunde den Hungertod zu sterben. Dasalles sieht ein barmherziger Samariter. Erspringt herbei und teilt seine karge Weg-zehrung unter dreien von den Hungerlei-dern auf. Für den vierten reichen seineMittel nicht. Darauf wendet er sich anKrösus: „Sprich Kamarad, willst Du demvierten Hungerleider nicht helfen?” – dochdieser erwidert ungerührt: „Nein.” Da derSamariter nun alle freiwilligen Mittel aus-geschöpft hat und er doch den Hungertodseines vierten Schützlings nicht vermei-den kann, packt er sich einfach ein paarWürste vom Tisch des Krösus und gibtsie dem schon todgeweihten Hungerlei-der.Aus dem Samariter ist also ein räuberi-scher Samariter geworden, eine Art Robin

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Hood, und wenn ich nicht ganz falsch lie-ge, beruhen die Sympathien für die staat-liche Armenhilfe auf den Sympathien, dieräuberischen Samaritern entgegenge-bracht werden. Wie ist dieser Fall mithinzu beurteilen? Stellen wir dabei eine ent-scheidende Frage an den Anfang: Hat derräuberische Samariter gerecht gehandelt?„Es kommt darauf an” sollten wir unsereAntwort einleiten. Denn bislang wurdeneinige Fragen außer betracht gelassen, diefür die Beurteilung der Situation zumin-dest genauso wichtig sind, wie die Sym-pathie, die dem räuberischen Samariterspontan entgegenschlägt. Was ist etwa,wenn der vierte Hungerleider ein Faulpelzist, der sein Vermögen verpraßt hat undalle Ermahnungen zur Mäßigung stets ausdem Wind geschlagen hat, darauf vertrau-end, daß er immer auf Menschen trifft,die ihm helfen? Ein solcher Mensch hättenoch nie für andere gearbeitet. Mit wel-chem Recht könnte er einen Anspruch aufHilfe haben? Welches Recht könnte einenRaub zu seinen Gunsten begründen? Hät-te er den Hungertod nicht verdient? Undnoch eine zweite wichtige Frage haben wirbislang vernachlässigt, nämlich die Fra-ge, wie Krösus überhaupt zu seinem wohl-gedeckten Tisch kam. Was ist, wenn erdie Festtafel durch harte Arbeit erworbenhat? Durch seine Arbeit hat er anderenMenschen – und insbesondere auch armenMenschen – das Leben erleichtert. Was istnun, wenn er sich sagt: „Alle meine An-strengungen sind vergebens, wenn mir dieFrüchte meiner Hände Arbeit geraubt wer-den.” – und daraufhin keine – oder weni-ger – Güter produziert? Würde eine sol-che Entscheidung nicht bedeuten, daß eskünftig vielen armen Leuten schlechtergehen würde? Würde somit der räuberi-sche Samariter mit seiner Menschenliebe

nicht unnötiges Elend in der Zukunft her-aufbeschwört haben?Wer diese Fragen stellt und sie nüchternerwägt, wird vieles von seiner spontanenSympathie für den räuberischen Samari-ter verlieren. Doch fragen wir weiter, fra-gen wir geradeheraus: Was ist, wenn Krö-sus kein arbeitsamer Mensch ist, sondernein Faulpelz, der nur das Glück hatte, alsreicher Erbe geboren worden zu sein? Wasist, wenn der vierte Hungerleider sich kei-neswegs leichtfertig in seine mißliche Si-tuation gebracht hat, sondern durch Erd-beben oder Vertreibung unglücklich umsein Hab und Gut gebracht worden ist?Wäre es nicht wenigstens dann gerecht,Krösus zugunsten des Hungerleiders zuberauben? Nein, auch das ist nicht gerecht.Denn egal, auf welches Recht der räube-rische Samariter sich beruft, es muß eingleiches Recht für alle sein. Genau das isthier aber nicht der Fall. Indem der Sama-riter Krösus beraubt, bestreitet er ihm einRecht, das er für sich selber in Anspruchnimmt. Er bestreitet ihm das Recht aufungestörtes Eigentum am eigenen Körper,an den Früchten der eigenen Arbeit undan allen Gütern, die einem von anderenEigentümern freiwillig übertragen wur-den. Nicht auf Rechtsgründe kann der räu-berische Samariter daher seine Tat zurück-führen, sondern nur auf seine größereGewalt im Moment der Tat. Der Samari-ter handelt also ungerecht, und dadurchmacht er sich an Krösus schuldig. Krösushat ein Recht auf Schadensersatz für dasRaubgut und auf Bestrafung des Täters.Kommen wir somit zu der hier entschei-denden Frage: Folgt aus der Unrechtmä-ßigkeit von Raub und Diebstahl, daß nie-mand rauben und stehlen sollte, um ar-men Menschen (oder wem auch immer)zu helfen? Nein, das folgt nicht daraus.

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Alles, was wir sagen können, ist: daß einesolche Handlung ungerecht ist; daß derTäter die Aneignungsregeln verletzt, aufdenen gesellschaftliches Zusammenlebenberuht, und damit zu einem Verbrecherwird; und daß er sich deshalb dem Opferseines Verbrechens gegenüber schuldigmacht. Das ist alles. Jede Gesellschaft be-ruht auf der gegenseitigen Anerkennungdes gleichen Rechts, das jeder Mensch anseinem Körper, seiner Arbeit und an denanderen Bestandteilen seines Eigentumshat. Aber daraus folgt nicht, daß man Ei-gentum nicht verletzen soll. Ob man dastut oder nicht, ist eine Entscheidung je-des Einzelnen, und zwar eine Grundsatz-entscheidung, die die Teilnahme am Le-ben in Gesellschaft betrifft. Ein Verbre-chen schließt eine solche Teilnahme zwarnicht für immer und ewig aus, doch esbeeinflußt in jedem Fall die Art und Wei-se der künftigen Teilnahme. Man stellt sichdurch die Verletzung von Eigentum im-mer außerhalb der Gesellschaft, aber nurdann dauerhaft, wenn man für die eigeneTat nicht auch mit dem eigenen Eigentumdie Verantwortung trägt. Wenn ein Ver-brecher für seine Tat die Verantwortungträgt und seine Schuld begleicht, kann erwieder in die Gesellschaft zurückkehren.Tut er dies nicht, so stellt er sich dauer-haft neben sie.Kehren wir zu unserem Beispiel zurück.Nachdem der räuberische Samariter demHungerleider mit den geklauten Würstenausgeholfen hat, stellt er sich seinem Op-fer Krösus. Krösus verlangt ein anderesPaar Würstchen als Schadensersatz undein weiteres Paar zu Strafe. Der Samari-ter kauft diese Waren ein oder geht arbei-ten oder arbeitet direkt für Krösus, bis dieSchuld beglichen ist. Darüberhinaus mußer für unabsehbare Zeit damit rechnen, daß

seine Mitmenschen ihm gegenüber miß-trauisch sind, da man nie wissen kann,wann er wieder einen seiner altruistischenAnfälle bekommt. Wie sieht also das End-ergebnis aus? Es läßt sich in drei Punktenzusammenfassen: 1. Dem Hungernden istgeholfen. 2. Der räuberische Samariterfolgte seinem Gewissen; daß er nun vonvielen Mitmenschen geschnitten wird,nimmt er in Kauf. 3. Krösus ist entschä-digt, der Raub wurde bestraft, und derGerechtigkeit ist somit genügegetan. Manbeachte nun folgendes: Kein Staat undkein staatliches Eingreifen war erforder-lich, um diese für alle Seiten befriedigen-de Situation herbeizuführen. Daraus folgt,daß selbst wenn freiwillige private Initia-tive nicht ausreicht, um den Armen (oderwem auch immer) zu helfen, immer nochdie Lösung verbleibt, auch die verbreche-rische Anwendung von Gewalt privat, d.h.verantwortlich zu gestalten – worauf dannder Übeltäter zur Rechenschaft gezogenwird.

Vergleichen wir dieses Ergebnis mit derstaatlichen Armenhilfe.Auch der Staat handelt scheinbar wie derräuberische Samariter. Auch der Staatnimmt einigen Untertanen ihr Hab undGut, um es anderen Untertanen zu geben.Aber trägt der Staat auch die Verantwor-tung für seine Rechtsverletzungen? Wirder überhaupt von irgendjemandem zurRechenschaft gezogen? Nein, das ist nichtder Fall, und hier liegt der große, allesentscheidende Unterschied zum privatenräuberischen Samariter. Diese Verantwor-tungslosigkeit ist es, die sich wie ein roterFaden durch die staatliche Sozialfürsorgezieht und die bekannten negativen Begleit-erscheinungen hervorruft: Zum einen istdie staatliche Fürsorge ethisch völlig

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nichtig. Was kann man sich auch daraufzugute halten, anderen Menschen mit demGeld Dritter zu helfen? Moralisches Han-deln und wirkliche Solidarität setzen un-abdingbar voraus, daß man mit seinemeigenen Eigentum dafür geradesteht. Zumanderen ist die staatliche Fürsorge wahl-los und fordert das Schmarotzertum gera-dezu heraus. Denn nur wer mit seinemeigenen Eigentum Hilfe leistet oder even-tuell in privater Verantwortung das Eigen-tum anderer verletzt, überlegt es sich ge-nau, für wen oder was er das tut. Sobalddiese Verantwortung fehlt, wird die soge-nannte Hilfe wahllos. Jedem kann schließ-lich geholfen werden, wenn es den „Hel-fer” nichts kostet. Aus dem gleichen Grun-de sind die Angehörigen des Staatsappa-rates in der Vergabe der Wohltaten nichtnur wahl-, sondern auch maßlos. EineHilfe reiht sich an die andere, und der Er-findung und Umsetzung immer neuer,„dringend erforderlicher” Sozialprogram-me (letztes Beispiel: Pflegeversicherung)ist keine Grenze gesetzt.Die Produktion von Wohlfahrtsdienstenbraucht keinen Staat.5 Ein freies und blü-hendes Land braucht keine staatlichenHilfen, sondern zupackende und verant-wortungsvolle Bürger.

1 Außer für die Umverteilung wird der Staatvor allem bei der Erfüllung „hoheitlicher Auf-gaben” (d.h. bei der Produktion von Sicherheit)und zur Lenkung der Wirtschaft als unerläßlichangesehen.Zur Kritik des Staates als Produzent von Sicher-heit vgl. den bahnbrechenden Artikel vonGustave de Molinari, „Die Produktion von Si-cherheit”, der im vorliegenden Band erstmals indeutscher Sprache vorliegt; s. insbesondere Mur-ray N. Rothbard, Power and Market, 2. Aufl.,Kansas City, 1977, Kap. 1; ders., For A NewLiberty, 2. Aufl., San Francisco, 1978, Kap. 12;sowie Hans-Hermann Hoppe, Eigentum, Anar-

chie und Staat, Opladen, 1987, S.106ff. Unterdeutschen Autoren siehe auch Detmar Doering,„Recht durch Markt”, in: ders., F. Fliszar, Hg.,Freiheit: die unbequeme Idee, Stuttgart, 1995,S.165ff; Stefan Blankertz, „Eingreifen stattÜbergreifen”, ibid., S.176ff.- Zur Kritik des Staa-tes als Wirtschaftslenker siehe Jean-Baptiste Say,Traité d’économie politique, 6. Aufl., Genf, 1982[1841]; Ludwig von Mises, Nationalökonomie,München, 1980 [1940]; M. N. Rothbard, Man,Economy, and State, 3. Aufl., Auburn/Al., 1993;ders., Power and Market, a.a.O.; Henry Hazlitt,Economics in One Lesson, New York, 1961;George Reisman, The Government Against theEconomy, Ottawa/Ill., 1979.2 Vgl. Ricardo, Principles, Kap. 7 „On ForeignTrade”, Fußnote; Mises, Nationalökonomie,S.126ff.3 Vgl. die unübertroffenen Darlegungen von Fré-déric Bastiat, „La loi”, in: idem, Oeuvres écono-miques, Paris, 1982.4 Vgl. hierzu Arthur Seldon, Hg., Re-PrivatisingWelfare: After the Lost Century, Institute forEconomic Affairs, London, 1996, und die dortangegebene Literatur.5 Diese Aussage läßt sich auf alle sogenannten„öffentlichen Güter” verallgemeinern. Eine bril-liante Darlegung des staatlichen Versagens beider Produktion öffentlicher Güter findet sich beiJ.R. Hummel, „National Goods Versus PublicGoods: Defense, Disarmament, and Free Ri-ders”, in The Review of Austrian Economics, Bd.4, 1990, S.88ff. Hierzu und desweiteren zur Be-gründung der Zweckmäßigkeit und Sittlichkeiteiner staatsfreien Gesellschaft vgl. die in Fuß-note 1 genannten Werke sowie Herbert Spencer,Social Statics, 1. Aufl., New York, 1985 [1851];Rothbard, The Ethics of Liberty, Atlantic High-lands, 1980; Hoppe, A Theory of Socialism andCapitalism, Boston, 1989; ders., The Economicsand Ethics of Private Property, Boston, 1993.

Dr. Hülsmann ist Vorstandsmitglied derneugegründeten Liberalen Akademie Ber-lin und ein Vertreter der ÖsterreichischenSchule der Nationalökonomie. Kontakt:LAB, Hohenzollerndamm 88 A, 14199Berlin

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1. Freiheit oder Zwang – oder Freiheitdurch Zwang?

(1) Lassen sich Freiheit und Zwang mit-einander vereinbaren? Ohne nähere Erläu-terungen zu dieser Frage würde man wohlantworten: Nein. Und das wäre verständ-lich: Nach dem Alltagssprachgebrauch istdas Begriffspaar „Freiheit” und „Zwang”polar: Man befindet sich nach Auffassungdes Alltagsverstandes in dem Maße in ei-nem Zustand der Freiheit, in dem Zwän-ge fehlen. Je mehr Freiheiten, desto weni-ger Zwänge – und umgekehrt. JederZwang vermindert den Grad unsererHandlungsfreiheit und die Zahl unsererHandlungsoptionen – so scheint es.

Freiheit Zwang

Abb. 1: Freiheit und Zwang als polarer Gegensatz

Aber der Alltagsverstand weiß auch umdie freiheitsschaffende Wirkung vonZwängen. Wenn man am Vormittag dieFreiheit haben möchte, alle möglichenDinge zu erledigen, dann tut man gut dar-an, sich von seinem Wecker beizeiten ausdem Schlaf „zwingen” zu lassen. Solcheselbstauferlegten Zwänge finden sich auchnoch in vielen anderen Bereichen des All-tagslebens. Wenn man etwa die Freiheithaben möchte, im nächsten Jahr in Ur-laub zu fahren, dann sollte man dafürschon heute regelmäßig einen bestimm-ten Geldbetrag zurücklegen. Ein selbsteingerichteter Dauerauftrag wäre also eine

milde Form des Zwangs, der dafür sorgt,daß bis zum nächsten Jahr bestimmte(Reise-) Freiheitsgrade überhaupt erst ent-stehen. Kurz: Zwänge sind in dem Maßeunumgehbar, als sie sich als technischeVoraussetzungen für das Erreichen unse-rer Ziele erweisen.Aber natürlich haben bei weitem nicht alleZwänge die Eigenschaft, Freiheitsspiel-räume zu öffnen. Viele Zwänge sindZwänge – nichts sonst. Der Handtaschen-räuber zum Beispiel übt mit seiner Hand-lung einen Zwang auf sein Opfer aus; undfür diejenigen Libertären, die jede Formvon staatlicher Zwangsgewalt ablehnen,ist sogar eine Mehrwertsteuererhöhungeine Form des Zwangs, die einem Hand-taschenraub nicht völlig unähnlich ist. Einanderes Beispiel: Viele (wenn auch nichtalle) Frauen empfinden die Regeln, die inislamistischen Staaten das Verhältnis vonFrau und Gesellschaft bestimmen, als blo-ße Zwänge. Ähnliches gilt für die Regeln,die in unserer Gesellschaft im Zuge derAuseinandersetzung um den § 218 StGBdiskutiert worden sind: Regeln und die fürihre Einhaltung notwendigen Zwänge (et-wa ein spezifiziertes Abtreibungsverbot)können ebenso wie einzelne Handlungenals bloße Zwänge empfunden werden, d.h.als Zwänge, die nicht gleichzeitig auchindividuelle Freiheitsspielräume öffnen.

