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Karl von Holtei - Graz University of Technologyprodinger/riga.pdfKarl von Holtei Ein Mord in Riga 1....

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Karl von Holtei Ein Mord in Riga 1. KAPITEL In der zweiten Hälfte des Monats August (griechischen Stiles) im Jahre 183* fuhr eine mit sieben kleinen litauischen Postpfer- den bespannte Reisekutsche am Gasthofe des Herrn Zehr, dem besten Hotel von Kurlands Hauptstadt, vor. Herr Zehr in eigener Person sprang aus der Haustür und öffnete den Kutschenschlag, ehe noch der auf dem hintern Dienstboten- sitz schwebende Bursche oder gar die neben ihm in Schachteln und Bündel eingezwängte Kammerjungfer sich erheben konnten. »Ei, Herr Oberältester Singwald«, rief Herr Zehr, indem er ei- nem bejahrten, doch rüstigen Manne aus dem Wagen half, »will- kommen in Mitau; meine gütige Madame Singwald, ich empfehle mich Ihnen; glücklich wieder heimgekehrt von der Badekur? Geht es gleich weiter nach Riga, oder soll ich die Ehre haben, Sie bei mir zu beherbergen?« »Es ist wohl schon spät«, meinte Herr Singwald, wobei er seine Gemahlin fragend ansah, »bei Nacht zu Hause eintreffen ist auch kein Vergnügen.« »Und Nacht wird es«, setzte der Gastwirt hinzu, »bis Sie nach Riga kommen, späte Nacht. Sie müßten denn fahren wie neulich Ihr Herr Postmeister von Livland, der wegen einer Wette die Tour von Riga nach Mitau samt nötigem Aufenthalt in Olay mit ge- wöhnlichen Postpferden in achtundfünfzig Minuten machen woll- te. Er hatte gegen Herrn Konsul – ich weiß nicht gleich den Namen – gewettet.« »Nun, wer hat gewonnen?« fragte Singwald gespannt.
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Karl von Holtei

Ein Mord in Riga

1. KAPITEL

In der zweiten Hälfte des Monats August (griechischen Stiles)im Jahre 183* fuhr eine mit sieben kleinen litauischen Postpfer-den bespannte Reisekutsche am Gasthofe des Herrn Zehr, dembesten Hotel von Kurlands Hauptstadt, vor.

Herr Zehr in eigener Person sprang aus der Haustür und öffneteden Kutschenschlag, ehe noch der auf dem hintern Dienstboten-sitz schwebende Bursche oder gar die neben ihm in Schachtelnund Bündel eingezwängte Kammerjungfer sich erheben konnten.

»Ei, Herr Oberältester Singwald«, rief Herr Zehr, indem er ei-nem bejahrten, doch rüstigen Manne aus dem Wagen half, »will-kommen in Mitau; meine gütige Madame Singwald, ich empfehlemich Ihnen; glücklich wieder heimgekehrt von der Badekur? Gehtes gleich weiter nach Riga, oder soll ich die Ehre haben, Sie beimir zu beherbergen?«

»Es ist wohl schon spät«, meinte Herr Singwald, wobei er seineGemahlin fragend ansah, »bei Nacht zu Hause eintreffen ist auchkein Vergnügen.«

»Und Nacht wird es«, setzte der Gastwirt hinzu, »bis Sie nachRiga kommen, späte Nacht. Sie müßten denn fahren wie neulichIhr Herr Postmeister von Livland, der wegen einer Wette die Tourvon Riga nach Mitau samt nötigem Aufenthalt in Olay mit ge-wöhnlichen Postpferden in achtundfünfzig Minuten machen woll-te. Er hatte gegen Herrn Konsul – ich weiß nicht gleich den Namen– gewettet.«

»Nun, wer hat gewonnen?« fragte Singwald gespannt.

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»Der Herr Staatsrat von Baranoff; sie waren, glaub ich, fünf Mi-nuten vor der Zeit am hiesigen Schlosse. Der Herr Vizegouverneurvon Meitel hielten die Uhr in der Hand.«

»Das nenn ich fahren«, rief Singwald; »das ist nur bei uns zu-lande möglich. Und wer sieht’s den kleinen Hunden von Pferdenan? Sechs Meilen in zweiundfünfzig Minuten, wenn wir nur ei-ne aufs Umspannen in Olay rechnen. Ein fixer Kerl, mein FreundBaranoff, freut mich, daß er gewonnen. Aber da ich nicht Gou-vernementspostmeister von Livland bin und die Pferde mit unswahrscheinlich et’s langsamer laufen würden . . . «

»Darum muß ich auch dringend bitten«, unterbrach ihn Ma-dame Singwald. »Dies Jagen kann mir nicht gefallen. Und wieungern ich auch so nahe vor der Heimat noch einmal im Gast-hause übernachte, ziehe ich’s doch einer solchen tour de force beiweitem vor. Bitte, Herr Zehr, lassen Sie uns Zimmer anweisen.Simeon, schnallen Sie die Vache1 herunter.«

Die letzten Worte galten dem Diener, der bisher, eines bestimm-ten Befehles harrend, neben der sprechenden Gruppe am Wagengestanden hatte.

Jetzt erst bemerkte ihn der Gastwirt und fragte: »Ei, mein güti-ger Herr Oberältester, wie konnten Sie sich doch von Ihrem alten,wohlbekannten Faktotum trennen? Ich sehe da ein neues Gesicht. . . «

»Mein Alter liegt in böhmischer Erde, lieber Zehr; ich habemich nicht von ihm getrennt, sondern er sich von mir. Es war ei-gentlich wider die Abrede, denn er hatte mir versprochen – dochwas hilft’s! Für den Tod wächst kein Kraut, und ich bin mit meinerneuen Akquisition zufrieden!«

Der aufmerksame Hauswirt begleitete seine hochgeachtetenGäste selbst in ihre Gemächer, und nachdem er sich versichert,daß es an nichts fehle, und nachdem Madame Singwald denWunsch ausgesprochen, eine recht gründliche Wasserbelustigung,welche die exzessiv waschsüchtige Frau seit Berlin hatte entbeh-ren müssen, in ungestörter Abgeschlossenheit an sich vorzuneh-men, machte Herr Zehr seinem gütigen Herrn Oberältesten den

1Rindsleder-Koffer.

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Vorschlag, den Abend im Garten der Medemschen Villa zuzubrin-gen, wo Konzert, Beleuchtung und feine Gesellschaft zu findenwaren.