FreiheitZwang

Zwang

Abb. 2: Der Doppelcharakter des Zwangs

Dr. Gerhard Engel (Mainz und Braunschweig)Liberalismus, Freiheit und Zwang

Freiheit ist ein Kunsterzeugnis der Zivilisation.Friedrich August von Hayek1

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(2) Wir sind Zwängen aber nicht nur dannunterworfen, wenn wir Ziele ansteuern,die wir als Einzelne realisieren können.Wir unterliegen ihnen vielmehr auch undgerade dann, wenn wir in Kollektiven Frei-heiten in Anspruch nehmen wollen – wieetwa die Freiheit, sich ins Auto zu setzenund in die nächste Stadt zu fahren. Manhat diese Freiheit nur in dem Maße, in demman sich auf sein Auto und darauf ver-lassen kann, daß sich alle Verkehrsteilneh-mer an bestimmte Regeln halten. Zwangin Form von Verkehrsregeln macht dasVerhalten anderer Verkehrsteilnehmer be-rechenbar; rechtliche Regelungen ermög-lichen es, im Schadensfall Schuldanteilezuzurechnen; und sie erleichtern es, einenSchadensfall ohne große Umstände undohne ungebührliche Investitionen in mo-ralische Entrüstung abzuwickeln; dennman weiß, daß der Unfallpartner versi-chert ist – andernfalls hätte er keine Num-mernschilder und keine Zulassung bekom-men. Und wenn man außerdem gegen fi-nanzielle Restrisiken versichert ist, dannbleibt das finanzielle Risiko der Teilnah-me am Straßenverkehr überschaubar, sodaß wir die Freiheit, Auto zu fahren, auchpraktisch in Anspruch nehmen können.Oder: Wenn Diskussionsteilnehmer dieFreiheit haben möchten, im Zusammen-hang und für andere verstehbar zu spre-chen, dann müssen sie sich an bestimmteRegeln halten; schließlich können nichtalle gleichzeitig sprechen und dann auchnoch verstanden werden wollen. Aber daman gerade dann anderen gerne ins Wortfällt, wenn man sich besonders mißver-standen fühlt (und wann tut man dasnicht?), kommt man in der Praxis nichtohne einen Diskussionsleiter aus. An ihnüberträgt man eine gewisse Zwangsge-walt: Er darf zum Beispiel jemandem das

Wort entziehen oder die Reihenfolge derWortmeldungen festlegen. Regeln und diesich in ihnen ausdrückenden Zwänge kön-nen also der individuellen Freiheit dienen.

(3) Darüber hinaus ist es aber meist auchnotwendig, noch eine weitere Form vonZwang auszuüben. Denn wir können nichtdavon ausgehen, daß die Menschen frei-willig allen Regeln folgen, die allen be-stimmte Freiheitsgrade eröffnen. Obwohletwa ein unfallfreier Verkehrsfluß im In-teresse jedes einzelnen ist, trägt der indi-viduelle Fahrstil diesem Ziel nicht immerRechnung. Es genügt ja, wenn der jeweilsandere sich an bestimmte Beschränkun-gen hält; man selbst profitiert dann vondem durch andere geschaffenen Sicher-heitsniveau und kann mit viel geringeremRisiko zu schnell oder zu gewagt fahren,als wenn alle anderen das auch täten. Wirmüssen daher auch sicher sein können,daß die anderen die betreffenden Regelnkennen und einhalten. Daher etablierenwir in bestimmten Bereichen nicht nurRegeln, sondern auch Zwänge, die ihreBefolgung sicherstellen sollen (man könn-te sie deshalb „Meta-Zwänge” nennen).Führerscheinprüfungen sowie Polizei-Pa-trouillen und Radargeräte sind der (mehroder weniger) sichtbare Ausdruck solcherZwänge (vgl. Abbildung 3). Die kollekti-ve Einführung von Regeln und von Zwän-gen, die ihrer Absicherung dienen, hataber nicht nur für die unmittelbar Betei-ligten Vorteile. Sie kann sogar noch positi-ve Auswirkungen auf diejenigen haben,die an den entsprechenden Freiheitsgra-den gar nicht interessiert sind. Auch diealte Bäuerin auf dem Dorfe, die gar keinAuto besitzt, kann ihre Lebensmittel undBedarfsgüter letztlich auch deshalb so bil-lig einkaufen, weil das regelgesteuerte

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Transportsystem auf effiziente Weise dienachgefragten Güter in jedem Winkel derRepublik verfügbar macht.2

FreiheitZwang Regel

Zwang

Abb. 3: Regeln zur Sicherung kollektiver Freiheiten

Diese Beispiele zeigen: Freiheit setzt ei-nen umfangreichen Rechtsrahmen voraus.Er definiert (!) und schützt unser Lebenund unser Eigentum und ermöglicht unsdamit zahlreiche Aktivitäten, die wir ohneihn nicht oder nur schwer durchführenkönnten. Nur wenn dieser Rechtsrahmenexistiert, können wir beispielsweise miteinem hinreichenden Grad an Sicherheitannehmen, daß wir den Zeitpunkt unse-rer geplanten Urlaubsreise auch erlebenwerden sowie auch das Geld zurückerhal-ten, das wir anderen anvertraut haben. Erstein Rechtsrahmen für alle schafft und si-chert solche „individuellen” Freiheiten wieeine Auslandsreise. Aber jeder Rechts-rahmen, der uns Freiheitsgrade schafft,schränkt notwendigerweise gleichzeitigauch bestimmte Freiheiten ein: Wir kön-nen bei weitem nicht mehr in jedem Falledas tun, wonach uns gerade ist.3 Freiheit,die mit der der anderen vereinbar ist, mußalso in ein System von Regeln eingebettetsein; sie ist kein „Ziel für sich”, sonderneine Voraussetzung für Freiheiten (Jasay1995, S. 23).Aber auch ein Rechtsrahmen allein wür-de noch nicht genügen. Die Verfolgungunserer jeweiligen individuellen Ziele setztnämlich voraus, daß uns die anderen Men-schen auch die Freiheit zubilligen, sie an-zusteuern: Es ist sinnlos, für eine Aus-landsreise zu sparen, wenn sie von den

Mitbürgern als ein Anschlag auf die eth-nische Solidarität oder als Kollaborationmit den Ungläubigen gewertet würde. DieToleranz anderer Menschen und die (auch)dadurch mögliche staatliche Gewährungvon Freizügigkeit sind ebenfalls notwen-dige Bedingungen für individuelle Frei-heiten.

(4) Wenn Zwänge Freiheitsspielräumeschaffen und sichern, dann können wirdaraus ein Kriterium gewinnen, mit demsich legitime und illegitime Zwänge von-einander unterscheiden lassen. Die Legi-timität von Zwängen hängt demnach da-von ab, ob wir den Zielen, die mit Hilfevon Zwängen erreicht werden sollen, zu-stimmen (können) oder nicht. Wenn wirbeispielsweise nicht selbst den Wecker auf7.00 Uhr gestellt haben, sondern der Wek-ker von einer anderen Person ohne unsereZustimmung gestellt wurde, dann sehenwir diese Form des Zwangs als illegitiman. Und wenn wir ohne unsere Zustim-mung zum Beispiel einen Geldbetrag nichtausgezahlt erhalten, statt dessen aber dieZusicherung bekommen, die Einbehaltungdieses Betrages sei nur zu unserem (lang-fristigen) Wohle geschehen – etwa im In-teresse unserer Alterssicherung –, dann istes zumindest diskussionswürdig, ob essich dabei tatsächlich um legitime Zwän-ge handelt.Wir können die Legitimität von Zwängenalso danach beurteilen, ob sie aus Zielenfolgen, die wir uns selbst gesetzt habenoder mit denen wir uns wenigstens ein-verstanden erklären (können). Wenn wirhier an die aus der Ethik bekannte Unter-scheidung zwischen hypothetischen undkategorischen Imperativen anknüpfen,können wir folgende Unterscheidungentreffen: Hypothetische Imperative gleichen

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technischen Anweisungen: Wenn man einbestimmtes Ziel X erreichen will, dannmuß man Y tun. (Wenn man fernsehenwill, muß man den Fernseher an eineStromquelle anschließen). KategorischeImperative sind dagegen solche, bei de-nen eine Bezugnahme auf eine solcheBedingung fehlt. In der gleichen Weisekönnen wir von hypothetischen und kate-gorischen Zwängen sprechen: Hypotheti-sche Zwänge sind solche, mit denen mansich gewissermaßen automatisch einver-standen erklären muß, wenn man be-stimmte Ziele hat. Kategorische Zwängedagegen können wir solche nennen, diejemanden zu etwas zwingen, ohne daß erden entsprechenden Zielen seine Zustim-mung gegeben hat.

(5) Wer über die Freiheit des Individuumsin der Gesellschaft nachdenkt, kann an dieRegeln folgende Fragen stellen:

1. Welcher Art sind die Regeln, die wir(zweckmäßigerweise) einhalten soll-ten? Es versteht sich von selbst, daßdiese Frage nicht apriori beantwortbarist: Das Wollen der Menschen kann ineiner demokratischen Gesellschaft nurempirisch festgestellt werden.

2. Woher kommen die Regeln, die wireinhalten sollten? Rechtsstaatlich ver-faßte Gesellschaften haben einen (si-cherlich noch verbesserungsbedürfti-gen) Weg gefunden, auf dem die indi-viduellen Präferenzen sich in kollekti-ve Regeln umsetzen.

3. Wie etablieren wir die Regeln, die wireinhalten sollten? Hier werden Proble-me der Durchsetzung, der „Admini-strierbarkeit” von Regeln thematisiert.

4. Brauchen wir überhaupt Regeln?Auch der überzeugteste Libertäre wird

diese Frage mit Ja beantworten; aberer wird darauf verweisen, daß sich dieRegeln, nach denen die Menschen sichihr Zusammenleben organisieren, sichaus den Präferenzen der Beteiligtenschon von selbst ergeben werden –ganz ohne staatliche Bevormundung.

Entsprechende Fragen können wir auchan den Zwangsapparat stellen, der dieEinhaltung der jeweils gewünschten Re-geln sichert:

1´. Welcher Art ist dieser Zwangsapparat?Wenn man diese Frage in deskriptivemSinne auffaßt, dann wird diese Fragevon der vergleichenden Politikwissen-schaft behandelt. Aber auch ein nor-matives Verständnis der Frage ist mög-lich; dann geht es um den optimalenZwangsapparat – wenn bestimmtePräferenzen gegeben sind.

2´. Woher kommt dieser Zwangsapparat?Diese Frage läßt sich in historischerPerspektive behandeln. Aber wir kön-nen auch versuchen, sie mit den Mit-teln der Ökonomik zu beantworten;dann streben wir eine Erklärung mitHilfe theoretischen Wissens an: War-um ist ein bestimmter Zwangsapparatentstanden?

3´. Wie etablieren wir diesen Zwangs-apparat? Genügt da der „gute Wille”,oder müssen dafür ganz bestimmtesoziologische oder ideengeschichtlicheVoraussetzungen erfüllt sein? DieSchwierigkeiten bei dem Versuch,etwa in den osteuropäischen Ländern(vor allem in Rußland) die Marktwirt-schaft zu etablieren, scheinen eher dasLetztere nahezulegen.

4´. Brauchen wir überhaupt einenZwangsapparat? Auch der überzeug-

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teste Libertäre wird diese Frage beja-hen; aber er wird darauf bestehen, daßdieser Zwangsapparat von den ihmunterworfenen Individuen „frei ge-wählt” wurde – was immer das genaubedeuten mag.4

Die verschiedenen Paradigmen des Libe-ralismus unterscheiden sich nun darin,welche Antworten sie auf diese Fragengeben. Eine libertäre Auffassung würdedie Frage 4´ verneinen – oder nur unterder Bedingung akzeptieren, daß es sich beidiesem „Zwangsapparat” nicht um einen„Staat” handelt. Liberale Auffassungen,vor allem die Ordoliberalen,5 neigen da-gegen eher dazu, den Staat bei der Ord-nung der Freiheit für unerläßlich zu hal-ten. Freiheit gibt es nach ordoliberaler Vor-stellung nur im und durch den Staat – odereben nur auf einem erheblich niedrigerenNiveau. Aber welche Partei hat in diesemStreit recht? Versuchen wir, uns einer Ant-wort zu nähern.

2. Von Mises zu Hoppe: Fortschritt oderRückschritt in der Freiheitsdebatte?

(6) In den Jahren 1920 bis 1934 gab es inWien eine bemerkenswerte Institution.Etwa alle 14 Tage trafen sich Nachwuchs-gelehrte, aber auch Studenten und inter-essierte Laien der verschiedensten Fach-richtungen bei dem Nationalökonomenund Gesellschaftstheoretiker Ludwig vonMises zu einem Privatseminar.6 In ihmwurden neben den Grundlagen der Öko-nomie auch Fragen der Wirtschaftspolitiksowie liberale Antworten auf wirtschafts-politische Tagesprobleme erörtert.Warum ist diese historische Tatsache inunserem Zusammenhang erwähnenswert?Zunächst fällt auf, daß man sich nicht in

einem offiziellen Seminar der Wiener Uni-versität traf. Der wichtigste Grund dafürwar, daß Mises einen wirtschaftspoliti-schen Kurs befürwortete, der der damali-gen sozialistischen Praxis in Österreich ra-dikal widersprach. Wenn man, wie Mises,gegen die Vorherrschaft des Staates in derWirtschaft etwas zu sagen wagte, begabman sich in der ersten Hälfte des 20. Jahr-hunderts jedoch freiwillig ins akademischeAbseits. Und nicht nur das: Am 12.3.1936marschierten die deutschen Truppen inÖsterreich ein. Noch am Abend des Ein-marsches drangen die Nationalsozialistenin die Wohnung von Mises’ ein und be-schlagnahmten Bücher, Akten und Manu-skripte. Glücklicherweise war Mises nichtanwesend: Er lehrte zu dieser Zeit in Genf.Mises kehrte auch nicht mehr nach Öster-reich zurück, sondern wanderte schließ-lich nach Amerika aus. Auch dort warseine akademische Karriere steinig: Erlehrte zwar an verschiedenen Universitä-ten, aber sein Gehalt bezog er von einerprivaten Stiftung.Aber obwohl Mises in der akademischenWelt nicht die Anerkennung fand, die ihmmanche seiner Anhänger wünschten, hat-te er dennoch Schüler, die seine Gedan-ken weiterentwickelten. 11 Jahre nach Mi-ses’ Tod, also 1982, gründete sein Schü-ler Murray N. Rothbard zusammen mitdem Journalisten Lewellyn Rockwell dasLudwig-von-Mises-Institut in Auburn,Alabama. Die Publikationen dieses Insti-tuts, etwa das „Libertäre Manifest” (Roth-bard, 1978), sind bislang fast alle unüber-setzt geblieben. Lediglich vom Rothbard-Nachfolger Hans-Hermann Hoppe gibt esein (inzwischen vergriffenes) deutschspra-chiges Buch, in dem das libertäre Pro-gramm systematisch entwickelt wird: dieStudie „Eigentum, Anarchie und Staat.

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Studien zur Theorie des Kapitalismus” ausdem Jahre 1987. In diesem Buch entwik-kelt Hoppe die These, daß Lösungen fürunsere heutigen gesellschaftlichen Proble-me nur Lösungen ohne Staat sein können.Genauer: Wenn wir Wert darauf legen, daßdas menschliche Miteinander nach allge-meinen Vorstellungen von Gerechtigkeitund Freiheit verläuft, dann ist für eine En-tität namens „Staat” kein Platz. HoppesThese lautet:

(I) „[Hier] ... wird die These entfaltet undbegründet, daß es für die Existenz ei-nes Staates ... nicht den Schimmerrechtfertigbarer Gründe gibt”. (Hoppe,1987, S. 9)

Dies sind starke Worte. Aber ist dieseBehauptung wahr? Wenn wir wissen wol-len, ob eine Behauptung wahr ist, solltenwir in einem ersten Schritt fragen, was diebetreffende These bedeutet (1. Schritt),um anschließend fragen zu können, ob siewahr ist, also mit den bekannten Tatsa-chen übereinstimmt (2. Schritt). Undschließlich gilt es, sich zu fragen, ob vonMises mit diesem Satz einverstanden ge-wesen wäre. Ist es so, daß es auch nachAuffassung von Mise’s für einen Staat„nicht den Schimmer rechtfertigbarerGründe gibt”? (3. Schritt) Fragen wir alsozunächst, was die These bedeutet, daß dieExistenz eines Staates nicht gerechtfertigtwerden kann.