Singwald ließ sich das nicht zweimal sagen. Seine liebenFreunde, den Prokurator von Kurland, Herrn von Klein, undden Postmeister Herrn von Joung (eigentlich Jung, und zwarJung-Stillings leiblicher Sohn!), nach dreimonatlicher Abwesen-heit wieder zu begrüßen, freute er sich um so mehr, als er dem er-steren Empfehlungen von geistvollen Bekannten aus Deutschland,dem zweiten aber Berichte über alle musikalischen Genüsse, dieer in Wien, Prag, Dresden, Berlin gehabt, zu bringen hatte. Unddaß beide in Medems Villa nicht fehlen dürften, setzte er voraus.Allgemeiner Willkommen begrüßte den rigischen Handelsherrnund Oberältesten, den gastfreien, gefälligen, klugen Singwald.Die schon genannten Freunde und viele andere beeilten sich, ihmdie Hand zu drücken und ihn zu loben, daß er den ersten Abendin der Heimat der Schwesterstadt Mitau schenke. »Wir erwarte-ten Sie aber viel später«, sagte der Polizeimeister von Mitau, derObrist von Friede; »wollten Sie nicht gar über September ausblei-ben?«

»Freilich wollt ich, Obrist; jedoch, Sie wissen ja: mag es noch soschön sein draußen in der Welt, es ist denn doch nicht zu Hause.Meiner Frau fehlte ihre Sonntagstafel, mir mein Comptoir, meineBörse, meine ›Muße‹; ja, soll ich’s ehrlich gestehen, meine Dü-na. Wir wohnten in Berlin Unter den Linden im schönsten Hotel;wir waren bedient, wie unsere Majestäten es nur sein können,wenn Allerhöchstdieselben auf der Durchreise in Elley bei GräfinMedem übernachten, und das will viel sagen! Doch bei alledemfehlte mir immer et’s, ich wußte nicht was. Wie ich aber mit mei-ner Frau darüber zu Rate ging, entdeckten wir eines dem andernunsere fabelhafte Sehnsucht nach den engen, krummen, finsternGassen der geliebten, nordischen Vaterstadt. Ein echt rigisch Kind– «

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»Tut Gott alltäglich loben,Daß er das Balt’sche MeerSo nah zur Stadt geschoben!«

zitierte jetzt lächelnd ein klug dareinschauender Mann, der sichzu dem Tische, wo die Plaudernden saßen, gesellte. »Ist das auseinem Ihrer Gedichte entlehnt, Herr von Zuccalmaglio?« fragteSingwald, den Ankommenden begrüßend.

»Nein«, erwiderte dieser; »nur ein Anklang aus den zerstreu-ten Versen eines in Ihrem Riga untergegangenen verlorenen Ta-lentes, um dessen Gaben es ewig schade ist. Herr von Brackellas uns, als wir vergangenen Winter in Riga waren, einige Pro-ben davon aus vergilbten Blättern vor, und diese Zeilen bliebenmir im Gedächtnis. Sie sind so wahr, so natürlich. Ich begreifevollkommen die Anhänglichkeit des rigischen Kaufherrn für sei-ne Stadt; trägt sich doch dies heimatliche Gefühl auf die meistenüber, die aus fremden Landen dorthin übersiedeln: auf Bremer,Lübecker, Dänen, Schweden, Franzosen und Engländer. Alle ak-klimatisieren sich sehr bald und nennen sich mit Freuden Rigen-ser. Ja, auch den russischen Patriotismus, der sie bald zu begei-sterten Untertanen des Beherrschers aller Reußen macht, begrei-fe ich vollkommen. Sie werden wirklich, mögen sie an und fürsich noch so freisinnige Kosmopoliten sein, sehr bald echte rus-sische Staatsbürger. Und warum sollten sie nicht? Ihre bürgerli-chen, kaufmännischen, gewerblichen Institutionen haben noch soviel Reichsstädtisch-Selbständiges aus den blühenden Zeiten derHanse an sich; ihr gerichtliches Verfahren neigt in allen Zivilju-stizsachen noch so ganz zum alten einfachen Wesen hin; ihre Gil-den und Zünfte bewahren manche schöne Vorrechte, und nur inder politischen Verwaltung macht sich der eiserne Arm aus Pe-tersburg fühlbar, was freilich mitunter schwer trifft, wie uns alle,was aber wieder durch immense Vorteile aufgewogen wird. Übergeistig strebenden Menschen würde vielleicht der Zensurdruckam härtesten walten und fühlbar werden, wäre nicht glücklicher-weise die Handhabung desselben edlen wissenschaftlichen Män-nern, wie Napiersky, Albanus, Grave, anvertraut und stünde nicht

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ein wahrer Gönner und Kenner schöner Literatur in Person Ihreswürdigen Zivilgouverneurs von Fölkersahm an der Spitze. So lebtsich’s denn im Wohlstand und Wohltun prächtig innerhalb dieseralten Festungsmauern, und ich lobe jeden Rigenser, der stolz dar-auf ist, so zu heißen. Wer aber gar, wie Sie, Herr Singwald, seinHaus zum Sammelplatz liebenswürdigster Geselligkeit im vollstenSinne des Wortes schuf, dem verdenkt es niemand, daß es ihm nir-gends, auch unter den Berliner Linden nicht, so gut gefällt als indiesem seinem Hause.«

Alle Anwesenden stimmten verbindlich ein. Auch des Herrn Zi-vilgouverneurs von Kurland Exzellenz, der hoch aufgerichtet, ingeradester Haltung wie ein Riese, bei den letzten Worten an derSeite seiner Damen in die Nähe der Versammlung heranprome-niert kam, gewann der unbeugsam scheinenden Steifheit seinerFigur eine freundliche Verneigung ab. Und gleich nach ihm erschi-en der Vizegouverneur mit seinem Neffen, einem achtzehnjähri-gen Lieutenant, welcher vorgestern auf einen kurzen Urlaub vonder persischen Grenze her zu den Verwandten gekommen war.Man freute sich sehr, den man als kleinen Jungen vor etlichenJahren abreisen gesehen, jetzt als jungen schönen Mann, von desOrients Sonne gebräunt, wieder zu empfangen, und er benahmsich, wie wenn er nur das Allergewöhnlichste erlebt hätte undwie wenn er aus Pernau oder von der Insel Ösel käme; schon einalter gewiegter Soldat. Er wußte viel und gut zu erzählen vompersischen Hofe, wo er sich als Genosse irgendeiner militärischenGesandtschaft irgendeinen brillantierten Ordensstern geholt undvon wo er sich auch einen Perser als Kammerlakaien mitgebracht,der sich in Medems Villa durch seine Nationaltracht sehr auszeich-nete. Als jetzt unseren guten Oberältesten seine Pfeife ausgegan-gen war vor lauter Eifer des Zuhörens, und als der Landsmann desunsterblichen Dichters Hafis dem rigaischen Kaufherrn mit gran-dioser Ruhe einen brennenden Fidibus darreichte, versicherte seinjunger Gebieter, es sei dies eine nicht genug zu schätzende Her-ablassung, denn ursprünglich habe dieser Schüler des Zoroasternur die Pflicht auf sich, Pfeifen zu stopfen; das Anzünden gebühre

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einem andern Individuum, weil für jede Dienstleistung bestimmtePersönlichkeiten angestellt wären.

»Haben Sie alle bei sich, bester Herr von Meitel?« fragte Sing-wald, der sich dabei amüsierte, wie wenn er selbst Schach vonPersien hieße.

»Nein«, erwiderte der junge Offizier; »die übrigen habe ich imHauptquartier zurückgelassen, ebenso wie die echten Steine mei-nes Ordens, die ich einstweilen mit nachgeahmten vertauscht ha-be. Es gibt auch in Persien Juwelenhändler, und die Reise bis Mit-au kostet viel. Aber eine schöne Georgierin möcht ich meinemOnkel mitgebracht haben, hätte ich mich nicht vor der Tante ge-fürchtet.«

»Das sind Vorzüge, einem unermeßlichen Riesenreiche einver-leibt zu sein«, nahm der Prokureur das Wort, »daß junge LeuteGelegenheit haben, im Dienste ihres Vaterlandes in verschiedenenWeltteilen heimisch zu werden und Erfahrungen zu gewinnen, dieunbezahlbar bleiben fürs ganze Leben. Wie lange ist es her, daßwir dieses Bürschchen mit seinen Büchern unterm Arm ins Gym-nasium wandern sahen, und jetzt hört ihm Freund Singwald zuwie einem Orakel. Ja, ein russischer Offizier ist freilich etwas an-deres als der Lieutenant, der aus dem Karlsruher Kadettenhausenach Mannheim oder Rastatt in Garnison geschickt wird.«

»Na, wo Schatten ist, muß auch Licht sein«, wollte einer vonder Gesellschaft sagen, doch er schluckte es noch bei guter Zeithinunter, als der Polizeimeister ihm gerade eine Prise reichte.

Singwald, weil er darnach trachtete, dem Gespräche eine ande-re Wendung zu geben und es aus dem Bereich bedenklicher Fra-gen zu bringen, äußerte sein Befremden darüber, daß kein Dampf-schiff auf dem Wege von Stettin nach Petersburg in Riga anlege,und wurde alsogleich von seinen Freunden gutmütig verspottet,die ihm deutlich zu verstehen gaben, daß Frau Oberälteste nie-mals und unter keiner Bedingung ihren bequemen Reisewagenmit einer Kajüte oder Kabine vertauscht haben würde und daßer selbst, obgleich in jüngern Jahren ein rüstiger Seefahrer, jetztauch nicht mehr so lüstern nach Stürmen sei.

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»Ich weiß doch nicht«, erwiderte er; »das Stückchen von Ber-lin bis Tilsit ist verzweifelt lang, dreimal vierundzwanzig Stundenund darüber auf der Landstraße . . . Na, wie lange dauert’s, habenwir Eisenbahnen!«

»Das erleben wir wohl nicht mehr«, sagte der Polizeimeister.»Ich bin um soviel älter als Sie, liebster Obrist; aber wie ich

noch erleben will, daß wir von Riga nach Tauroggen durchgän-gig Chaussee haben, so sollen Sie erleben, daß von Königsbergbis Berlin Eisenbahn geht. Zwischen Leipzig und Dresden wird’sschon. Binnen vierundzwanzig Jahren können Livland und Kur-land in unsre lieben böhmischen Bäder fliegen wie Brieftauben.Und nach Dresden werden eure Kinder . . . «

»Apropos von Dresden«, unterbrach ihn der Postmeister, »wasmacht der herrliche Lipinsky? Was macht die edle Musika im all-gemeinen?«, dabei stand er auf, verließ seinen Platz und nahmeinen leeren Stuhl neben Singwald ein.

»Wenn sich der Etatsrat von Joung und der Herr Oberälteste inMusik verbeißen, dann hat’s mit der übrigen Konversation ein En-de«, sprach Herr von Korff; »ich denke, wir brechen auf und gebenunserem rigaischen Freunde das Geleite bis in sein Gasthaus.«

Der Zug bewegte sich langsam fort, paarweise gingen die Her-ren zur Stadt, und lautes Gelächter brach bisweilen schallend ausüber die kräftigen Witzworte, welche der Oberforstmeister vonManteuffel in die Sternennacht losfeuerte.

Simeon, den die vorsorgliche Madame Singwald ihrem Gattenmit einem Überrocke nachgesendet, ging ganz zuletzt neben demispahanischen Pfeifenstopfer und bemühte sich, mit diesem An-sichten über persische und livländische Valetaille1 pantomimischauszutauschen.

2. KAPITEL

Nicht ganz so schnell wie der auf einer Wettfahrt begriffenePostmeister von Livland, Herr Etatsrat von Baranoff, aber dochimmer noch rasch genug, um einem deutschen Fuhrmann dieHaare auf dem Kopf krabbeln zu machen, fuhren Herr und Frau

1Dienerschaft.

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Singwald ihrer lieben Düna zu. Da floß der mächtige Strom vorihren freudigen Augen; da lag die alte, räucherige, von grünenFestungswällen eingezwängte Stadt; da schwamm die seltsame,aus Balken und Brettern gefügte lange Brücke, ohne Mauer, ohnePfeiler, ohne Bogen, nur durch Ketten festgehalten, an riesenhaf-ten Pfählen hin und her schwankend auf den Wogen; da standenzu beiden Seiten derselben Schiffe, Kähne und Strusen1 jeder Grö-ße und Gattung, teils um ausgeräumt zu werden, teils um neueLadung zu erwarten.

»Dort hinunter geht’s?« fragte Simeon ängstlich seine Nachba-rin, die Kammerjungfer, als der Kutscher vom Damme hinablenk-te; »dort hinunter ins Wasser, zwischen die Schiffe? Da müssenwir ja ersaufen!«

»Waih, mein Guter«, rief Dorchen, die jetzt beim Anblick dergeliebten Heimat plötzlich gesprächig wurde; »so ’ne Brücke trägtet’s andere Lasten als unsern Wagen! Da müßten Sie sehen bei›Hungerkummer‹, wenn es von vielen tausend Menschen wim-melt, hin und her, und ist stürmisch Wetter; da geht die Brückewie eine Schaukel und ersauft doch kein Mensch – außer wer insWasser fällt aus Versehen.«

»Das glaub ich wohl, Dorchen; ’s ist nur wunderlich, so ’neBrücke, die auf dem Flusse schwimmt wie eine ausgehobene Türauf dem Teiche. Aber was sagten Sie von ›Hungerkummer‹, wasstellt das vor?«

»›Hungerkummer‹ heißt unser Volksfest. Schade, daß wir nichtein bißchen früher zurückkamen, da hätten Sie’s noch erlebt. Dasist zur Erinnerung an eine große Hungersnot vor vielen, vielenJahren, wie wir noch sind schwedisch gewesen. Aber das sollenSie doch alles wissen, Simeon? Sagten Sie nicht in Teplitz zuHerrn Oberältesten, Sie wären aus Pet’sburg?«

»Bin ich auch, Dorchen!«»Und waren noch nicht in Riga?«»Außer jetzt, wo wir ins Tor hineinfahren . . . Donnerwetter, ist

das ein schwarzes Loch!«

1Flöße.