(7) Nach politikwissenschaftlichem Ver-ständnis ist ein Staat eine Organisation,die Regeln gegenüber jedermann durch-setzen kann, der sich in ihrem Einflußbe-reich aufhält. Dieser Einflußbereich istterritorial definiert: Die Regeln, die in ei-nem Staat gelten sollen, sind (nur) in ei-nem bestimmten räumlichen Bereich gül-

tig. In der Formulierung „gegenüber je-dermann” liegen sowohl die Chancen alsauch die Risiken des Staates verborgen.In einer optimistischen Version besagt die-se Formulierung, daß der Staat denjeni-gen Regeln zur Geltung verhilft, die all-gemein zustimmungsfähig sind; wenn sichjemand an sie nicht hält, dann wird er imInteresse aller anderen entsprechend sank-tioniert – wie einflußreich er auch seinmag. Das bedeutet, daß der Staat in derTheorie gegen Partikularinteressen resi-stent ist: Wer viel Geld hat, kann sich den-noch keine Gerichtsurteile kaufen; wenndas doch vorkommen sollte, dann betrach-ten wir das als Versagen eben jener Insti-tution, die wir Staat nennen. Niemand soll-te also stärker als der Staat sein – mit die-ser schon von dem englischen PhilosophenThomas Hobbes getroffenen Feststellungsoll den Individuen zugesichert werden,daß sie im Konfliktfalle auf ihren Schutzgegen andere Individuen oder Gruppenrechnen können.Aber es gibt auch eine pessimistische Ver-sion dieser Definition. Denn wenn derStaat Regeln gegenüber jedermann durch-setzen kann, die im allgemeinen Interesseliegen – kann er dann nicht auch Regelndurchsetzen, die nicht im allgemeinen In-teresse liegen? Und genau dies befürch-ten Libertäre, für die der Staat in seinemUmfang schon längst jedes rechtfertigbareMaß gesprengt hat und daher eine grund-sätzliche Staatsskepsis legitimiert. Dennder Libertäre befürchtet: Wenn man demStaat den kleinen Finger gibt, dann nimmter bald die ganze Hand – oder, wie in man-chen westlichen Wohlfahrtsstaaten, 50%des Sozialprodukts und mehr. Denn in derTheorie, so könnte der Libertäre argumen-tieren, mag ein Staat funktionieren undauch gerecht gedacht sein; in der Praxis

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hätten sich die Staaten eben nicht auf dieSicherung und Schaffung individuellerFreiheiten und Gerechtigkeit konzentriert,sondern seien zu aufgeblähten Zwangs-institutionen mißraten, die die Freiheit derBürger in unzulässiger und unzumutbarerWeise beschränken.

(8) Auch Hoppe bietet eine Definition desStaates, aber sie lautet etwas anders:

(II) Staat =def. „jeder Durchsetzer von Rechtund Ordnung” (Hoppe, 1987, S. 149).

Es fällt vielleicht auf, daß hier die Worte„gegen jedermann” fehlen, die noch inDefinition (I) auftauchten. Und vor allem:Offenbar kann es auch mehrere Anbietervon Recht und Ordnung geben („jeder”).Aber auch in dieser Bestimmung zeigensich Chancen und Risiken.Die optimistische Version geht davon aus,daß beliebige Organisationen als Anbie-ter von Recht und Ordnung am Marktauftreten können, und daß diejenige Vari-ante sich „am Markt durchsetzen” wird,die am besten Recht spricht und am be-sten Ordnung schafft, und das noch zuvergleichsweise günstigeren Preisen.Wie ist das zu verstehen? Marktprozesse,also der wechselseitige Tausch von Gü-tern und Dienstleistungen, sind für Pro-duzenten und Konsumenten von Nutzenund können daher prima facie ganz ohneZwang ablaufen: Käufer und Verkäuferwerden „handelseinig”, wenn sie durchden Tausch ihren Nutzen subjektiv erhö-hen. Wer schlechtere oder teurere Produkteliefert als die Konkurrenz, scheidet ausdem Wettbewerb der Anbieter aus – imInteresse aller Konsumenten. Diese Ideeeines durch freiwillige individuelle Zu-stimmungsakte legitimierten Produktions-apparates wird von den Libertariern nun

auch auf die Produktion staatlicher Lei-stungen ausgedehnt: Auch wer am bestenRecht und Ordnung „produziert”, soll sichgegenüber der Konkurrenz durchsetzenkönnen – ganz ohne Zwang.Dagegen besagt die pessimistische Versi-on von (II), daß die Konkurrenz zwischen„Anbietern von Recht und Ordnung” nichtzum Paradies, sondern zur anarchischenKleinstaaterei des 17.–19. Jahrhundertszurückführen würde – wenn nicht gar zueiner Konkurrenz von mafiaähnlichen Or-ganisationen. Denn wenn man zwischenverschiedenen Anbietern von Recht undOrdnung wählen kann – warum sollte sichder einzelne dann einer drohenden Sank-tion unterwerfen, statt sich mit einem an-deren „Anbieter” von Recht von Ordnungzu verbünden? Der Pessimist wird etwaauf das zeitgenössische Rußland oder aufdas einst so vielversprechende Tschechienverweisen, um den Libertarier von derNotwendigkeit einer rechtsstaatlichen Or-ganisation zu überzeugen, ohne die eseben gerade nicht zu einem geregeltenWettbewerb aller mit allen käme, sondernzu einem Kampf aller gegen alle.Wäre man pedantisch veranlagt, dannkönnte man schon jetzt einen Einwandgegen Hoppe vorbringen, und zwar dender begrifflichen Unschärfe. Denn wennwir die Bestimmungen (I) und (II) zusam-mennehmen, dann scheint Hoppe zu sa-gen, „daß es für die Existenz einer Orga-nisation, die Regeln durchsetzen kann,auch nicht den Schimmer rechtfertigbarerGründe gibt.” Aber das wäre eine unfaireInterpretation. Hoppe scheint eher zu mei-nen, „daß es für die Existenz einer Orga-nisation, die Regeln durchsetzen kann,auch nicht den Schimmer rechtfertigbarerGründe gibt.” Wir brauchen nach seinerAuffassung also durchaus Regeln und

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(mindestens) eine Institution, die siedurchsetzt; aber wir sollten keinen Mono-polanbieter von Regeln akzeptieren.

Der erste und wichtigste Unterschied zwi-schen einer Konzeption, die Freiheit durchZwang erzeugen möchte, und einer liber-tären Konzeption, die Freiheit ohne Zwangpropagiert, besteht also in der Einstellungzum Staat als Monopol-Anbieter vonRechtssicherheit sowie von äußerer undinnerer Sicherheit. Ähnlich wie ein Kon-kurrenzmarkt im Interesse der Konsumen-ten ist, weil hier kein Anbieter den Marktbeherrscht, soll nach libertärer Vorstellungauch das Angebot an Sicherheitsdienst-leistungen von so vielen Anbietern stam-men, daß sich keine monopolistischenStrukturen herausbilden können.In vielen westlichen Staaten hatte der Staatnun tatsächlich zahlreiche Anbietermono-pole: Postdienstleistungen, Elektrizität,Schulen, Telekommunikationsanlagen, inmanchen Staaten sogar Banken und dieStahlindustrie – all dies lag nicht selten instaatlicher Hand. Liberale und Libertärehaben allerdings, wenn ich es recht sehe,hier keinerlei Meinungsverschiedenheiten:Sie stimmen darin überein, daß der Staatkeine Anbietermonopole dieser Art besit-zen sollte. Aber der Liberale weiß, daßdies nur mit Hilfe des Staates selbst durch-setzbar ist. Und der Staat ist dabei durch-aus erfolgreich: Die seit 15 Jahren welt-weit zu beobachtende staatliche Deregu-lierungsbewegung schafft Schritt fürSchritt diese Anbietermonopole ab.7

Meinungsverschiedenheiten gibt es jedochauf einem anderen Gebiet: Sollte der Staatauch das „Angebotsmonopol” von Rechtund Ordnung und von äußerer und inne-rer Sicherheit besitzen? Eine liberalisti-sche Position würde diese Frage vernei-

nen, eine (ordo-) liberale Position dage-gen bejahen.

(9) Wir haben also jetzt den Sinn der The-se von Hoppe geklärt. Sie bedeutet: Fürdie Existenz einer zentralen und alleini-gen (also: konkurrenzlosen) Instanz, diebestimmte Funktionen im Interesse allerwahrnimmt, gibt es nicht den Schatteneines vernünftigen Arguments.Wie begründet nun Hoppe seine These?Knüpfen wir an die Schlüsselfragen an,mit denen wir eine gesellschaftstheore-tische Position identifizieren wollten. Fra-gen wir also zunächst, welche Regeln essind, die schützenswert sind (vgl. oben,Frage 1). Es sind nach Hoppe die folgen-den beiden Grundregeln:

• Die erste Regel ist das Gewaltaus-schlußprinzip. Es lautet: „Begründenheißt: gewaltfrei begründen.” Hoppeschreibt:

„Damit eine Aussage als überprüfungs-fähig gelten kann, muß vorausgesetztsein, daß man ohne Anwendung von Ge-walt zu einer einheitlichen Beurteilungihrer Validität [Gültigkeit, G.E.] gelan-gen kann; ist hierfür Gewalt erforderlich,so kann sie nicht mehr als anerkennungs-fähig gelten, da Gewalt aufgrund allge-meiner Anerkennung als nicht-allgemeinanerkennungsfähig gilt.” (Hoppe, 1987,S. 48)

• Die zweite Regel ist das Prinzip desRechts auf ursprüngliche Appropria-tion. Es lautet:

„[J]ede Person kann ... die Verfügungs-gewalt über alle anderen Dinge erlangen,die noch von keiner anderen Person be-arbeitet worden sind, sondern sich im

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Naturzustand befinden, indem sie dieseSachen ihrerseits als erste bearbeitet unddamit für jedermann erkennbar als ihr Ei-gentum sichtbar macht. Sind Dinge ersteinmal auf diese Weise angeeignet wor-den, dann kann Eigentum an ihnen nurnoch aufgrund freiwilliger vertraglicherÜbertragung von Eigentumstiteln voneiner Person auf eine andere begründetwerden. Jeder Versuch, sich Eigentumauf andere Weise anzueignen, ... ist ...Aggression.” (ebd., S. 13f.)

Eigene Tätigkeit ist also etwas, das für unsdas Eigentum an einem Ding begründet.Um mit John Locke zu sprechen: Ich ver-mische meine Arbeit mit einer bislangherrenlosen Sache, und dann gehört siemir. Wenn ein anderer danach auf die glei-che Sache zugreift, habe ich das Recht aufVerteidigung meines Eigentums. Wir kön-nen nach Hoppe beispielsweise an einemWald, der bislang niemandem gehört, da-durch Eigentumsrechte erwerben, daß ichmich in ihm vergegenständliche, indemich etwa einen Maschendrahtzaun darumherumziehe oder ihn hege und pflege, je-denfalls irgendwelche Spuren meiner Tä-tigkeit darin hinterlasse. „Ursprüngliche”Appropriation, also die Aneignung bislangherrenloser Güter, vollzieht sich durch Ar-beit. Natürlich dürfen wir auch Gegenstän-de nutzen, die schon jemandem gehören.Dies ist jedoch nur zulässig, wenn unsdiese Gegenstände per Vertrag oderTausch übereignet wurden.Nach Hoppe kann man Eigentum also nurauf drei Wegen legal erwerben: durch ur-sprüngliche Appropriation oder aber durchTausch und Überlassung (Schenkung undErbe). Jeder Beteiligte muß hier seine Zu-stimmung geben.8

(10) Wie begründet Hoppe nun diese bei-den Prinzipien? Nicht durch Erfahrung,etwa durch den konsequentialistischenHinweis auf die Folgen bestimmter Eigen-tumsordnungen. Es ist nach seiner Auf-fassung für Begründungszwecke unerheb-lich, ob wir beobachten können, daß dieMenschen nicht wollen, daß ihnen Gewaltangetan wird und daß sie in der Regel auchkeine Gewalt anwenden. Es ist ebenfallsunerheblich, daß sie nicht wollen, daß ihrEigentum unrechtmäßig entwendet oderbenutzt wird. Begründungstheoretisch be-deutsam ist allein dies: daß sie das allesnicht wollen können. Entscheidend fürHoppes Begründung seiner Grundsätze istalso nicht, daß diese Prinzipien faktischanerkannt sind, sondern daß ihr Gegen-teil nicht konsistent behauptet werdenkann. Er begründet also nicht empirisch,mit dem Hinweis auf Fakten, sondernapriorisch: mit dem Hinweis auf (angeb-liche) Denknotwendigkeiten. Denn wennwir das Recht auf Eigentum an selbster-arbeiteten Dingen nicht anerkennen wür-den, dann könnten wir uns nur unter Ver-stoß gegen das erste Prinzip des Gewalt-ausschlusses die Früchte fremder Arbeitaneignen: Nur durch Argumente lassensich andere kaum davon überzeugen, unsohne Gegenleistung an ihren Gütern teil-haben zu lassen. Daher sind es auch nichtdie gewöhnlichen Bürger, die sich über diegenannten Prinzipien hinwegsetzen:

„Es gibt in der Realität nur eine Gruppevon Personen, die regelmäßig gegen dasdargestellte, objektiv begründbare Regel-system verstoßen, – die Gruppe der denStaat und seine Organe verkörperndenPersonen.” (Hoppe, 1987, S. 16)

Daraus folgt: Ein Staat ist nach Hoppe eineInstitution, die sich von der Mafia nur gra-

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duell unterscheidet. Seine Beamten er-scheinen in dieser Perspektive wie Mafio-si, die eines schönen Tages in der Pizze-ria erscheinen und verkünden, daß vonnun an jeder Zehnte ihnen gehöre – imInteresse des Mobiliars und der Gesund-heit des Personals und der Gäste.Was kann man nun gegen diese Behaup-tung vorbringen? Zunächst dieses: Diebeiden zitierten Grundsätze sind keines-wegs apriori. Wären sie es, dann könnteman das Gegenteil dessen, was in denGrundsätzen behauptet wird, nicht beob-achten. Es ist denknotwendig, daß es ent-weder regnet oder nicht regnet; beidesgleichzeitig wird man nicht beobachtenkönnen. Es ist vielleicht auch noch denk-notwendig, daß zwei Äpfel und zwei Äp-fel vier Äpfel ergeben; man wird dahersehr überrascht sein, wenn man im Ladenetwas anderes feststellen würde. Aber inder Realität beobachten wir durchaus, daßdas „Recht” auf Leben und Unversehrt-heit nicht immer mit der wünschenswer-ten Ausschließlichkeit gilt – und daransind bei weitem nicht nur die staatlichenAkteure schuld.9 Außerdem ist das schein-bar so einleuchtende „apriorische” Ge-waltausschlußprinzip alles andere als klar:Denn was ist Gewalt? Zählt auch „struk-turelle Gewalt”10 dazu? Oder psychischerDruck? All dies wird nicht erläutert. Wich-tiger noch: In einer komplexen Wirtschaftsind Eigentumsfragen oft umstritten undbedürfen erst einer rechtlichen Regelung.Es ist beispielsweise oft nicht klar, aufwelche Weise wir Eigentumsrechte defi-nieren sollen und wie wir Verträge inter-pretieren sollen, die auf bestimmte Fra-gen keine klare oder gar keine Antwortvorsehen.11 Wir brauchen daher eine Ent-scheidungsinstanz, die hier kollektive Ver-bindlichkeiten schafft – ohne daß die

unterlegene Partei anschließend einfach„den Anbieter von Recht und Ordnung”wechseln kann und sich um die getroffe-ne Entscheidung nicht kümmert.Aber noch ein anderes Argument sprichtgegen eine grundsätzliche Staatsskepsis.Denn in der Realität kommt es regelmä-ßig zu Verstößen gegen die genannten„apriorischen” Grundsätze, und zwarüberwiegend nicht von staatlicher Seite.Die sozialen Probleme, vor denen wir nachHoppe stehen, kommen keineswegs nurdadurch zustande, daß wir auf staatlicherSeite kleptokratische und selbstherrlicheAkteure haben und ansonsten nur fried-liebende Bürger, die von seinen apriori-schen Grundsätzen durchdrungen sind.Vielmehr schafft erst die empirische Un-einigkeit staatlichen Regelungsbedarf; wirbenötigen in solchen Fällen eine Instanz,die eine von allen anerkannte Entschei-dung trifft. Und oft genug ist der Staatnicht zu stark, sondern im Gegenteil zuschwach: Ein starker Staat würde sichdurch private Partikularinteressen nicht soleicht instrumentalisieren lassen. Hoppesstaatskritischer Manichäismus („Die Men-schen sind gut, der Staat ist schlecht; alleZwischentöne stören nur die Heilsgewiß-heit”) überzeugt mich daher nicht.