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»Wie sind Sie denn aber nach Teplitz geraten, wenn Sie nichtdurch Riga gereist sind?«

»Sehr einfach, Beste: von Petersburg nach Kopenhagen zur See;von Kopenhagen nach Lübeck dito mit Schrauben; von Lübecknach Hamburg zur Achse und von Hamburg nach Magdeburg aufder Elbe; das übrige können Sie sich denken! Ist das unser Haus?«

»Freilich! Da steht schon der Isaak!« Die Kutsche hielt auf einenRuf Singwalds vor der richtigen Tür, und der alte Isaak, seinen vol-len Bart streichelnd, näherte sich freudig der geliebten, fast seitvier Monaten entbehrten Herrschaft. In seinem selbsterfundenenGemisch von Russisch, Lettisch und Deutsch, welches außer ihmnur der liebe Gott verstand und welches die zum SingwaldschenHause Gehörigen aus langer Übung errieten, verkündete er zu-vörderst, daß, Gott sei Dank!, die Pferde wohlauf seien; dann erstbegrüßte er Herrn und Frau ehrfurchtsvoll; und nachdem diesePflicht mit aller Unterwürfigkeit erfüllt war, wendete er sich mitvertraulichem Nicken zum Gefolge. Aber wie zitterten seine hel-len blaugrauen Augen unter ihren buschigen weißen Brauen, alser einen jungen, ihm wildfremden Diener vortreten und beim Aus-steigen Hilfe leisten sah. Fragend warf er einen erstaunten Blicknach der Kammerjungfer, und diese, ihre Pyramide von Schach-teln und leichten Hutfutteralen vorsichtig türmend, sagte nur: »Erist auf der Reise gestorben!«

Isaak schlug ein Kreuz, wischte sich die Augen, murmelte mitdem kindlichen Ausdruck, der den alten Russen so weich erschei-nen läßt: »Armes Bruder, wo kommst du geblieben?«, richteteflüchtig die forschenden Augen auf Simeon, dessen elegante Ju-gendlichkeit ihm entschieden mißfiel, und ging dann, ohne sichweiter mit diesem einzulassen, an die Arbeit, um die Remise zuöffnen und den Reisewagen, wenn er gesäubert wäre, ins alteStandquartier zu bringen. Die Köchin, welche mittlerweile auchherbeigestürzt war, eine derbe, langhaarige, wohlgenährte Lettin,sah den Nachfolger ihres in Böhmen begrabenen Kameraden un-gleich freundlicher an als der Kutscher Isaak. Die Röte ihrer glän-zenden Wangen und das Lächeln der breiten Lippen, welches ein

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kerniges weißes Gebiß enthüllte, deutete Herrn Simeon mit unwi-derleglicher Gewißheit an, daß es nur bei ihm stehe, gastronomi-sche Genüsse aus allen Töpfen, Tiegeln und Kasserollen der Sing-waldschen Küche zu schmecken. Er benützte denn auch gleichden ersten ungestörten Moment, wo sie ihm sein Stübchen an-wies, die Lächelnde in den dicken Arm zu zwicken und ihr zusagen: »Verdamm mich, Köchin, Sie haben schöne, solide Zähne,förmliche Palisaden wie an einer Festung.«

»Wie Zikadell bei Dünakant«, erwiderte die Geschmeichelteund entzog dem ausgewitzten Petersburger ihren Arm nicht. DieKammerjungfer dagegen, welcher diese rasch vorschreitende Ver-traulichkeit nicht entging, bereute alsogleich, den »windbeuteli-gen Laffen« auf der Brücke einige gefällige Worte gegönnt zu ha-ben, und zog sich wieder in ihre reife und verdrüßliche Mam-sellenhaftigkeit zurück, worin sie während der ganzen Reise ver-hüllt geblieben war. Von heute, als am ersten Tage ihrer Ankunftin Riga, erklärte sie sich zu Simeons entschiedener Gegnerin undtrat dadurch vollständig auf die Seite ihrer Madame. Simeon, derGunst des Herrn gewiß, legte wenig Wert auf jene Ungunst undbedauerte nur, daß nicht wenigstens ein Sohn von etwa achtzehnJahren vorhanden sei, der einen Vertrauten gebrauche; dann,rechnete er, würde der Platz das Doppelte wert sein!

Herr Singwald rechnete derweilen in seinem Comptoir, über-sah, was er aus brieflichen Mitteilungen nicht deutlich entnom-men, ließ sich über den Zustand der Geschäfte mündliche Berich-te nachtragen, prüfte die Bücher und erklärte sich völlig zufriedenmit allem, was während seiner Abwesenheit geschehen. In diesergünstigen Stimmung, noch erhöht durch das anmutige Gefühl,wieder behaglich in der gewohnten Heimat zu weilen – ein Ge-fühl, wofür das reifere Alter gar so empfänglich macht! – , begaber sich gegen Abend auf seinen seit langen Jahren immer glei-chen Weg nach der »Muße«! Wer hätte sich länger als einen Tagin Riga aufgehalten, hätte er nur die geringste Ansprache an ir-gendeinen gebildeten Menschen gehabt und wäre nicht aufgefor-dert worden, die großartigste, einer reichen Handelsstadt würdi-ge und ihr zur Zierde gereichende »Muße« zu besuchen? Sie ist

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allerdings auch nichts anderes als eine Ressource, ein Klub, oderwie man sonst gesellige Vereine dieser Gattung benennen will.Aber sie ist so splendid dotiert und ausgestattet, so fest begrün-det, wird so nobel geführt, daß sie gewiß auch auf den Weitgerei-sten, Vielerfahrenen Wirkung machen und ihm Achtung einflößenmuß. Zwei Absonderlichkeiten, die sie vor allen ähnlichen Insti-tuten auszeichnen, haben auf den Verfasser dieser Zeilen dochden größten Eindruck gemacht, weil ihm dergleichen sonst nir-gends begegnete. Erstens, daß die »Muße« in ihren weiträumigenLokalitäten nebenbei auch ein Theatergebäude besitzt und diesesdem öffentlichen Gebrauch des Publikums gratis zur Dispositionstellt. Zweitens – was ganz unerhört bleibt, während der erste-re Punkt eben nur rigaisch, will sagen: human, großmütig, »gen-til« genannt werden darf! – , daß sie zur Zeit, in welcher dieseNovelle spielt, einen Portier den ihrigen nannte, welcher, in denVorzimmern zu den Gesellschaftssälen die Aufsicht führend, je-dem Eintretenden Hut, Stock, Überschuhe, im Winter Pelz oderMantel abnahm, ohne eine Nummer daran zu befestigen, ohne ir-gendein anderes Kennzeichen nötig zu erachten, und diese ihmanvertrauten Gegenstände ihrem Besitzer regelmäßig wieder zu-stellte, auch wenn bei großen Versammlungen sechs- bis acht-hundert Personen und mehr sich durcheinanderdrängten. Erwägtman, daß die in Riga gebräuchlichen und von jedem anständigenMenschen getragenen Waschbärpelze einer wie der andere aus-sehen, daß die – meisterhaft gearbeiteten – Überschuhe sämtlichnach einem Zuschnitt gemacht sind und daß binnen zehn Jahrennicht eine Verwechslung vorgefallen ist, auch an Fremden nicht,so übersteigt solche Abnormität doch wahrlich alles, was im Ge-biete des Personen- und Sachengedächtnisses überhaupt geleistetwerden kann.

Doch das ist eine leere Abschweifung. Ebenso, als die nur kürz-lich zu erwähnende Klage, daß es bis jetzt noch keiner kritischenForschung festzustellen gelang, ob man »Muße«, ob man »Muse«schreiben müsse. Ein Streit, der um so schwieriger zu schlichten,

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weil für beide Lesarten gewichtige Gründe vorhanden. Gespro-chen wird einmal: »Muße«, und usus tyrannus.1

In diese seine »Muße« also begab sich unser Herr Singwald,nachdem er vorher schon die betreffenden Freunde avertieren2

lassen, daß er glücklich eingerückt sei und ihrer angenehmen,längst entbehrten und ersehnten Whistpartie kein Hindernis mehrdrohe. Doch dieses Avertissement war zu voreilig gegeben – wiemanches andere. Sie setzten sich zwar, des eifrigsten Willens voll,als redliche Spieler an den schon bereiteten Tisch, aber schonwährend des ersten Rubbers hatte sich die Kunde von Herrn Sing-walds Ankunft durch alle Räume verbreitet, und da entstand eineförmliche Völkerwanderung zu ihm, und ein Händedrücken, einWillkommenheißen, ein Fragen, ein Erzählen störten die notwen-dige geistige Sammlung, ohne welche echte Kartenspieler nichtbestehen können.

Sie hätten es für Entweihung gehalten, in diesem Durchein-ander die Partie fortzuführen, und entschlossen sich lieber, denersten Abend von Singwalds Heimkehr traulichem Geschwätzezu widmen. Da kam dann vielerlei Neues zum Vorschein, wassich in diesem Sommer zugetragen: wichtige Veränderungen ander Börse; Verschönerungen in Wöhrmanns Park; definitiver Ent-schluß von Seite der bisherigen Schauspieldirektrice Frau vonTscherniewska, die Führung niederzulegen; verschiedene Pläne,ein neues theatralisches Unternehmen durch Aktien zu gründen;heitere Zusammenkünfte auf diesem oder jenem Landsitz im Grü-nen; festliche Begehung des Jakobstages in Bienenhof, wo beifröhlichem Mahle der Herr Oberälteste gar sehr vermißt worden –diese und noch vielfältige andere Dinge wurden besprochen. Fürdie wichtigste von allen Neuigkeiten galt – die freilich nur nochim Vertrauen und leise geflüsterte Vermutung – , daß der bisherigePolizeimeister von Riga, trotz aller mündlichen auf der Durchreisein Elley gegebenen Gegenversicherungen des allmächtigen GrafenB., höchstwahrscheinlich seinen Platz werde räumen müssen.

1(lat.) Die Gewohnheit ist der Herr.2vorwarnen.

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»Und warum das jetzt auf einmal?« fragte Singwald. »Wennder gute Obrist damals gefallen wäre, als sein Gönner, der Mar-quis Paulucci, beim Thronwechsel in Ungnade entlassen wurde,da hätt es mich nicht Wunder genommen. Aber jetzt, wo er sichmit seinem späteren Vorgesetzten, unserem gegenwärtigen recht-schaffenen Generalgouverneur so gut eingerichtet, was stürzt ihndenn jetzt?«

Die Herren rückten noch näher zusammen und flüsterten nur:»Es kommt vom Archimandriten her; der Obrist soll sich bei Ver-folgung und Einkerkerung der Raskolniks nicht energisch genugbenommen und namentlich einige Greise auf Bürgschaft aus denFesseln entlassen haben, ehe noch die Untersuchung geschlossenwar. Darüber hat ihn der hiesige Archimandrit in Petersburg ver-klagt.«

»Ja, freilich, dann ist er schon so gut wie verloren, da kannihn auch Graf B. nicht retten. Wenn die Altgläubigen mit im Spie-le sind . . . Wer heißt ihn aber auch ein so mitleidiges Herz ha-ben? Das paßt nicht für seinen Posten. Nun bin ich nur neugierig,wen wir an seine Stelle bekommen. Gewiß einen rechten Stock-russen!! Ah, schade, schade um unsern guten Obrist. Ja, der HerrArchimandrit, der steht sehr gut mit Petersburg. Da ist alles leichterklärlich.«

Und sie gingen, mehr oder weniger verstimmt, auseinander.

3. KAPITEL

Eine Woche war beinahe herum, der liebe Sonntag vor der Tür,und Simeon stand bei seiner wohlbeleibten Freundin in der Kü-che, zum – ich weiß nicht wievielten Male – sich schildern zulassen, was es im gastfreien Riga mit den sogenannten offenenTafeln eigentlich für eine Bewandtnis habe?

»Also eingeladen wird niemand, Lieschen?« fragte er.»Niemand, guter Simon, außer einmal, zum ersten Mal. Da sagt

Herr Oberältester oder Frau Oberälteste: ›Sonntag um drei Uhr,immer willkommen.‹ Und hernach bleib aus oder stelle dich ein,jeder wie er will.«

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»Da weiß ja aber unsereiner nicht, für wie viele gedeckt werdensoll?«

»Waih, guter Simon, wissen wir in der Küche, auf wieviel sollgekocht werden? Heute drei, über acht Tage dreißig. Reichen mußes immer, und reichlich; dafür sorgt schon die Frau. Und derSpeisetisch ist zum Einschieben und zum Ausziehen, wie man’sbraucht. Tischzeug, Silber liegen im Schrank, Gläser stehen imBüffet, Flaschen sind im Keller, und Weißbrot hat der Bäcker ne-benan. Sie müssen nur morgen nicht den Kopf verlieren, dennmorgen wird alles kommen, was in der Stadt zugegen ist vonBekannten und Hausfreunden. Zum Glück wohnen viele Herrennoch im Grünen. – Ha, guten Morgen, Iwan«, rief sie plötzlichin russische Sprache übergehend, einem jungen, schlanken Bur-schen zu, der barfuß, in dünner sommerlicher Nationaltracht,mehrere Körbe mit Obst und Gemüse auf dem Kopf tragend,schüchtern in die Küche guckte. »Bist du noch hier? Ich habe dichja gar lange nicht gesehen und deinen Vater auch nicht.«

»Meinen Vater?« schluchzte Iwan, und heiße Tränen rolltenüber seine bleichen verkümmerten Wangen.