(11) Man kann nun einen Schritt weitergehen und sich fragen, ob es die vomLiberalisten behaupteten Rechte „vonNatur aus” überhaupt gibt: Sind sie nichteher das Ergebnis von Einigungsprozes-sen, also von Konventionen? Und gibt esFreiheiten möglicherweise ebenfalls nichtvor der Gesellschaft oder gegen die Ge-sellschaft, sondern nur in der Gesellschaft?Aber unabhängig davon, daß hier ganzandere Denkansätze möglich sind, stellenwir uns eine einfache Frage: Ist diese Auf-

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fassung Hoppes im Sinne von Ludwig vonMises, dem das Institut, an dem Hoppewirkt, seinen Namen verdankt? Vielleichtgenügt es, hier mit einigen Zitaten Klar-heit zu schaffen. Mises schreibt:

„Die gesellschaftliche Einrichtung, diedurch Anwendung von Zwang und Ge-walt die gesellschaftsschädlichen Leutedazu bringt, sich an die Regeln des ge-sellschaftlichen Zusammenlebens zu hal-ten, nennen wir Staat, die Regel, nachdenen dabei vorgegangen wird, Rechtund die Organe, die die Handhabung desZwangsapparates besorgen, Regierung.Es gibt freilich eine Sekte, die glaubt,man könnte auf jede Art von Zwangs-ordnung ohne Gefahr verzichten und dieGesellschaft ganz auf der freiwilligen Be-folgung der Sittengesetze aufbauen. DieAnarchisten halten Staat, Rechtsordnungund Regierung für überflüssige Einrich-tungen in einer Gesellschaftsordnung,die wirklich dem Wohle aller dient undnicht nur den Sonderinteressen einigerPrivilegierter. ... [Aber der Anarchist ...]fehlt ...darin, daß er annimmt, daß alleohne Ausnahme geneigt sein werden,diese Regeln freiwillig zu befolgen. ...Der Anarchismus verkennt die wahreNatur des Menschen, er wäre nur durch-führbar in einer Welt von Engeln undHeiligen.Liberalismus ist nicht Anarchismus; Li-beralismus hat mit Anarchismus nichtdas geringste zu tun.” (Mises, 1927/1993, 32; 33)

Deutlicher kann man es, wie ich finde,nicht sagen. Alles andere wäre auch einRückfall hinter Hobbes; denn bereits die-ser englische Philosoph erkannte klar diehier auch von Mises erwähnte dilemma-tische Struktur sozialen Handelns: Manselbst ist nur bereit, sich an Regeln zu

halten, wenn die anderen es auch tun.12

Und damit dies geschieht, schafft manKontrollinstitutionen, die man, wenn manwill, „Staat” nennen kann. Fehlt diese In-stanz, gibt es letztlich keinen rationalenGrund, sich an Regeln zu halten.

(12) Aber nicht nur Ludwig von Mises hatdie Vorstellung kritisiert, nach der wir ineiner modernen Wirtschaftsordnung ohnestaatliche Institutionen auskommen kön-nen. Das gleiche gilt für Adam Smith, ei-nen der Väter des klassischen Liberalis-mus. Smith entwarf fast so etwas wie eineliberale Ordnungspolitik im Sinne des 20.Jahrhunderts. Denn entgegen einer ver-breiteten Meinung war Smith nicht einTheoretiker des „Laissez-faire”, sonderner erkannte die Bedeutung staatlicher In-stitutionen für den „Wohlstand der Natio-nen” (Wille und Gläser, 1977) – und zwarauf Grund von empirischen Betrachtun-gen: Im Unterschied zu Hoppe wird beiSmith die Frage, was der Staat tun sollte,gerade nicht auf Grund von apriorischenGrundsätzen beantwortet.13 Was den„Wohlstand der Nationen” erhöht, wirderforscht, nicht postuliert. Nach Smithsollte der Staat− die Wissensvermittlung organisieren

(nicht: betreiben!), um die Menschenvor den negativen individuellen Folgender Arbeitsteilung zu schützen (Stre-minger, 1995, S. 177),

− die Marktordnung sichern und ausbau-en, etwa durch die Senkung oder Ab-schaffung der Zünfte und Zölle,

− die Konsumenten vor Monopolenschützen,

− Monopole bei teuren oder riskanten Pro-duktionsverfahren selbst betreiben (!),

− für innere und äußere Sicherheit sor-gen,

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− das Gesundheitswesen (Seuchenvor-sorge) organisieren,

− eine Infrastruktur (Straßen, Brücken,Wasserstraßen) bereitstellen, die zu ka-pitalintensiv ist, als daß sie durch pri-vate Kapitaleigner bereitgestellt werdenwürden,

− die Rechtsaufsicht über Wirtschafts-und Arbeitsverträge sicherstellen,

− den Banknotenumlauf regulieren,− und für einen Patentschutz sowie den

Schutz geistigen Eigentums eintreten(Wille und Gläser, 1977, 276–286).

Der Staat sollte aber weder in den Markt-prozeß eingreifen (Smith lehnte sogarstaatlich veranlaßte Transfereinkommenab) noch ein monopolistischer Betreibervon Unternehmen sein, die auch privat-wirtschaftlich organisiert sein könnten.Natürlich ist diese Liste der Staatsaufga-ben weder vollständig noch sakrosankt.Sollte sich herausstellen, daß sie zu langoder zu kurz oder unzweckmäßig ist, mußsie korrigiert werden. Ein Liberaler besitzteben kein apriorisches Wissen über dieMittel, mit denen die Freiheiten der Bür-ger erhöht werden können.Ich möchte nicht mißverstanden werden.Liberale und Libertäre gehen ein gutesStück ihres Weges gemeinsam, etwa beimKampf gegen staatliche Fehlleistungenund gegen eine zu hohe Staatsquote; undich gebe zu, daß in unseren Wohlfahrts-staaten liberale Prinzipien durchaus nochweitaus stärker zur Geltung kommen kön-nen und sollen. Aber bis zu welchemPunkt dieser Kampf geführt werden soll-te; ob es nicht auch positive Seiten desStaates gibt; ob man nicht auch beim Ab-bau des Staates des Guten zu viel tun kann– das alles scheint mir noch unzureichendanalysiert zu sein.

3. Libertarianismus – eine Variante desFundamentalismus?

(13) Wir können diese Behauptung sogarnoch verschärfen. Mir scheint, daß imLibertarianismus Behauptungen zu findensind, die einen fundamentalistischen Cha-rakter haben. Was ist Fundamentalismus?Fundamentalisten hießen ursprünglich je-ne amerikanischen Protestanten, die ge-gen die naturwissenschaftliche Aufklä-rung und (!) gegen die theologische Her-meneutik darauf bestanden, daß die Bi-bel, insbesondere der biblische Schöp-fungsbericht, wörtlich zu nehmen ist(Spaemann, 1989, 47). Die Ergebnisse derNaturwissenschaft, insbesondere die Evo-lutionstheorie, könnten nach fundamen-talistischer Auffassung gegen die Bibelnichts ausrichten, denn Gott habe die Na-turgesetze sowie alle Fakten, die uns andie Evolutionstheorie glauben lassen, vor5.100 Jahren eben gleich mitgeschaffen.Daher mögen uns naturwissenschaftlicheBefunde glauben lassen, daß die Welt einpaar Milliarden Jahre alt ist, aber in Wirk-lichkeit sei es eben ganz anders.Aber auch die theologische Tradition kön-ne gegen die Bibel nichts ausrichten, denndie Wahrheit eines Textes lasse sich ohnehermeneutische Umwege „in ihm selbst”finden. Das Problem, welche der mögli-chen Auslegungen eines Textes die maß-gebende ist und „die Wahrheit sagt”, wirdnicht etwa durch das Verstehen einer In-terpretationstradition, sondern durch Evi-denz, Intuition und gegenseitige sozialeBestätigung gelöst. Unfreundlich ausge-drückt: Komplexität wird nicht durch Er-fahrung und Denken, sondern durch Ka-meraderie reduziert.14

Fundamentalisten gehen also zum Zweckihrer Weltdeutung und ihrer praktischen

112 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

Orientierung auf feste Fundamente zu-rück, die sie in einer „unmittelbaren”,nicht durch Interpretationstraditionen dif-ferenzierten Auslegung von Texten, in derIntuition oder in „apriorischen” Sätzen fin-den und die durch Erfahrung nicht korri-giert werden können. Erfahrung und kri-tisches Denken richten daher gegen Fun-damentalisten nichts aus: Nicht ihr Er-wartungshorizont oder ihre Theorien, son-dern ihre Erfahrungen werden korrigiert.Auf diese Weise gerät ein radikaler Funda-mentalismus „[...] weder mit der Logiknoch mit der Erfahrung in Konflikt [...]”(Spaemann, 1989, S. 47).

(14) Nun will ich hier natürlich nicht be-haupten, daß die meisten oder gar alle Li-bertarier Fundamentalisten im genanntenSinne seien. Aber die im folgenden auf-geführten Parallelen zwischen einer fun-damentalistischen Theorie des islamischenStaates15 und einer libertären Positionscheinen mir doch auch nicht völlig zu-fällig zu sein. Sie zeigen wenigstens dies:Eine libertäre Staatskritik beinhaltet fun-damentalistische Tendenzen, auf die ge-achtet werden muß, um nicht das libertäreAnliegen – mit dem der (Ordo-)Liberale,wie erwähnt, ja durchaus sympathisiert –zu diskreditieren. Sollte die Überzeugungvom Staat als Wurzel allen Übels nämlichnicht mehr das Ergebnis kritischer Dis-kussion, sondern ihr Axiom darstellen,dann wäre ein entscheidender Schritt inRichtung auf einen libertären Fundament-alismus getan. Sehen wir uns daraufhineinige Gemeinsamkeiten von fundamenta-listischem Liberalismus, wie ihn Hoppevertritt, und fundamentalistischem Isla-mismus im Sinne von Ayatollah Chomeinian (vgl. Tabelle 1). Die Parallelen liegenin folgenden Punkten:

− Für beide Konzeptionen sind Normenohne Rückgriff auf Erfahrung begründ-bar – durch Hinweis auf ihren apriori-schen Charakter bzw. ihre textliche Ver-ankerung.

− Eine genaue Beachtung der entspre-chenden Normen macht Herrschaftüberflüssig.

− Beide Konzeptionen leiten aus den Nor-men detaillierte Rechtsvorschriften ab,die nicht Ergebnis generalpräventiverZweckmäßigkeitsüberlegungen sind.

Natürlich unterscheiden sich beide Kon-zeptionen inhaltlich. Hoppe vertritt das„Retributionsprinzip”, also den Grund-satz, daß die Strafe dem Verbrechen mög-lichst exakt gleichen solle oder aber demOpfer wenigstens ein Recht auf Entschä-digung einräumt. Ein Mord zum Beispieldarf nach Hoppe mit der Todesstrafe, eineKörperverletzung mit einer Körperverlet-zung bestraft werden. Und wer etwasstiehlt oder raubt, muß (mindestens) denGegenwert erstatten. Er schreibt:

„Die Tat bestimmt exakt, wie die Strafeaussehen darf; und genauso exakt, wie sienicht aussehen darf.” (Hoppe, 1987, S.115).

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 113

Die von Chomeini aus dem Koran ent-nommenen strafrechtlichen Normen sindebenfalls nicht das Ergebnis von erfah-rungsbasierten Zweckmäßigkeitsüberle-gungen, sondern sie ergeben sich aus derTextexegese: Darf der Statthalter des Pro-pheten weniger peitschen, als im Koranvorgesehen ist? Nein – allerdings (immer-hin!) auch nicht mehr (Chomeini 1983,S. 62). Hier gilt entsprechend: Der Textbestimmt exakt, wie die Strafe aussehendarf; und genauso exakt, wie sie nichtaussehen darf.

Aber moderne, offene Gesellschaften sindgerade dadurch charakterisiert, daß sienicht unwandelbare Grundsätze exekutie-ren, sondern der Erfahrung einen entschei-denden Platz einräumen. Grundsätze, diewir ohne Rücksicht auf ihre Folgen in derRealität anwenden, können keine ernstzu-

nehmenden Enscheidungshilfen bei derBeurteilung praktischer Fragen sein.

4. Zusammenfassung

1. Zwang, auch staatlicher Zwang, kannfreiheitsschaffende Auswirkungen ha-ben.

2. Freiheit ohne Zwang kann im Ergebnisnur zum Krieg aller gegen alle – genau-er: zur anarchistischen Kleinstaatereivergangener Jahrhunderte zurückfüh-ren.

3. Die dogmatische Einführung des Re-tributionsprinzips wäre ebenfalls einRückschritt, sie bedeutete im Extremdie Wiederzulassung der Blutrache.

4. Die Legitimität von Zwängen kannnicht erfahrungsunabhängig ermitteltwerden. Weder der Koran noch angeb-lich erfahrungsunabhängige Grundsät-

Fundamentalistischer Liberalismus (Hoppe)

„Im Unterschied zu empirischen Aus-sagen lassen sich Normen ohne Rück-sicht auf Erfahrung begründen.” (Hop-pe, 1987, 13)

Herrschaft ist vermeidbar, da alle Men-schen in Bezug auf rechtfertigungs-fähige Regeln übereinstimmen. (ebd.,42)

„Das Retributionsprinzip ... bringt dasdenkbar höchste Maß an Rechtssicher-heit ... mit sich: Jedermann weiß zu je-der Zeit genau, wie die zukünftige Be-strafung ... aussehen wird.” (ebd., 116)

Fundamentalistischer Islamis-mus (Ayatollah Chomeini)

„Nach dem Koran sind die Gesetze desIslams nicht an Raum und Zeit gebun-den. Sie sind ewig gültig, und ihre An-wendung ist immer Pflicht.” (Chomei-ni, 1983, 33)

„Das Ziel ist, den Menschen zu erzie-hen, einen vollkommenen und gebilde-ten Menschen, der die lebendige Ver-körperung des Gesetzes ist und die Ge-setze freiwillig und selbsttätig verwirk-licht.” (ebd., 36)

„Der heilige Koran und die Sunna ent-halten alle Weisungen und Gesetze, dieder Mensch zum Glück und zur Voll-kommenheit braucht.” (ebd., 37)„In diesem globalen Rechtswerk findetman alles, was man braucht.” (ebd., 36)

Tabelle 1. Libertärer und islamischer Fundamentalismus im Vergleich

114 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

ze des Anarchismus können eine Er-forschung dessen ersetzen, was dieMenschen als legitim ansehen und wieihren Präferenzen zur Realisierung ver-holfen werden kann.

5. Der Libertarianismus läuft Gefahr, fun-damentalistisches Denken zu adoptie-ren, wobei er sich systematisch von denErgebnissen der empirischen Wissen-schaften abkoppelt.

6. Freiheit durch staatlichen Zwang bleibtdie einzig rationale Alternative für mo-derne Gesellschaften – wobei man zu-gestehen sollte, daß gegenwärtig natür-lich nicht alle existierenden Zwängelegitim und zweckmäßig sind.16

Aber dies alles ändert nichts daran, daßder Dissens zwischen beiden Konzeptio-nen diskutiert werden kann und muß; dennschon Ludwig von Mises wußte, daß ge-sellschaftlicher Frieden und die Identitätder Bürger von ihrer Übereinstimmung inzentralen gesellschaftlichen Leitvorstel-lungen abhängt. Kurz: Liberale und Liber-täre sind gezwungen, gemeinsam über dieRolle des Zwangs nachzudenken.

Literatur:

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Chomeini, Ayatollah Ruhyollah (1983): Der islami-sche Staat. Aus dem Persischen von NaderHassan und Ilse Itscherenska. Berlin (Ost):Klaus Schwarz.

Eucken, Walter (1952): Grundsätze der Wirtschafts-politik. Tübingen: Mohr (Siebeck). 6. Aufl.1990.

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Hayek, Friedrich August von (1977): Drei Vorlesun-gen über Demokratie, Gerechtigkeit und So-zialismus. Tübingen: Mohr (Siebeck).

Hobbes, Thomas (1634/1992): Leviathan. Oder:Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen undbürgerlichen Staates. Hrsg. und eingeleitet vonIring Fetscher. Frankfurt am Main: Suhrkamp.5. Aufl. 1992.

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Hoppe, Hans-Hermann (1987): Eigentum, Anarchieund Staat. Studien zur Theorie des Kapitalis-mus. Opladen: Westdeutscher Verlag.

—— (1993): Einführung: Ludwig von Mises und derLiberalismus. In: Mises (1927/1993), S. 7-41.

Jasay, Anthony de (1995): Liberalismus neugefaßt –für eine entpolitisierte Gesellschaft. Berlin:Propyläen.

Mises, Ludwig von: Liberalismus (1927/1993). Hrsg.von Hans Hermann Hoppe. Sankt Augustin:Academia-Verlag 1993.

Nutzinger, Hans G. (1993): Art. „Ordnungspolitik“.In: Georges Enderle et al. (Hrsg.): Lexikon derWirtschaftsethik. Freiburg: Herder, Sp. 784-793.

Rothbard, Murray N. (1978): For a New Liberty. TheLibertarian Manifesto. New York: LibertarianReview Foundation.

Spaemann, Robert (1989): Das Wort sie sollen las-sen stahn. Versuch über den Fundamentalis-mus. In: DIE ZEIT 52, 22.12., S. 47–48.

Streminger, Gerhard (1995): Der natürliche Lauf derDinge. Essays zu Adam Smith und DavidHume. Marburg: Metropolis.

Weber, Max (1920/1960): Rechtssoziologie (1920).Aus dem Manuskript herausgegeben von Jo-hannes Winckelmann. Neuwied und Berlin:Luchterhand.

Wille, Eberhard und Martin Gläser (1977): Staatsauf-gaben bei Adam Smith. Eine Würdigung un-ter Allokationsaspekten. In: ORDO 28, S. 34–73. Wiederabgedruckt in: Horst Claus Reckten-wald, Hrsg.: Ethik, Wirtschaft und Staat. AdamSmiths politische Ökonomie heute. Darmstadt:Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985, S.262–286.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 115

Anmerkungen:

1 Hayek (1977), S. 26.2 In der Sprache der Ökonomik gesagt: Hiergibt es positive externe Effekte des Regelsystems“Straßenverkehr”. Natürlich gibt es auch nega-tive externe Effekte wie Abgase und Lärm. Aberda es Mode geworden ist, nur von den negati-ven Effekten zu reden, sollten die positiven dochzumindest gelegentlich erwähnt werden.3 Freiheit bedeutet also nicht einfach „... lär-mendes Vergnügen, zechen, ein Feuerchen le-gen ...” (Richard Pipes, Russia Under the OldRegime, New York 1974, S. 174f.; zitiert nachJasay 1995, S. 23), oder wie immer sonst einemeinfallen könnte, seinen Launen freien Lauf zulassen.4 Zur Kritik der Vorstellung, daß wir in derRealität ständig solche Wahloptionen haben kön-nen, vgl. den Beitrag von Klaus Peter Rippe indiesem Band5 Unter der Bezeichnung „Ordo-Liberalis-mus” faßt man die Vertreter der sog. „Freibur-ger Schule” der Ökonomie zusammen, also ins-besondere Franz Böhm und Walter Eucken; siewollten die liberalen Ziele mit den Mitteln dersog. „Ordnungspolitik” erreichbar machen. Vgl.dazu etwa Eucken (1952/1990). Zu einer zusam-menfassenden Darstellung der Ideen der Frei-burger Schule vgl. Holzwarth (1985). Zum Be-griff „Ordnungspolitik” vgl. Nutzinger (1993).6 Vgl. dazu Hoppe (1993).7 Zur Deregulierungsbewegung vgl. insbeson-dere Becker und Becker (1998), Kap. 2.8 Selbst im Erbrecht kennen wir die Bestim-mung, daß man ein Erbe auch ablehnen kann.9 Schon Max Weber sah in seiner Rechts-soziologie das „Recht” auf etwas lediglich alseine erhöhte Wahrscheinlichkeit an, daß einePerson, die dieses Recht besitzt, auch in denGenuß dieses Rechtes kommt. vgl. dazu Weber(1920/1960), S. 73.10 Mit diesem Ausdruck bezeichnete JohannGaltung (1972, S. 55) die wesentlichen Ursachenfür das Wohlstandsgefälle zwischen Entwick-lungs- und Industrieländern.11 Man denke etwa an die Frage, ob die Firmaoder die Arbeitskraft das Eigentumsrecht an ei-ner Idee hat. Die juristischen Fragen sind hierdiffizil und lassen sich nicht einfach auf der Basis

der genannten Grundsätze beantworten.12 Vgl. dazu Hobbes (1634/1992), S. 105:„Denn wer zuerst erfüllt, kann nicht sicher sein,daß der andere daraufhin erfüllen wird, da dasBand der Worte viel zu schwach ist, um den Ehr-geiz, die Habgier, den Zorn und die anderenmenschlichen Leidenschaften ohne die Furchtvor einer Zwangsgewalt zu zügeln.” Vgl. auchS. 110f., wo Hobbes die gesellschaftliche Konsti-tuierung des Eigentums betont: „... die Gültig-keit von Verträgen beginnt erst mit der Einrich-tung einer bürgerlichen Gewalt, die dazu aus-reicht, die Menschen zu ihrer Einhaltung zuzwingen, und mit diesem Zeitpunkt [!] beginntauch das Eigentum.”13 Wille und Gläser (1977, S. 279) könnendaher schreiben: „Smith strebt ... weder a prioriein minimales Staatsbudget an noch lehnt er dog-matisch ein bestimmtes öffentliches Ausgaben-volumen ab.”14 Die Reduktion von Komplexität kann alseine der wichtigsten Leistungen der Naturwis-senschaft angesehen werden. Man denke anTheorien, die gleichartige Strukturen hinter derVielfalt der Erscheinungen nachweisen. Das ein-fachste Beispiel wäre die astronomisch nachge-wiesene Identität von „Abendstern” und „Mor-genstern”.15 Nach Galter (1995, 44) beruht Chomeinispolitischer Islamismus allerdings auf einer neu-en Interpretation des Korans. Damit träfe einesder obigen definitorischen Merkmale auf Cho-meinis Buch nicht zu. Allerdings ist nach Galterdas „Beharren auf einem einmal fixierten Fun-dament” das entscheidende Merkmal für einenFundamentalismus. In diesem Sinne kann manauch Chomeinis Entwurf als fundamentalistischbezeichnen.16 Man denke nur an die Drogenpolitik.

116 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

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Anhang:Gustave de Molinari (1819-1912)

Über die Produktion von Sicherheit * ,1

Es gibt zwei Arten, die Gesellschaft zubetrachten. Den einen zufolge hat kein vonder Vorsehung bestimmtes, unabänderli-ches Gesetz bei der Bildung der verschie-denen menschlichen Gemeinschaften denAusschlag gegeben; da sie von primitivenGesetzgebern in rein künstlicher Weise or-ganisiert wurden, können sie folglich, jenach dem Fortschritt der Gesellschaftswis-senschaft, auch von anderen Gesetzgebernverändert oder umgestaltet werden. In die-sem System spielt die Regierung eine be-deutende Rolle, denn der Regierung ob-liegt als Treuhänderin des Autoritätsprin-zips die Aufgabe, die Gesellschaft täglichzu verändern und neu zu gestalten.Anderen zufolge ist die Gesellschaft da-gegen eine rein natürliche Tatsache; wiedie Erde, die sie trägt, bewegt sie sich auf-grund allgemeiner, bereits existierenderGesetze. In diesem System gibt es streng-genommen keine Gesellschaftswissen-schaft; es gibt nur eine Wirtschaftswissen-schaft, die den natürlichen Organismus derGesellschaft studiert, und die darlegt, wiedieser Organismus funktioniert.Worin besteht in diesem letzteren Systemaber die Funktion der Regierung und ihrenatürliche Organisation? Das wollen wirnun untersuchen.

I.Um die Funktion der Regierung gut defi-nieren und abgrenzen zu können, müssenwir zunächst untersuchen, was die Gesell-schaft überhaupt ist und was sie zum Ge-genstand hat.

Welchem natürlichen Trieb gehorchen dieMenschen, wenn sie sich in der Gesell-schaft zusammenfinden? Sie gehorchendem Trieb bzw. genauer gesagt dem In-stinkt der Geselligkeit. Das Menschenge-schlecht ist seinem Wesen nach gesellig.Wie die Biber und die höheren Tiergattun-gen im allgemeinen, werden die Menscheninstinktiv zum Leben in Gesellschaft ge-trieben.Worin findet dieser Instinkt seine Berech-tigung?Der Mensch spürt eine Vielzahl von Be-dürfnissen, deren Befriedigung ihm Freu-den und deren Nichtbefriedigung ihm Lei-den bereitet. Allein, isoliert kann er nundie ihn unaufhörlich bedrängenden Be-dürfnissen nur auf unvollständige, unge-nügende Art befriedigen. Der Gesellig-keitsinstinkt bringt ihn seinesgleichen nä-her, treibt ihn, sich mit ihnen in Verbin-dung zu setzen. So bürgert sich unter demTrieb des Interesses der so angenähertenEinzelnen eine gewisse Arbeitsteilung ein,welcher notwendigerweise der Tauschfolgt; kurz, man sieht die Gründung einerOrganisation, mittels derer der Menschseine Bedürfnisse viel umfassender befrie-digen kann, als er es könnte, wenn er iso-liert bliebe.Diese natürliche Organisation heißt Ge-sellschaft.Die Gesellschaft hat daher die vollständi-gere Befriedigung der Bedürfnisse desMenschen zum Gegenstand; das Mittel istdie Arbeitsteilung und der Tausch.Unter der Zahl der menschlichen Bedürf-nisse gibt es ein besonderes, das eine im-

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mense Rolle in der Geschichte derMenschheit spielt: Das Bedürfnis nachSicherheit.Was ist das für ein Bedürfnis?Gleich, ob sie isoliert oder in Gesellschaftleben, sind die Menschen vor allem daraninteressiert, ihre Existenz und die Früchteihrer Arbeit zu bewahren. Wäre das Ge-rechtigkeitsgefühl auf der Erde allgemeinverbreitet, beschränkte sich infolgedessenjeder Mensch darauf, zu arbeiten und dieFrüchte seiner Arbeit auszutauschen, ohneanderen Menschen nach dem Leben zutrachten oder durch Gewalt oder List dieFrüchte ihrer Arbeit an sich zu reißen –mit einem Wort: Hätte jeder eine instinkti-ve Abneigung gegen jede, anderen schäd-liche Handlung, so wäre es gewiß, daß na-türliche Sicherheit auf der Erde herrschteund daß keine künstliche Einrichtung not-wendig wäre, sie zu begründen. Unglück-licherweise verhält es sich nicht so. DasGerechtigkeitsgefühl scheint nur das Erb-teil gewisser höherer, außergewöhnlicherNaturen zu sein. Unter den niederen Völ-kern exisitiert es nur in rudimentärem Zu-stand. Von daher die unzähligen Verge-hen, die seit dem Ursprung der Welt, seitKain und Abel an Leben und Eigentumvon Personen ausgeübt wurden.Von daher auch die Gründung von Ein-richtungen, die dem Zweck dienen, jeder-mann den friedlichen Besitz seiner Per-son und seiner Güter zu garantieren.Diese Einrichtungen haben den NamenRegierungen erhalten.Überall, selbst unter den unaufgeklärtestenVölkerschaften trifft man auf eine Regie-rung, so allgemein und dringend ist dasSicherheitsbedürfnis, dem eine RegierungRechnung trägt.Überall finden sich die Menschen eher mitden schwersten Opfern ab, als auf eine Re-

gierung – und folglich auf Sicherheit – zuverzichten, und man könnte nicht einmalsagen, daß sie schlecht rechnen, indem sieso handeln.Angenommen etwa, daß ein Mensch sichunablässig an seiner Person und seinenExistenzmitteln bedroht findet, wäre dannnicht seine erste und beständigste Sorge,sich vor den Gefahren, die ihn umgeben,zu schützen? Diese Sorge, diese Bemü-hungen, diese Arbeit nähmen notwendi-gerweise den größten Teil seiner Zeit,ebenso wie die energischsten und aktiv-sten Fähigkeiten seiner Intelligenz ein. Da-her könnte er der Befriedigung seiner üb-rigen Bedürfnisse nur ungenügende, un-stete Arbeit und eine erschöpfte Aufmerk-samkeit widmen.Selbst wenn dieser Mensch gezwungenwäre, einen sehr beträchtlichen Teil sei-ner Zeit, seiner Arbeit demjenigen zu op-fern, der sich verpflichtete, ihm den fried-lichen Besitz seiner Person und seiner Gü-ter zu garantieren, gewönne er nicht im-mer noch bei diesem Handel?Wie dem auch sei, jedenfalls bestünde seinoffensichtliches Interesse darin, sich dieSicherheit zum niedrigsten Preis zu ver-schaffen.

II.Wenn es in der politischen Ökonomie einewohlbegründetete Wahrheit gibt, so ist esdiese:Daß der Konsument unter allen Umstän-den, bei allen Gütern, die zur Befriedi-gung seiner Bedürfnisse dienen, daraninteressiert ist, daß die Arbeit und derTausch frei bleiben, da die Freiheit derArbeit und des Tausches notwendig unddauerhaft zu einer größtmöglichen Preis-senkung führen.Und diese:

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Daß das Interesse des Konsumenten ei-nes jedweden Gutes immer Vorrang ge-genüber dem Interesse des Produzentengenießen muß.Folgt man nun diesen Grundsätzen, sogelangt man zu diesem einwandfreienSchluß:Daß die Produktion der Sicherheit im In-teresse der Konsumenten dieses immate-riellen Gutes dem Gesetz des freien Wett-bewerbs unterworfen bleiben mußWoraus folgt:Daß keine Regierung das Recht habendarf, eine andere Regierung daran zu hin-dern, sich in Konkurrenz zu ihr einzurich-ten oder die Sicherheitskonsumenten zuzwingen, sich um dieses Gut ausschließ-lich an sie zu wenden.Ich muß jedoch sagen, daß man bis jetztvor dieser einwandfreien Folgerung, diesich aus dem Grundsatz des freien Wett-bewerbs ergibt, zurückgeschreckt ist.Herr Charles Dunoyer zählt zu den Öko-nomen, die die Anwendung des Freiheits-prinzips am weitesten getrieben haben. Ermeint, „daß die Funktionen der Regierun-gen nie in den Bereich privater Tätigkeitfallen könnten“2 .Hier liegt also eine klare, offensichtlicheAusnahme vor, die an den Grundsatz desfreien Wettbewerbs herangetragen wird.Diese Ausnahme ist um so bemerkenswer-ter, als sie ganz alleine dasteht.Zweifellos trifft man auf Ökonomen, dienoch mehr Ausnahmen von diesem Grund-satz aufstellen; doch wir können uner-schrocken versichern, daß dies keine rei-nen Ökonomen sind. Die wirklichen Öko-nomen stimmen im allgemeinen darinüberein, daß einerseits die Regierung sichdarauf beschränken muß, die Sicherheitder Bürger zu garantieren, und daß ande-rerseits die Freiheit der Arbeit und des

Tausches in allen anderen Bereichen voll-ständig, absolut sein muß.Doch wodurch rechtfertigt sich die Aus-nahme in bezug auf die Sicherheit? Auswelchem besonderen Grund kann dieSicherheitsproduktion nicht dem freienWettbewerb ausgesetzt werden? Warummuß sie einem anderen Prinzip unterwor-fen und gemäß einem anderen System or-ganisiert werden?Über diesen Punkt schweigen sich dieMeister der Wissenschaft aus, und HerrDunoyer, der deutlich auf die Ausnahmehingewiesen hat, untersucht nicht, aufwelchen Beweggrund diese sich stützt.