»Waih, was ist denn? Ist dein Vater krank oder tot?«»Mein Vater ist weggeschleppt worden, in Ketten, wer weiß wo-

hin.«»In Ketten? Was hat er denn verbrochen, der arme Mann?«»Er ist kein Rechtgläubiger, sagen sie; sie haben ihn verhört

und mich auch. Ich bin nach meinem Mütterchen, die gehört zurheiligen Kirche. Der Vater ist ein Raskolnik, haben sie gesagt. Dahaben sie ihn geschlagen und auf einen Wagen geworfen, mit vie-len andern; mich haben sie lassen laufen. Ich will noch vollendsverhandeln unsern kleinen Vorrat, und dann will ich zur Mutternach Narwa.«

»’s ist wohl zum Erbarmen, was sie treiben mit ihrer Rechtgläu-bigkeit«, sprach Lieschen und nahm, soweit ihre Wirtschaftsgeldernoch reichten, dem Jungen den größten Teil seines grünen Kra-mes ab, ohne weiter mit ihm zu handeln. »Meine Madame wird’sschon gutheißen«, meinte sie, streichelte ihm die bleichen Backenund hieß ihn wieder vorsprechen, solange er noch hier bleibe.

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»Wie kommt der Bengel aus Narwa hierher?« fragte Simeon,der als geborener Petersburger alles verstanden, was die beidenrussisch abgehandelt.

»Sein Vater ist ein Leibeigener, dem seine Herrschaft erlaubt,zum Sommer in eine Gegend zu ziehen, wo mehr wächst undbesser wie bei ihnen zu Hause. Da treffen jedes Jahr eine gan-ze Menge hier ein und pachten ein Stück Feld, wo sie Grünzeugpflanzen und bauen. Zum Winter kehren sie zurück und bringenein bißchen Geld mit, davon bekommt der Herr seinen Anteil fürden Urlaub. Iwans Vater kenn ich schon, solange ich bei HerrnOberältesten diene, und den Jungen habe ich so aufwachsen se-hen; hab mich von Jahr zu Jahr gefreut, wenn er wieder einenhalben Kopf größer geworden war. Nun haben sie ihm den Vatergenommen – den sieht er nicht wieder; der kommt um, wo ihnkeine Sonne bescheint. Waih, sind das noch schöne junge Erbsen,wie im Juli.«

»Warum ist der alte Kerl ein solcher Esel«, äußerte Simeon,»daß er einen besonderen Glauben haben will? Kann er nichtglauben, was ihm befohlen wird?«

»Aber Simon«, sagte Lieschen, »wer kann denn für seinen Glau-ben? Der muß ja in mir sein. Den kann ich mir doch nicht befehlenlassen. Wenn uns befohlen wurde, wir sollen nicht mehr evange-lisch sein? Geht denn das so, daß man sich umändert in seinemHerzen?«

»Bei mir sehr leicht, Lieschen, wenn ich einen Profit davon habe. . . «

»Pfui, Simon, was sind Sie für ein schlechter Mensch«, schriedie dicke Köchin entrüstet, und vielleicht wäre ihre junge Freund-schaft schon an diesem Gespräche zugrunde gegangen, hätte sichnicht glücklicherweise Madame Singwald hören lassen, die nachSimeon rief, diesem eine Summe Geldes und den Auftrag gebend,er möge zu Muschkin gehen und ein Pfund von dem Karawanen-tee holen, zu zehn Rubel.

Lieschen beschrieb ihm diensteifrig und umständlich, wo be-sagter Muschkin zu finden, und wir lassen sie mit ihrer Gebieterin

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zurück, der sie Teilnahme für Iwans Schicksal einzuflößen ver-sucht, während wir dem auf seine schöne, gestern erst empfange-ne Livree sehr eitlen Simeon folgen.

Muschkin, ein kleines unscheinbares Gewölbe im engen, abge-legenen Seitengäßchen bewohnend, handelte nur mit zweierleiArtikeln, deren Vortrefflichkeit allgemein bekannt war und ihmreiche Kundschaft erhielt: echter, astrachanischer, großkörnigerKaviar bildete im Winter den Hauptbestandteil seines Lagers; fei-ner, mild duftender, nie aufs Schiff gekommener schwarzer Teesicherte ihm das ganze Jahr hindurch gute Einnahmen. Außer-dem betrieb er – nur nebenbei – ein ziemlich belebtes Geldwech-selgeschäftchen im kleinen, wobei es vielleicht nicht immer ganzehrlich zuging, was er jedoch mit der schlauen List eines durch-triebenen Bartrussen, der er war, vortrefflich zu verdecken wußte.Sein Gewölbe ging natürlich auf die Gasse hinaus. Es war nichtviel besser als ein trockener Keller, aber so dunkel und düster,daß man zwei Schritte vor der Eingangstüre fast keinen Gegen-stand mehr zu erkennen vermochte als eine verhangene Glastüre,die im Hintergrunde nach seinem Seitenstübchen führte, welchessein Wohn- und Schlafgemach vorstellte. Dieses hatte nur ein mitstarken eisernen Stäben vergitteres Fenster und ging auf einenkleinen, schmutzigen Hofraum hinaus, wo sich ein kleiner Wa-genschuppen und Stallung für ein Pferd befanden. Dies war dereinzige Luxus, den sich dieser sonst knauserige alte Mann ver-gönnte. Man sah ihn an jedem Sonn- und Feiertage, wo der Ladengeschlossen blieb, spazierenfahren; immer allein. Er hatte wederWeib noch Kind.

Bei diesem trat Simeon also ein. Auf einem Fasse, neben demhalbangelegten, schwer mit Eisen beschlagenen Türflügel, lagein bräunlich-gelber Kater von solch enormer Größe, daß Sing-walds eleganter Diener ihn für einen mäßigen Leoparden hieltund ängstlich zurückfuhr.

Lachend bewegte sich Muschkin aus der finsteren Tiefe des Ge-wölbes in die Vorhalle und leistete Bürgschaft für die Unschädlich-keit seines Katerchens, welches kein Mensch zu fürchten habe,

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der nicht eine Maus oder Ratte sei. Er zog sehr sorgsam Erkun-digung ein, für wen der Tee verlangt werde; verbeugte sich beiNennung des Namens Singwald ehrerbietig; wünschte dem BotenGlück, Mitglied eines solchen Hauses geworden zu sein; suchteaus den mit chinesischen Hieroglyphen gezierten Pfundschachtelnbedächtig eine ganz besonders bunte heraus und empfahl sich derGnade und ferneren Gunst der Dame.