III.Wir gelangen somit zu der Frage, ob die-se Ausnahme begründet ist und ob sie esin den Augen eines Ökonomen sein kann.Es widerstrebt der Vernunft, zu glauben,daß ein wohlerwiesenes Naturgesetz ir-gendeine Ausnahme enthält. Ein Natur-gesetz gilt überall und immer, oder es giltnicht. Ich glaube etwa nicht, daß das all-gemeine Gravitationsgesetz, das die phy-sische Welt regiert, in irgendeinem Fallund an irgendeinem Punkt des Alls auf-gehoben ist. Nun halte ich die ökonomi-schen Gesetze für Naturgesetze, und ichhabe genauso viel Vertrauen in das Prin-zip der Arbeitsteilung und das der Frei-heit der Arbeit und des Tausches wie iches in das Gesetz allgemeiner Gravitationhaben kann. Daher glaube ich, daß, wenndiese Prinzipien auch gestört werden kön-nen, sie doch andererseits keine Ausnah-me enthalten.Wenn dem aber so ist, darf die Sicherheits-produktion dem Gesetz des freien Wett-bewerbs nicht entzogen werden; und wirdsie es, so erleidet die ganze Gesellschaftdavon einen Schaden.

120 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

Entweder ist dies logisch und wahr, oderdie Grundsätze, auf die sich die Wirt-schaftswissenschaft gründet, sind keineGrundsätze.

IV.So gilt es uns, die wir an die Grundsätzeder Wirtschaftswissenschaft glauben, alsa priori bewiesen, daß die oben angedeu-tete Ausnahme nicht zu rechtfertigen istund daß die Produktion von Sicherheit wiejede andere dem Gesetz des freien Wett-bewerbs unterworfen sein muß.Nachdem diese Überzeugung nun gewon-nen ist, was bleibt uns zu tun? Wir müs-sen noch nachforschen, wie es dazukommt, daß die Sicherheitsproduktionnicht dem Gesetz des freien Wettbewerbs,sondern anderen Prinzipien unterworfenist.Welches sind diese Prinzipien?Die des Monopols und des Kommunismus.Es gibt in der ganzen Welt keine einzigeEinrichtung der Sicherheitsindustrie, dienicht auf dem Monopol oder dem Kom-munismus beruhte.Diesbezüglich sollten wir am Rande eineeinfache Bemerkung machen.In den verschiedenen Zweigen menschli-cher Tätigkeit, wo die politische Ökono-mie das Monopol und den Kommunismusbis jetzt ausgemacht hat, verwirft sie siegleichermaßen. Wäre es nicht merkwür-dig, unerhört, wenn sie sie in der Sicher-heitsindustrie akzeptierte?

V.Überprüfen wir nun, wie es kommt, daßalle bekannten Regierungen dem Gesetzdes Monopols unterworfen oder oder ge-mäß dem kommunistischen Prinzip orga-nisiert sind.

Untersuchen wir zunächst, was man un-ter Monopol und Kommunismus versteht.Es ist eine beobachtete Wahrheit, daß, jedringender und notwendiger die Bedürf-nisse des Menschen, desto beträchtlicherdie Opfer sind, die er sich aufzuerlegenbereit ist, um sie zu befriedigen. Nun gibtes Dinge, die es in der Natur im Überflußgibt und deren Produktion nur sehr wenigArbeit erfordert; die jedoch, indem siedazu dienen, dringende und notwendigeBedürfnisse zu stillen, einen Tauschwerterhalten können, der in keinem Verhält-nis zu ihrem natürlichen Wert steht. Den-ken wir etwa an das Salz. Angenommen,es gelänge einem Menschen oder einerVereinigung, sich exklusiv die Produkti-on und den Verkauf von Salz zu verschaf-fen, dann ist offensichtlich, daß dieserMensch oder diese Vereinigung den Preisdieses Gutes weit über seinen Wert, weitüber den Preis hinaus anheben könnte, denes unter der Herrschaft des freien Wettbe-werbs gehabt hätte.Man wird nun sagen, daß dieser Menschoder diese Vereinigung ein Monopol be-sitzt und daß der Salzpreis ein Monopol-preis ist. Doch ist offensichtlich, daß dieKonsumenten nicht freiwillig zustimmenwerden, den mißbräuchlichen Monopol-aufschlag zu bezahlen; man wird sie dazuzwingen müssen, und um sie dazu zuzwingen, wird man Gewalt einsetzen müs-sen.Jedes Monopol stützt sich notwendiger-weise auf Gewalt.Was geschieht, wenn die Monopolistenaufhören, stärker als die von ihnen ausge-beuteten Konsumenten zu sein?Stets verschwindet das Monopol schließ-lich, sei es gewalttätig oder infolge einesgütlichen Vergleichs. Was setzt man anseine Stelle?

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 121

Wenn sich die zusammengerotteten, auf-ständischen Konsumenten des Materialsder Salzindustrie bemächtigt haben, ist essehr wahrscheinlich, daß sie diese Indu-strie zu ihren Gunsten konfiszieren unddaß ihr erster Gedanke sein wird, sie nichtetwa der freien Konkurrenz zu überlassen,sondern sie gemeinschaftlich zu ihren ei-genen Gunsten auszubeuten. Sie werdendaher einen Direktor oder einen Direk-tionsausschuß zur Salinenausbeutung er-nennen, dem sie die nötigen Gelder ein-räumen werden, um die Kosten der Salz-produktion zu bestreiten; dann – weil dieErfahrung der Vergangenheit sie mißtrau-isch, vorsichtig gemacht haben wird, weilsie fürchten werden, daß der von ihnenbestellte Direktor sich der Produktion fürseine eigene Rechnung bemächtigt und zuseinen Gunsten, auf offene oder verbor-gene Weise das alte Monopol wiederher-stellt – werden sie Abgeordnete wählen,Vertreter, die den für die Produktionsko-sten notwendigen Geldern zustimmenmüssen, die deren Verwendung zu über-wachen und die zu kontrollieren haben,ob das produzierte Salz gleichmäßig un-ter allen Berechtigten verteilt wird. Sowird die Salzproduktion organisiert sein.Diese Form der Produktionsorganisationträgt den Namen Kommunismus.Wenn diese Organisation nur auf ein ein-ziges Gut angewendet wird, nennt manden Kommunismus partiell.Wenn diese Organisation auf alle Güterangewendet wird, nennt man den Kom-munismus vollständig.Doch ob der Kommunismus partiell odervollständig ist – die politische Ökonomieerkennt ihn nicht mehr an als das Mono-pol, von dem er nur eine Erweiterung dar-stellt.

VI.Trifft das, was gerade vom Salz gesagtwurde, nicht augenscheinlich auch auf dieSicherheit zu? Ist es nicht die Geschichtealler Monarchien und aller Republiken?Überall wurde die Produktion von Sicher-heit zunächst als Monopol organisiert, undüberall tendiert sie heute dazu, sich alsKommunismus zu organisieren.Der Grund ist der folgende.Unter den dem Menschen notwendigenmateriellen oder immateriellen Gütern istkeines, außer vielleicht dem Korn, unab-dinglicher und kann daher eine höhereMonopolsteuer vertragen.Keines kann auch so leicht an ein Mono-pol fallen.Was ist denn die Lage der Menschen, dieder Sicherheit bedürfen? Sie sind schwach.Was ist die Lage derjenigen, die sich ver-pflichten, ihnen diese notwendige Sicher-heit zu verschaffen? Sie sind stark. Wärees anders, wären die Konsumenten vonSicherheit stärker als die Produzenten, sonähmen sie offensichtlich nicht deren Bei-stand in Anspruch.Wenn nun die Sicherheitsproduzenten ur-sprünglich stärker als die Konsumentensind, können sie ihnen nicht leicht dieMonopolherrschaft aufzwingen?Daher sieht man überall am Anfang derGesellschaften, daß die stärksten, kriege-rischsten Geschlechter sich die ausschließ-liche Regierung der Gesellschaften ver-schafften; überall sieht man, wie diese Ge-schlechter sich in einem bestimmten, jenach Anzahl und Stärke mehr oder weni-ger ausgedehnten Umfang, das Sicher-heitsmonopol verschafften.Und da das Monopol seiner Natur nachäußerst gewinnbringend ist, sieht manauch überall, wie sich die mit dem Sicher-heitsmonopol ausgestatteten Völker bittere

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Kämpfe liefern, um die Ausdehnung ih-res Marktes, die Zahl ihrer genötigtenKonsumenten und folglich ihren Gewinnzu vergrößern.Krieg war die notwendige, unausweichli-che Folge der Einrichtung des Sicherheits-monopols.Als weitere unvermeidliche Folge mußtedieses Monopol alle anderen Monopolehervorbringen.Als die Produzenten der anderen Güter dieLage der Sicherheitsmonopolisten näherbetrachteten, konnten sie nicht verkennen,daß nichts in der Welt vorteilhafter als dasMonopol ist. Sie mußten daher ihrerseitsversucht sein, durch dasselbe Vorgehenden Gewinn ihrer Industrie zu mehren.Doch was brauchten sie, um das Mono-pol des von ihnen hergestellten Gutes zumNachteil der Konsumenten an sich zu rei-ßen? Es bedurfte der Gewalt. Nun besa-ßen sie aber diese Gewalt nicht, die not-wendig war, um die Widerstände der in-teressierten Konsumenten zu unterdrük-ken. Was taten sie also? Sie liehen sie ge-gen Bezahlung bei jenen aus, die sie be-saßen. Sie erbaten und erhielten zum Preisbestimmter Gegenleistungen das aus-schließliche Privileg, ihre Industrie in ei-nem bestimmten, festgelegten Umfangauszuüben. Da die Verleihung dieser Pri-vilegien den Sicherheitsproduzenten schö-ne Geldummen einbrachte, war die Weltbald mit Monopolen bedeckt. Arbeit undTausch wurden überall behindert, gefes-selt, und die Lage der Massen blieb denk-bar schlecht.Doch nach langen Jahrhunderten des Lei-dens und nachdem sich in der Welt nachund nach die Aufklärung verbreitet hatte,begannen die Massen, die dieses Netz ausPrivilegien erstickte, sich gegen die Pri-vilegien zu wenden und die Freiheit, das

heißt die Unterdrückung der Monopoleeinzufordern.Es gab damals zahlreiche Verhandlungen.Was geschah etwa in England? Das Ge-schlecht, das das Land regierte und alsVerein organisiert war (die Lehnsherren),das an seiner Spitze einen erblichen Di-rektor (den König) hatte und einen eben-falls erblichen Verwaltungsrat (die Kam-mer der Lords), setzte am Anfang denPreis der Sicherheit, über die es ein Mono-pol hatte, in einer ihm genehmen Höhefest. Zwischen den Sicherheitsproduzen-ten und den Konsumenten gab es keineVerhandlung. Das war das System derWillkür. Doch war den Konsumenten imLaufe der Zeit ihre Anzahl und Stärke be-wußt geworden. Sie erhoben sich gegendie Herrschaft reiner Willkür und erwirk-ten Verhandlungen mit den Produzentenüber den Preis des Gutes. Zu diesemZweck ernannten sie Abgeordnete, diesich im Unterhaus versammelten, um denSteuersatz als Preis der Sicherheit zu dis-kutieren. So gelang es ihnen, weniger aus-gepreßt zu werden. Da die Mitglieder desUnterhauses jedoch unter dem direktenEinfluß der Sicherheitsproduzenten nomi-niert wurden, war die Verhandlung nichtoffen, und der Preis des Gutes blieb wei-terhin über seinem natürlichen Wert. Ei-nes Tages erhoben sich die derart ausge-beuteten Konsumenten gegen die Produ-zenten und enteigneten sie ihrer Industrie.Sie unternahmen es dann ihrerseits, dieseIndustrie zu betreiben, und wählten zudiesem Zweck einen Betriebsdirektor miteinem Rat an seiner Seite. So trat der Kom-munismus an die Stelle des Monopols.Doch dieser Kombination war kein Erfolgbeschieden, und zwanzig Jahre späterwurde das ursprüngliche Monopol wiederhergestellt. Nur waren die Monopolisten

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weise genug, die Willkürherrschaft nichtwieder zu erneuern; sie akzeptierten diefreie Verhandlung der Steuern, doch da-bei achteten sie darauf, die Abgeordnetender Gegenseite unablässig zu korrumpie-ren. Sie stellten diesen Abgeordneten di-verse Posten in der Sicherheitsverwaltungzur Verfügung und gingen sogar so weit,die Einflußreichsten in den Kreis ihresobersten Rates aufzunehmen. Sicherlichgibt es nichts gerisseneres als ein solchesVerhalten. Die Sicherheitskonsumentenbemerkten jedoch am Ende diesen Miß-brauch und verlangten eine Parlaments-reform. Lange verweigert, wurde die Re-form schließlich erkämpft, und seit dieserZeit haben die Konsumenten eine merkli-che Verminderung ihrer Lasten errungen.Nachdem das Sicherheitsmonopol inFrankreich ebenso häufige Umschwüngeund verschiedene Änderungen durchge-macht hat, ist es gerade zum zweiten Malumgestürzt worden. Wie ehedem in Eng-land hat man das Monopol, das erst zuGunsten einer Kaste und dann im Nameneiner bestimmten Gesellschaftsklasse aus-geübt wurde, durch gemeinsame Produk-tion ersetzt. Die Allgemeinheit der Kon-sumenten, die wie Aktionäre angesehenwerden, hat einen Betriebsdirektor aufeine bestimmte Zeit ernannt und eine Ver-sammlung eingesetzt, die die Handlungendes Direktors und seiner Verwaltung kon-trollieren soll.Wir werden es mit einer einfachen Beob-achtung zu diesem neuen System bewen-den lassen.Genau wie das Sicherheitsmonopol logi-scherweise alle anderen Monopole erzeu-gen mußte, muß der Sicherheitskommu-nismus logischerweise alle anderen Kom-munismen erzeugen.Denn nur eines kann richtig sein:

Entweder ist die kommunistische Produk-tion der freien Produktion überlegen odersie ist es nicht.Wenn ja, so ist sie es nicht nur für die Si-cherheit, sondern für alle Dinge.Wenn nein, bestünde der Fortschritt un-vermeidlich darin, sie durch die freie Pro-duktion zu ersetzen.Vollständiger Kommunismus oder voll-ständige Freiheit, das ist die Alternative!

VII.Doch ist es vorstellbar, daß die Sicher-heitsproduktion anders denn als Monopoloder Kommunismus organisiert ist? Istvorstellbar, daß sie dem freien Wettbewerbüberlassen bleibt?Auf diese Frage antworten die sogenann-ten politischen Schriftsteller einmütig:Nein.Warum? Wir werden es sagen.Weil diese Autoren, die sich speziell mitden Regierungen befassen, die Gesell-schaft nicht kennen; weil sie sie für einkünstliches Werk halten, das zu verändernoder umzugestalten die Regierungen denAuftrag haben.Um nun die Gesellschaft zu verändernoder umzugestalten, muß man notwendi-gerweise mit einer Autorität ausgestattetsein, die die der verschiedenen Einzelnenübertrifft, aus denen sie sich zusammen-setzt.Die Monopolregierungen behaupten, die-se Autorität, die ihnen das Recht gibt, dieGesellschaft nach ihrem Belieben zu ver-ändern oder umzugestalten und über Per-sonen und Eigentum nach Gutdünken zuverfügen, von Gott selbst erhalten zu ha-ben; die kommunistischen Regierungenberufen sich zu diesem Zweck auf diemenschliche Vernunft, die sich in derMehrheit des souveränen Volks zeige.

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Doch besitzen die Monopolregierungenund kommunistische Regierungen wirk-lich diese höhere, unwiderstehliche Au-torität? Haben sie tatsächlich eine höhereAutorität als freie Regierungen sie habenkönnten? Das ist es, was man prüfen muß.

VIII.Wenn es stimmte, daß keine natürlicheOrganisation der Gesellschaft zu findenist; wenn es stimmte, daß die Gesetze,nach denen sie sich bewegt, beständigverändert oder umgestaltet werden müß-ten, so bräuchten die Gesetzgeber notwen-digerweise eine unwandelbare, heilige Au-torität. Als Fortführer der Vorsehung aufErden müßten sie fast gottgleich respek-tiert werden. Wäre es ihnen andernfallsnicht unmöglich, ihrem Auftrag gerechtzu werden? Denn man greift nicht in dieGeschäfte der Menschen ein, man unter-nimmt es nicht, sie zu lenken, sie zu ord-nen, ohne täglich eine Unzahl von Inter-essen zu verletzen. Wenn die Treuhänderder Macht nicht angesehen würden, alsgehörten sie zu einem höheren Wesen oderals hätten sie einen Auftrag der Vorsehungerhalten, würden die geschädigten Inter-essen Widerstand leisten.Daher die Fiktion des Gottesgnadentums.Diese Fiktion war sicherlich die denkbarbeste. Wenn es gelingt, die Menge davonzu überzeugen, daß Gott selbst gewisseMenschen oder Geschlechter auserwählthat, um der Gesellschaft Gesetze zu ge-ben und sie zu regieren, wird offensicht-lich niemand auch nur daran denken, sichgegen die von der Vorsehung Erwähltenaufzulehnen, und alles, was die Regierungunternähme, wäre wohlgetan. Eine Regie-rung göttlichen Rechts ist unvergänglich.Doch nur unter der einen Bedingung, daßman an das Gottesgnadentum glaubt.

Wenn man jedoch auf den Glauben ver-fällt, daß die Führer der Völker ihre Ein-gebung nicht direkt von der Vorsehungselbst erhalten, daß sie rein menschlichenAntrieben gehorchen, wird der sie umge-bende Nimbus verschwinden, und manwird ihren souveränen Entscheidungenganz unehrerbietig Widerstand leisten, sowie man allem Widerstand leistet, was vonMenschen kommt, wenn dessen Nutzennicht klar dargelegt wird.Es ist auch sonderbar zu sehen, mit wel-cher Sorgfalt die Theoretiker des Gottes-gnadentums sich bemühen, die Über-menschlichkeit jener Geschlechter zu be-weisen, die im Besitz der Regierung überdie Menschen sind.Hören wir zum Beispiel Joseph de Mai-stre: „Der Mensch kann keine Souveränemachen. Er dient höchstens als Werkzeug,um einen Souverän zu enteignen und des-sen Staat einem anderen Souverän, der be-reits ein Fürst ist, zu übergeben. Übrigenshat es niemals eine souveräne Familie ge-geben, der man einen plebejischen Ur-sprung nachweisen konnte. Träte diesesPhänomen einmal auf, so wäre dies einneues Zeitalter.[...] Es steht geschrieben: Ich bin es, derdie Herrscher macht. Das ist kein Kir-chenspruch, keine fromme Vorstellung;das ist die buchstäbliche Wahrheit, ein-fach und faßlich. Es ist ein Gesetz derpolitischen Welt. Gott macht wortwörtlichdie Könige. Er bereitet die Königsge-schlechter vor, er läßt sie inmitten einerWolke, die ihren Ursprung verdeckt, her-anreifen. Dann treten sie von Ruhm undEhre gekrönt auf; sie ergreifen das Amt.“3

Nach diesem System, das den Willen derVorsehung in bestimmten MenschenFleisch werden läßt und diese Erwählten,diese Gesalbten mit quasi göttlicher Au-

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torität umgibt, haben die Untertanen of-fensichtlich keinerlei Rechte; sie müssensich den Erlassen der souveränen Autori-tät ohne Prüfung unterordnen, als handeltees sich um Anordnungen der Vorsehungselbst.Der Körper ist ein Werkzeug der Seele,sagte Plutarch, und die Seele ist WerkzeugGottes. Der Denkschule des Gottesgna-dentums zufolge erwählt Gott gewisseSeelen und bedient sich ihrer als Werk-zeuge, um die Welt zu regieren.Glaubten die Menschen an diese Theo-rie, könnte gewiß nichts eine Regierunggöttlichen Rechts erschüttern.Unglücklicherweise haben sie vollständigaufgehört, daran zu glauben.Warum?Weil ihnen eines schönen Tages eingefal-len ist, zu prüfen und nachzudenken, undbeim Prüfen und Nachdenken haben sieentdeckt, daß ihre Regierungen sie nichtbesser regierten als sie, die sie einfacheSterbliche ohne Verbindung mit der Vor-sehung waren, es selber gekonnt hätten.Die freie Prüfung hat die Fiktion desGottesgnadentums dermaßen außer Kursgesetzt, daß die Untertanen der Monar-chen bzw. der Aristokratien göttlichenRechts diesen nur in dem Maße gehor-chen, wie sie glauben, ein Interesse amGehorsam zu haben.War der kommunistischen Fiktion mehrGlück beschieden?Laut kommunistischer Theorie, derenHohepriester Rousseau ist, steigt die Au-torität nicht mehr von oben herab, siekommt von unten. Die Regierung erbittetsie nicht mehr von der Vorsehung, son-dern von den vereinigten Menschen, vonder einen, unteilbaren und souveränenNation.

Die Kommunisten, Anhänger der Volks-souveränität, nehmen folgendes an. Sienehmen an, daß die menschliche Vernunftdie besten Gesetze, die vollendetste Or-ganisation, die der Gesellschaft zuträglichist, zu entdecken vermag; und daß dieseGesetze in der Praxis infolge einer freienAussprache zwischen den entgegengesetz-ten Meinungen entdeckt werden; daß beimangelnder Einstimmigkeit, wenn es nachder Aussprache noch eine Spaltung gibt,das Recht bei der Mehrheit liegt, da siedie größte Zahl vernünftiger Einzelner ein-schließt (diese Einzelnen werden wohlge-merkt als gleich angenommen, sonst stürztdas ganze Gerüst zusammen); infolgedes-sen versichern sie, daß die Entscheidun-gen der Mehrheit das Gesetz ergeben müs-sen und daß die Minderheit gehalten ist,sich ihr unterzuordnen, selbst wenn diesihre am tiefsten verwurzelten Überzeugun-gen und ihre teuersten Interessen verletzt.Dies ist die Theorie; doch hat die Autori-tät der Mehrheitsentscheidungen in derPraxis diesen unwiderstehlichen, absolu-ten Charakter, den man ihr unterschiebt?Wird sie in jedem Fall von der Minder-heit respektiert? Kann es so sein?Ein Beispiel:Nehmen wir an, dem Sozialismus gelän-ge es, sich unter den arbeitenden Klassenauf dem Land zu verbreiten, wie er sichbereits unter den arbeitenden Klassen derStädte verbreitet hat; daß er infolgedes-sen im ganzen Land die Mehrheit stellenwürde und daß er, die Lage nutzend, einesozialistische Mehrheit in die gesetzgeben-de Versammlung entsendete und einensozialistischen Präsidenten ernennen wür-de; angenommen, daß, wie Herr Proudhones fordert, diese Mehrheit und dieser Prä-sident, mit souveräner Autorität ausgestat-tet, von den Reichen eine Steuer von drei

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Milliarden erheben, um die Arbeit der Ar-men zu organisieren. Ist es wahrschein-lich, daß sich die Minderheit friedlich die-ser unbilligen und absurden, aber legalenund verfassungsmäßigen Ausplünderungunterordnete?Nein, ohne jeden Zweifel zögerte sie nicht,die Autorität der Mehrheit zu leugnen undihr Eigentum zu verteidigen.Also gehorcht man in diesem wie im zu-vor besprochenen System den Treuhän-dern der Autorität nur, soweit man einInteresse zu haben glaubt, ihnen zu ge-horchen.Was uns zu der Behauptung führt, daß diemoralische Grundlage des Autoritätsprin-zips in einem monopolistischen oder kom-munistischen System weder solider nochbreiter ist als in einem System der Frei-heit.

IX.Angenommen, daß die Anhänger einerkünstlichen Organisation, Monopolistenoder Kommunisten, dennoch recht hätten;daß die Gesellschaft nicht natürlich orga-nisiert ist und daß den Menschen unauf-hörlich die Aufgabe obliegt, die Gesetze,die sie regieren, zu machen und aufzuhe-ben, so befände sich die Welt in einer be-dauernswerten Lage. Da die moralischeAutorität der Herrschenden in Wirklich-keit nur auf dem Interesse der Beherrsch-ten beruht und da diese eine natürlicheNeigung haben, allem, was ihre Interes-sen verletzt, zu widerstehen, muß physi-sche Gewalt der verkannten Autorität un-aufhörlich Beistand leisten.Monopolisten und Kommunisten habenim übrigen diese Notwendigkeit vollkom-men erkannt.Wenn jemand versucht, sagt Herr de Mai-stre, sich der Autorität der von Gott Er-wählten zu entziehen, so soll er dem welt-

lichen Arm überliefert werden und derHenker seines Amtes walten.Wenn jemand die Autorität der vom VolkErwählten verkennt, sagen die Theoreti-ker der Schule Rousseaus, wenn er einerbeliebigen Entscheidung der Mehrheit wi-dersteht, soll er als Verbrecher gegen dassouveräne Volk bestraft werden, soll dasSchafott darüber richten.Beide Schulen, die die künstliche Orga-nisation als Ausgangspunkt wählen, lan-den daher notwendigerweise beim glei-chen Ende, beim TERROR.

X.Man erlaube uns nun, eine einfache Hy-pothese aufzustellen.Nehmen wir eine junge Gesellschaft an:Die Menschen, aus denen sie besteht, be-ginnen zu arbeiten und die Früchte ihrerArbeit auszutauschen. Ein natürlicher In-stinkt sagt diesen Menschen, daß ihre Per-son, die Erde, die sie einnehmen und be-arbeiten, sowie die Früchte ihrer Arbeitihr Eigentum sind und daß niemand au-ßer ihnen selbst das Recht hat, darüber zuverfügen oder es anzurühren. Dieser In-stinkt ist nicht hypothetisch, er ist wirk-lich. Doch weil der Mensch ein unvoll-kommenes Geschöpf ist, kommt es vor,daß dieses Gespür für das Recht eines je-des einzelnen auf seine Person oder seineGüter sich nicht in allen Seelen im selbenMaße findet und daß einzelne sich mit Ge-walt oder List an der Person oder am Ei-gentum anderer vergreifen.Daher die Notwendigkeit einer Industrie,die den mißbräuchlichen Angriffen derStärke oder der List zuvorkommt bzw. siebekämpft.Angenommen, es käme ein Mann odereine Vereinigung und sagte: Ich verpflichtemich, Angriffen auf Leib und Gut gegen

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Entlohnung zuvorzukommen bzw. sie zu-rückzudrängen. Alle, die ihre Person oderihr Eigentum vor jeder Aggression schüt-zen wollen, mögen sich an mich wenden.Was werden die Konsumenten machen,bevor sie mit diesem Produzenten von Si-cherheit ein Geschäft abschließen?Erstens werden sie erkunden, ob er mäch-tig genug ist, sie zu beschützen.Zweitens, ob er moralische Garantien bie-tet, so daß man von seiner Seite keine derAggressionen fürchten muß, die zu be-kämpfen seine Aufgabe wäre.Drittens, ob kein anderer Sicherheitspro-duzent, der gleiche Garantien vorweist, inder Lage ist, ihnen dieses Gut zu besserenKonditionen zu verschaffen. Diese Kon-ditionen können vielgestaltig sein.Um imstande zu sein, den Konsumentenvolle Sicherheit ihrer Person und ihresEigentums zu garantieren und ihnen imSchadensfall einen dem erlittenen Verlustentsprechenden Ausgleich verschaffen zukönnen, wäre es in der Tat erforderlich:1. daß der Produzent gewisse Strafen ge-gen Körperverletzung und den Raub vonEigentum einführt, und daß die Konsu-menten es akzeptieren, sich diesen Stra-fen zu unterwerfen, falls sie sich selbst anPersonen oder Eigentum vergehen;2. daß er den Konsumenten bestimmte Un-bequemlichkeiten zumutet, deren Zweckes ist, ihm das Aufspüren von Straftäternzu erleichtern;3. daß er regelmäßig eine bestimmte Ge-bühr einzieht, um seine Produktionskostenwie auch den natürlichen Lohn für seinenFleiß zu decken. Diese Gebühr wird jenach den Verhältnissen der Konsumenten,den besonderen Berufen, denen sie nach-gehen, nach Umfang, Wert und der Artihres Eigentums variabel sein.

Wenn diese für die Ausübung dieser Tä-tigkeit notwendigen Bedingungen denKonsumenten genehm sind, kommt dasGeschäft zustande; wenn nicht, werden dieKonsumenten entweder auf Sicherheit ver-zichten oder an einen anderen Produzen-ten herantreten.Wenn man nun die besondere Natur derSicherheitsindustrie betrachtet, wird manbemerken, daß die Produzenten gezwun-gen sein werden, ihr Geschäft auf be-stimmte Gebiete zu beschränken. Sie kä-men offensichtlich nicht auf ihre Kosten,wenn sie es sich einfallen ließen, eine Po-lizei in Orten zu unterhalten, wo sie nureinige Kunden haben. Ihre Kundschaftwürde sich natürlicherweise um ihren Ge-schäftssitz scharen. Dennoch könnten siedie Lage nicht mißbrauchen, um den Kon-sumenten Gesetze vorzuschreiben. Dennim Falle einer mißbräuchlichen Erhöhungdes Sicherheitspreises hätten diese immernoch die Möglichkeit, ihre Kundschaft ei-nem neuen oder dem benachbarten Unter-nehmer zu gewähren.Aus dieser dem Konsumenten überlasse-ne Möglichkeit, die Sicherheit dort zukaufen, wo es ihm beliebt, erwächst eindauernder Wettstreit unter allen Produzen-ten, von denen sich jeder bemüht, seineKundschaft durch den Reiz eines gutenGeschäfts oder eine raschere, umfassen-dere, bessere Justiz zu vergrößern oder zuerhalten.4Sobald der Konsument dagegen nicht freiist, die Sicherheit dort zu kaufen, wo esihm beliebt, sieht man sogleich, wie sichder Willkür und der schlechten Geschäfts-führung Tür und Tor öffnen. Die Justizwird teuer und langsam, die Polizei schi-kanös, die Freiheit des Einzelnen wirdnicht mehr respektiert, der Preis der Si-cherheit ist mißbräuchlich überhöht, er

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wird ungleich erhoben, je nach der Ge-walt, dem Einfluß, über den diese oderjene Klasse von Konsumenten verfügt, dieVersicherer liefern sich heftige Kämpfe,um sich gegenseitig die Konsumenten zuentreißen; in einem Wort: man sieht alledem Monopol oder Kommunismus inne-wohnenden Mißbräuche in einer Reiheheraufziehen.Unter der Herrschaft des freien Wettbe-werbs verliert der Krieg unter den Sicher-heitsproduzenten vollkommen seine Be-rechtigung. Warum sollten sie Krieg füh-ren? Um Konsumenten zu erobern? Dochdie Konsumenten ließen sich nicht er-obern. Sie hüteten sich sicherlich davor,ihre Personen und ihr Eigentum von Män-nern sichern zu lassen, die ohne Skrupeldie Person und das Eigentum ihrer Wett-bewerber angetastet hätten. Wollte ein ver-wegener Sieger ihnen ein Gesetz aufzwin-gen, so riefen sie sofort alle freien Konsu-menten zu Hilfe, die dieser Angriff be-drohte wie sie auch, und sie würden fürRecht sorgen. Ebenso wie der Krieg dienatürliche Folge des Monopols ist, ist derFriede die natürliche Folge der Freiheit.In einem Regierungssystem der Freiheitunterschiede sich die natürliche Organi-sation der Sicherheitsindustrie nicht vonder anderer Industrien. In kleinen Bezir-ken könnte ein einfacher Unternehmerausreichen. Dieser Unternehmer vermach-te sein Unternehmen seinem Sohn oderüberließe es einem anderen Unternehmer.In ausgedehnten Bezirken vereinigte eineeinzige Firma genügend Einnahmen aufsich, um bequem diese wichtige undschwierige Tätigkeit auszuüben. Gut ge-führt, könnte diese Gesellschaft leicht fort-bestehen, und die Sicherheit bestünde mitihr fort. Wie auch in den meisten anderenProduktionszweigen würde in der Sicher-

heitsindustrie diese letztere Organisations-form die erstere wahrscheinlich irgend-wann ersetzen.Einerseits wäre das die Monarchie, ande-rerseits die Republik; doch die Monarchieohne das Monopol und die Republik ohneden Kommunismus.Auf beiden Seiten gälte die im Namen desNutzens akzeptierte und geachtete undnicht die durch Terror aufgezwungeneAutorität.Daß sich eine solche Hypothese verwirk-lichen könnte, das wird zweifellos bestrit-ten werden. Doch auf die Gefahr hin, alsUtopisten qualifiziert zu werden, behaup-ten wir, daß dies unbestreitbar ist und daßeine aufmerksame Untersuchung der Tat-sachen das Problem der Regierung, wieauch alle anderen ökonomischen Proble-me, mehr und mehr zugunsten der Frei-heit lösen wird. Was uns anbelangt, so sindwir davon überzeugt, daß sich eines Ta-ges Vereinigungen bilden werden, um dieRegierungsfreiheit einzufordern, so wiesie sich gebildet haben, um die Freiheitdes Handels verlangen.Und wir zögern nicht, hinzuzufügen, daß,nachdem dieser letzte Fortschritt gemachtund damit jedes künstliche Hindernis ge-gen die freie Wirkung der Naturgesetze,die die wirtschaftliche Welt regieren, be-seitigt sein wird, die Lage der verschiede-nen Mitglieder der Gesellschaft die best-mögliche geworden sein wird.