»So ganz allein leben Sie hier, Papinka1?« fragte Simeon, dessenBlicke neugierig in die dunklen Räume drangen.

»Ganz allein mit dem da!« erwiderte Muschkin, auf den Katerdeutend, worauf er sich zurückzog.

»Das ist gewiß ein höllisch reicher Geizhals«, murmelte Sime-on und ging, die chinesische Teebüchse als Fangball behandelnd,lustig davon.

Eben wollte er in seines Herrn Haustor einbiegen, als ein un-scheinbar gekleideter Mensch hinter ihm herrief: »Darf ich bitten,auf ein Wort?« Und ehe er noch eine Silbe entgegnet hatte, standderselbe schon neben ihm hinter der Türe. Sehr geheimnisvollwurde die Frage gestellt: »Nicht wahr, Sie sind der neue Diener,den Herr Oberältester draußen im Bade angenommen hat?«

»Gewiß bin ich der.«»Ich soll Ihnen Grüße bestellen aus Tilsit.«»Mir, aus Tilsit? Da kenn ich keine lebendige Seele; hab mit

niemand dort auf der Durchreise gesprochen, außer mit dem Po-stillon, der uns bis Lauchzargen fuhr.

»So? Nun, dann entschuldigen Sie; dann ist es doch wohl einIrrtum.«

Und der Geheimnisvolle wollte sich entfernen. Doch Simeonhielt ihn zurück: »Nein, Bester, nicht so rasch; erst müssen wirversuchen, dem Dinge auf den Grund zu kommen. Von wem sinddenn die Grüße, die Sie mir bringen? Und wer sind Sie denn, daßich so frei sein darf . . . «

»Ich bin der Diligencenführer2 von Tauroggen nach Riga, hinund her. Vorvorgestern, während ich in Tauroggen noch auf einen

1Väterchen.2(Eil-)Postkutscher.

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verspäteten Passagier warten mußte, den sie im Zollamte vorhat-ten, trat ein Jude zu mir und bat mich, wenn wir in Riga einträfen,möcht ich Sie aufsuchen und Ihnen bestellen von Herrn PinkusHeimann Seelig Festenberger in Tilsit, es wäre alles in Ordnungund Sie könnten Zylinderuhren beziehen, soviel Sie wollen; sil-berne, goldene, Repetieruhren, von jeder Sorte.«

»Ich danke Ihnen. Wirklich, Herr Pinkus Heimann Seelig Fe-stenberger ist außerordentlich gütig, aber der Teufel soll michzum Imbiß fressen wie einen Strömling1, wenn ich den Namenjemals gehört habe. Was soll ich denn mit den vielen Zylinderuh-ren anfangen? Ich bin froh, daß ich eine erschwungen habe.«

»Was Sie damit anfangen sollen, Herr Kammerdiener? Ja, daskann ich Ihnen nicht sagen, wenn Sie nicht vielleicht von selbstdarauf kommen. Ich weiß nur, daß eine schöne Zylinderuhr in Ri-ga fünfzig Prozent mehr wert ist als in Leipzig oder Nürnberg oderGenf. Ich weiß nur, daß gute Geschäfte dabei zu machen sind; beiUhren, bei seidenen Stoffen, bei feinen Batiststickereien, bei Spit-zen und solchem Kram. Allerdings, der Einfuhrzoll ist auf mancheArtikel höher gestellt als der mögliche Profit; andere sind wiederganz verboten und deshalb um so gesuchter. Da muß man dennseine Anstalten treffen, daß man sie durchbringt an der Grenze.Und ich glaube wohl, es gibt unternehmende und geschickte Leu-te, die den Transport von Tilsit nach Tauroggen sicher besorgen.Hat man die Ware erst in Tauroggen . . . na, und ist man erst beider Tamoschna2 durch . . . dann wird weiter nicht mehr visitiert,eine Diligence schon gar nicht. Verdienen mag gern ein jeder et-was, wenn es auf gerechte Weise geschieht . . . Aber freilich, da Sieden Herrn Pinkus nicht kennen, so wird’s wohl ein Irrtum sein.«

Simeon fing an zu begreifen, um was es sich handelte. Fünf-zig Prozent Gewinn klangen an seinen Ohren hell und voll, auchwar er Rechner genug, um zu überschlagen, daß, wenn ein Dritteldieses Gewinnes, wie billig, dem Vermittler zufiele, für ihn immer

1Eine Heringsart.2Zoll.

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noch 33 13 übrigblieben. Er hub also wieder an: »Ich muß wohl da-

bei bleiben, Herrn Pinkus kenn ich nicht. Doch vielleicht sind Sie– wie ist Ihr werter Name?«

»Stammbauer, wenn’s beliebt.«»Vielleicht ist Herr Stammbauer in der Lage, mir zu eröffnen,

wie eine Bekanntschaft einzuleiten wäre?«»Nichts leichter als das. Sie schreiben an den Juden – hier ist

seine Adresse – , bestellen Ware nach Belieben und Bedürfnis,je nachdem Sie abzusetzen hoffen, legen das Geld bei und ichnehm’s an den Spediteur nach Tauroggen mit. Das übrige findetsich von selbst.«

»Hm; den Betrag für die ganze Rechnung muß ich bar beile-gen? Wird nicht auf Kredit gehandelt?«

»Später, erst muß er Vertrauen zu Ihnen fassen, so wie Sie zumir. Fangen Sie klein an. Nur zum Versuche. Unterdessen lernenwir uns alle besser kennen, und dann wagen Sie einen großenSchlag.«

Das leuchtete Simeon ein. Er ließ Stammbauer sich jetzt ent-fernen, ließ sich sagen, wo er ihn antreffen könne, und begabsich rasch zu Madame Singwald, um erst den Tee zu überreichenund dann in seinem Zimmer, welches er vorsichtig abschloß, ei-ne genaue Überzählung seines ersparten Geldes vorzunehmen.Warum sollte ich nicht auch mein Glück im Handel versuchen?fragte er sich beim Zählen der seit etlichen Jahren in verschie-denen Diensten gesammelten Dukaten, unter denen wirklich nureinige gestohlen waren; weshalb sollt ich nicht auch Handel trei-ben, da mich das Schicksal in eine so berühmte Handelsstadt ge-bracht hat? Wenn’s mir so bequem gemacht wird!