* [Zuerst veröffentlicht unter dem Titel: „De laproduction de la sécurité,” in: Journal des Éco-nomistes, 8. Jg., Bd. 22 (Dez. 1848-März 1849),Guillaumin et Cie., Paris 1849, S. 277-90. Über-setzt von J.G. Hülsmann und R. Stiebler.]

1 Obgleich es scheinen könnte, als ob dieserArtikel in seinen Schlußfolgerungen von Utopi-en geprägt ist, glauben wir ihn dennoch publi-

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zieren zu müssen, um die Aufmerksamkeit derÖkonomen und Publizisten auf ein Problem zulenken, das bisher nur in beiläufiger Art behan-delt worden ist und das doch in der Epoche, inder wir uns befinden, mit größerer Präzision an-gegangen werden muß. So viele Leute übertrei-ben die Natur und die Kompetenzen der Regie-rung, daß es nützlich geworden ist, streng dieGrenzen zu bezeichnen, außerhalb derer der Ein-griff der Autorität aufhört, schützend und ge-winnbringend zu sein, und anarchisch und ty-rannisch wird. [Anmerkung des Chefredakteursdes Journal des Économistes]2 In seinem bemerkenswerten Buch De la libertédu travail [Von der Freiheit der Arbeit], Bd. III,S.153, herausgegeben von Guillaumin.3 Du principe générateur des constitutionspolitiques [Vom Entstehungsprinzip politischerVerfassungen], Vorwort.4 Adam Smith, dessen bewundernswerte Beob-achtungsgabe sich auf alle Dinge erstreckte, be-merkt, daß die Justiz in England durch den Wett-bewerb, den sich die verschiedenen Gerichtshö-fe lieferten, viel gewonnen hat. Er sagt:„Die Gerichtshonorare scheinen ursprünglichauch in England die hauptsächliche Einnahme-quelle der Gerichtshöfe gewesen zu sein. JederGerichtshof suchte so viele Geschäfte an sichzu ziehen, wie er konnte, und zog deshalb gernRechtssachen in seine Gerichtsbarkeit, die ei-gentlich nicht dahin gehört hätten. Der Gerichts-hof der königlichen Bank (Kingsbench), der nurfür Kriminalsachen bestimmt war, erkannte auchin Zivilprozessen, indem der Kläger vorgab, daßder Beklagte, indem er ihm Gerechtigkeit ver-weigerte, sich eines Rechtseingriffes oder straf-baren Vergehens schuldig gemacht habe. DasSchatzkammergericht (Court of Exchequer), daszur Erhebung der königlichen Einkünfte und zurBeitreibung ausschließlich solcher Schuldzah-lungen, welche Privatleute an den König abzu-tragen hatten, eingeführt worden war, erkannteauch über alle anderen Schuldsachen, indem derKläger vorgab, daß er den König nicht bezahlenkönne, weil der Beklagte ihn nicht bezahle.Durch solche Fiktionen kam es dahin, daß es invielen Fällen ganz von den Parteien abhing, vorwelchem Gerichtshofe sie ihre Sache verhandeltwissen wollten, und jeder Gerichtshof suchte

durch größere Schnelligkeit und Unparteilich-keit so viel Prozesse als möglich in seinen Be-reich zu ziehen. Vielleicht rührt die gegenwärti-ge bewundernswürdige Verfassung der engli-schen Gerichtshöfe großenteils von dem Wett-eifer her, der früher zwischen ihren verschiede-nen Richtern herrschte: Denn jeder Richter beei-ferte sich, bei seinem Gerichtshofe den Parteiendie schnellste und wirksamste Rechtshilfe, wel-che das Gesetz für jede Art erlittenen Unrechtsdarbietet, angedeihen zu lassen.” (Ursachen desVolkswohlstands, 5. Buch, Kap.1)

GUSTAVE DE MOLINARI, geb. am 3.3.1819in Lüttich, studierte in Brüssel Medizin,wurde dortselbst homöopathischer Arzt,ging aber 1841 nach Paris, wo er sich be-sonders mit volkswirtschaftlichen Fragenbeschäftigte und Mitarbeiter bei radika-len Zeitschriften wurde. Er trat besondersfür die Errichtung von Arbeitsbörsen ein,die er in derselben Weise eingerichtetdachte, wie die Waren- oder Effektenbör-sen. Nach dem Staatsstreich NapoleonsIII. am 2.12.1851 nach Brüssel zurückge-kehrt, wurde er 1853 Professor der politi-schen Ökonomie am „Musée royale del’Industrie belge” in Brüssel und Profes-sor der Handelsgeographie und der Ge-schichte der Nationalökonomie am „Insti-tut supérieur du commerce” in Antwer-pen. Mit seinem Bruder Eugen gründeteer in Brüssel die Zeitschriften „La boursedu travail” und „L’Économiste belge” undleitete diese bis zu ihrer Einstellung 1867.Nach Frankreich zurückgekehrt schrieb erfür das „Journal des débats”, dessen Chef-redakteur er 1870-76 war. 1874 Membrecorrespondant de l’Institut de France. 1881wurde er Chefredakteur des Pariser „Jour-nal des Économistes”. 1909 gab er dieseTätigkeit wegen Krankheit auf und gingwieder nach Brüssel zurück, wo er am28.1.1912 starb.

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Schriften:M. veröffentlichte an staatswissenschaft-lichen Schriften in Buchform u.a.:Études économiques. L’organisation de la libertéindustrielle et l’abolition de l’esclavage, Paris1846.Les Soirées de la Rue Saint-Lazare. Entretienssur les lois économiques et défense de la pro-priété, Paris 1849.Les Révolutions et le Despotisme, envisagés aupoint de vue des intérêt matériels, Brüssel 1852.Cours d’économie politique fait au musée royalde l’Industrie belge, Brüssel und Paris 1855, 2.Aufl. 1863.Conversation sur le commerce des grains et laprotection de l’agriculture, Paris 1855, 2. Aufl.1886.L’Abbé de Saint-Pierre, sa vie et ses oeuvres,Paris 1857.De l’Enseignement obligatoire. Discussion entreM.G. de Molinari et M. Frédéric Passy, Paris1859.Napoléon III publiciste, analyse et appréciationde ses oeuvres, Brüssel 1861.Questions d’économie politique et de droit publi-que, 2 vols., Paris 1861, 2. Aufl.1877.Lettres sur la Russie, Paris 1861, 2. Aufl.1877.Les Clubs rouges pendant le siège de Paris, Pa-ris 1871.Le mouvement socialiste et les réunions so-cialistes avant le 4.9.1870, suivi de la pacifi-cation des rapports du capital et du travail, Pa-ris 1871.La République tempérée, Paris 1873. –Lettres sur les États-Unis et le Canada, Paris1876.La Rue des Nations. Visites aux sections étran-gères de l’Exposition universelle de 1878, Paris1879.L’Évolution économique du XIXe siècle. Théo-rie du progrès, Paris 1880.L’Irlande, le Canada, Jersey. Lettres adresséesau „Journal des débats”, Paris 1881.

L’Évolution politique et la révolution, Paris1884.Conversations sur le commerce des grains et laprotection de l’agriculture, Paris 1886, 2. Aufl.1897.À Panama. L’isthme de Panama, la Martinique,Haïti, Paris 1887.Les lois naturelles de l’économie politique, Pa-ris 1887.La morale économique, Paris 1888.Malthus. Essai sur le principe de population,Paris 1890.Notions fondamentales d’économie politique etprogramme économique, Paris 1891.Religion, 1ére +2éme éd., Paris 1892.Précis d’économie politique et de morale. Paris1893.Les bourses du travail, Paris 1893.Science et religion, Paris 1894.Comment se résoudra la question sociale, Paris1896.La viriculture. Ralentissement du mouvement dela population. Dégénérescence. Causes et re-mèdes, Paris 1897.Grandeur et décadence de la guerre, Paris 1898.Esquisse de l’organisation politique et écono-mique de la société future, Paris 1899.Les problèmes du XX. siècle, Paris 1901.Questions économiques à l’ordre du jour, Paris1906.L’évolution de l’histoire. Théorie de l’évolution,Paris 1908.

Von seinen im „Journal des Économistes”veröffentlichten größeren Schriften seiennur genannt:Les droits sur les blés (Jahrg. 53, 1894).L’économie de l’histoire (Jahrg. 54, 1895).Le mécanisme naturel de la production et de ladistribution des richesses (Jahrg. 55, 1896).La concurrence limitée et ses effets (Dez. 1909).[nach: Handwörterbuch der Staatswissenschaf-ten, 2. Aufl. 1900, 3.Aufl. 1910 und EncyclopediaAmericana, 1948]

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Internet-Adressen der GKP und ihrer Mitglieder:

Seit Dezember 1996 stellt die GKP eineeigene Website im Internet vor; diese ent-hält die aktuellen Termine aller Vortrags-reihen ebenso wie ständig aktualisierte Ar-tikel aus der GKP-Zeitschrift „Aufklärungund Kritik”. Daneben bietet die HomepageLinks zu denjenigen der Mitglieder, dieselbst im Internet mit einer Homepage ver-treten sind wie auch Links zu diversenServern, die philosophische Inhalte anbie-ten und Links zu den verschiedenen Inter-net-Suchmaschinen. Außerdem könnenSie uns im Gästebuch Ihre Meinung zurHomepage und den Inhalten der Artikeloder auch gerne neue Anregungen über-mitteln. Die Adresse im WWW lautet:

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Sie können die GKP sowie unseren 1. Vor-sitzenden, Herrn Georg Batz, auch überE-Mail erreichen, um Kritik oder Anre-gungen zu äußern, und zwar untera) [email protected]) [email protected]ür unsere Autoren möchten wir daraufhinweisen, daß über E-Mail die Möglich-keit besteht, Textdateien zur Veröffentli-chung in A&K an ein E-Mail anzuhän-gen und so den Text elektronisch und di-rekt weiterverarbeitbar zu übermitteln.Dies funktioniert zuverlässig jedoch nurinnerhalb des jeweils gleichen Provider-Dienstes und nicht über das Internet. Soll-

ten Sie über Compuserve ins Netz gehen,so können Sie einen Dateiversand über un-ser Mitglied Helmut Walther vornehmen(siehe unten), der in der Redaktion mitar-beitet und auch unsere Homepage im In-ternet betreut.Im folgenden nennen wir Ihnen die Inter-net- und E-Mail-Adressen unserer Mitglie-der; hier noch nicht aufgeführte Mitglie-der bitten wir, uns ihre Adressen zukom-men zu lassen, falls sie hier genannt wer-den wollen.Herbert Arzt, PuchheimE-Mail: [email protected] Goetz, NürnbergE-Mail: [email protected] Hille, MünchenInternet: http://ourworld.compuserve.com/Homepages/Helmut_HilleE-Mail: 101326,[email protected] Heinrich, FürthE-Mail: [email protected] Kiefer, Roßtal b. Nbg.E-Mail: [email protected] Kraus, FürthE-Mail: [email protected] A. Laska, LSR-Verlag, NürnbergE-Mail: [email protected]: http://come.to/LSR http://www2.free.de/dada/lsr.htmAdolf LorentzInternet: [email protected]. Wolf Pohl, KonstanzE-Mail: [email protected] Schmidt-Salomon, ButzweilerE-Mail: [email protected]: http://home.t-online.de/home/M.S.Salomon/Helmut Walther, NürnbergInternet: http://ourworld.compuserve.com/Home-pages/Helmut_WaltherE-Mail: [email protected] Wörl, Feucht b. NürnbergInternet: http://www.users.odn.de/~woerlE-Mail: [email protected]

132 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998

Aufklärung und KritikEine Zeitschrift für freies Denken

und humanistische PhilosophieHerausgegeben von der

Gesellschaft für kritische Philosophie

erscheint zweimal im Jahr (Frühjahr undHerbst) und kostet DM 7,50 pro re-gulärer Nummer. Im Einzelverkauf undim Buchhandel kostet eine NummerDM 10.-. Einmal im Jahr erscheint eineSondernummer zu einem speziellenThema, die zum Einzelpreis von DM10.- separat bestellt werden muß.Vorzugsweise werden Texte abgedruckt,die sich darum bemühen, freies Denkenund humanistische Philosophie zu ver-breiten. Der Umfang wird je Nummerzwischen 120 und 180 Seiten liegen.

Ja, ich will die Zeitschrift Aufklärungund Kritik für 15.- DM im Jahr zuzüglich Ver-sandkosten (z.Zt. DM 6,00) abonnieren. Überden Rechnungsbetrag erhalte ich eine Rech-nung, die ich jeweils mit dem 1. Heft einesJahres überweisen werde. Die Kontonummerdes Verlages für kritische Philosophie lautet:GKP, Kreissparkasse Nürnberg, BLZ 760 100 85,Kto.-Nr. 24897-854.

Ja, ich will die Zeitschrift Aufklärungund Kritik unterstützen und deshalb Mitgliedin der Gesellschaft für kritische Philosophiewerden. Die Mitgliedschaft gilt jeweils für einJahr, wenn ich sie nicht mit Dreimonatsfristzum Ende des Kalenderjahres kündige. DenMitgliedsbeitrag von DM 60.- bitte ich vonmeinem Konto abzubuchen / überweise ichgegen Rechnung (Nichtzutreffendes bitte strei-chen). Die jeweils neue Nummer (zweimal proJahr) erhalte ich kostenlos. Als Mitglied er-

halte ich auch die Sondernummer kostenlos,sowie regelmäßige Einladungen zu den Ver-anstaltungen der GKP.

Ja, ich will die Zeitschrift Aufklärungund Kritik unterstützen und deshalb Förder-mitglied in der Gesellschaft für kritische Phi-losophie werden. Dazu verpflichte ich mich,den Beitrag von DM 100.- zu zahlen und er-halte dafür ein weiteres Exemplare jeder re-gulären Nummer (zwei Nummern pro Jahr).Die Mitgliedschaft gilt jeweils für ein Jahr undverlängert sich um ein weiteres Jahr, wenn ichsie nicht mit Dreimonatsfrist zum Ende desKalenderjahres kündige.

Den Mitgliedsbeitrag von DM 60.-/100.-bitte ich von meinem Konto abzubuchen/über-weise ich auf das Konto der GKP Kreis-sparkasse Nürnberg, BLZ 760 502 10, Kto.-Nr. 380 318 931 (Nichtzutreffendes streichen).

Konto-Nr.: ...........................................

Bankleitzahl: .....................................

Bank: ................................................

Name: ...............................................

Straße: ..............................................

PLZ, Ort: ..........................................

Datum: .....................................

Unterschrift: .....................................

Bitte heraustrennen und einsenden an:Gesellschaft für kritische PhilosophieGeorg Batz, Endterstr. 9, 90459 NürnbergTel.: 0911-437937 Fax: 0911-454985E-Mail: [email protected]

E I N L A D U N G

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998 133

Herausgeber und Verlag:Gesellschaft für kritische Philosophie(GKP) Nürnberg, Erster Vorsitzender:Georg Batz, M.A.Endterstr. 9, 90459 Nürnberg.

Erscheinungsweise:Die Sonderhefte von »Aufklärung undKritik« erscheinen einmal jährlich.

Bezugspreis:Einzelheft 10,– DM zzgl. Versandkosten

Redaktion:Georg Batz, Dr. Gerhard Engel, HelmutWalther

Layout: Michael Sterzenbach

Satz: Helmut Walther,Ob. Schmiedgasse 38, 90403 Nürnberg

Druck:Gruner Druck G.m.b.H.Sonnenstr. 23b, 91058 Erlangen

Manuskripte:Richtlinien zur Gestaltung von Texten er-halten Sie gegen Rückporto bei der Re-daktion. Für unverlangt eingesandte Ma-nuskripte keine Haftung.

Copyright:Soweit nicht anders vermerkt, bei denAutoren.

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