4. KAPITEL

Lieschen, die dicke Köchin, hatte richtig vorhergesagt: der er-ste Sonntag nach ihrer Heimkehr versammelte bei Singwald einegroße Anzahl Tischgäste; größer noch, als die Frau vom Hause er-warten konnte, weil plötzlich eingetretenes Regenwetter mehrereHerren ihr zuführte, die an einem schönen Tage gewiß ins Grüne

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geritten wären. Aber da bemerkte man keine Unruhe, keine Ver-legenheit, kein eiliges Hin- und Herschießen der Leute und über-haupt nichts dergleichen, was andern Ortes bei ähnlichen Fällenherkömmlich ist. Mit den Augen zu winken begnügte sich Ma-dame Singwald, und es lag so viel bestimmte Klarheit in diesenWinken, daß auch Simeon nicht einen Augenblick über die Be-deutung jedes einzelnen im Zweifel blieb. Nur als der zwanzigsteMitesser angelangt war und er dem lenksamen großen Speiseti-sche eine abermalige Ausdehnung zumutete, dachte er bei sich:ein bißchen viel zu servieren wird’s doch geben für einen ein-zigen, und ein Hilfsdiener wäre eine schöne Sache. Kaum aberhatte er’s ausgedacht, als ein schwarzgekleideter, sehr anständi-ger Mensch erschien, sich ihm als Lohnbedienter aus der »Muße«zu erkennen gab, sogleich Hand anlegen half und sich in allemzu Hause zeigte. Wer hatte ihn gerufen? Wahrscheinlich auch nurein verständlicher Augenwink der umsichtigen Hausfrau.

Die Mahlzeit ging ordentlich, ohne Versehen von Simeons Sei-te, ihren gehörigen rigaischen Gang, vom »Schälchen mit Imbiß«vor der Suppe bis zu den Torten, zu welchen eine Auswahl sü-ßer Kompotte und eingelegter Früchte gegeben wird. Da außerder Dame vom Hause keine andere anwesend war, so hatte dieseden Ehrenplatz. Sonst ist es in den Ostseeprovinzen (in Riga ent-schieden) gebräuchlich, daß die Herren eine Seite, die Damen dieentgegengesetzte der Tafel einnehmen und daß sie, anstatt wie inDeutschland »bunte Reihen« zu bilden, sich in zwei Linien geson-dert gegenübersitzen. Dem Fremden erscheint das im Anfang un-passend und ebenso kleinstädtisch-zimperlich als ungewöhnlich.Bei näherer Beobachtung zeigen sich große Vorteile für die Ge-selligkeit. Während bei uns Nachbar und Nachbarin für die Dau-er einer langen Mittagstafel galeerensklavenmäßig aneinanderge-schmiedet sind und ihre angenehme Konversation sie entwederdem Allgemeinen entzieht oder ihr Nichtzusammenpassen ihneneinen langweiligen Tag bereitet, sind hier beide Reihen gezwun-gen, hinüber und herüber laut zu verkehren, wodurch ein eigenesLeben entsteht und isolierte Plaudereien verhindert, ja unmöglichwerden.

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Am Singwaldschen Sonntagstisch fand heute, wie immer, derfröhlichste Austausch von Gedanken, Ansichten, Meinungen undErfahrungen statt. Nicht allein merkantilisches Übergewicht woll-te sich geltend machen. Auch Wissenschaft, Literatur, Kunst undLeben wurden ihrer Rechte teilhaftig. Gelehrte, Ärzte, Prediger,Beamte vertraten die Welt der Ideen; umsichtige, vielerfahrene,weitgereiste Kaufherren zeigten sich ebenso empfänglich für diemusikalischen Eröffnungen des Musikdirektors Heinrich Dorn alseinige Stabsoffiziere, unter ihnen ein Sohn Kotzebues, mit Freu-den vernahmen, daß Ratsherr Brederlo ein neues, kostbares Ori-ginal für seine Gemäldesammlung erworben habe. Der AdvokatDr. Bienemann versicherte mit Stentorstimme, man habe voll ent-behrender Betrübnis dieses Gastliche Haus vier Monate hindurchgeschlossen erblickt, und ein von ihm vorgeschlagener Toast aufglückliche Wiedereröffnung wurde mit Jubel aufgenommen.

Wäre auch nicht der liebenswürdige Engländer Master Hay zu-gegen gewesen, die Gesellschaft würde dennoch, als das Dessertabgeräumt war und Madame Singwald sich zurückgezogen hatte,bei einem Glase Portweins sitzen geblieben sein. Diesen Brauchhat Rigas Kolonie von ihren britischen Mitbrüdern sich gern ein-impfen lassen; in dieser Beziehung, auch im gegenseitigem Zu-trinken, ist Riga Klein-London – nur, vermuten wir, trinkt manbessere Weine als in Groß-London, und der »Claret« ist nicht soheftig mit Sprit versetzt als dort. Was den Portwein betrifft, des-sen man in Riga froh wird, so erhebt sich die Vortrefflichkeit des-selben über jede Beschreibung. Bei einem solchen saßen nun vier-undzwanzig wohlgesinnte Männer verschiedenen Alters, Berufesund Standes, einig in geistig-geselliger Bildung, in edler Gesin-nung, in aufrichtiger Anhänglichkeit an das Riesenreich, dem ih-re Heimat einverleibt ist, in Anerkennung der irdischen Vorteile,die ihrem Verkehr daraus erwachsen, seelenvergnügt beisammen.Solche Stimmung begünstigt natürlich auch den Scherz, und man-che Neckerei traf diesen und jenen, ohne zu verwunden, wenn sieauch ein wenig die Haut ritzte. Da ging es denn auch gegen denharmlosen Hausherrn, der seinen alten, pedantischen, vieljähri-gen Johann nur deshalb auf die Badereise mitgenommen habe,

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um ihn draußen zu begraben und an seine Stelle einen flotten,geschniegelten und geleckten Modediener mitzubringen, der sichin diesem ehrwürdigen, reichsstädtischen Hauswesen ausnehme,wie wenn er nicht hinein gehörte.

»Gut, daß meine Frau nicht mehr zugegen ist«, sagte Singwald,»für die wäre das neuer Stoff. Sie ist eine entschiedene Gegnerinmeines armen Simeon; die Feindschaft wider ihn erstreckt sichsogar bis auf ihre Zofe, die sich trotz vorgerückter Jahre nochimmer Dorchen schelten läßt und vielleicht minder absprechendwäre, wenn er ihr nicht Lieschen vorzöge. Meine Frau geht soweit, zu behaupten, er heiße eigentlich Simon – so steht es imPasse – und nenne sich nur deshalb Simeon, weil in unserem Ka-lender der Name Simeon fünfmal vorkomme, Simon jedoch nurzwei Namenstage feiern könne.«

Diese Ansicht fand rauschenden Beifall, aber auch vielen Wi-derspruch. Die Fröhlichkeit steigerte sich, als der in Frage Stehen-de, der samt dem Lohndiener längst das Speisezimmer verlassenhatte, herbeigerufen wurde, in eigener Person einen Kalender her-beizuholen, aus welchem sich denn ergab, daß Simon wirklich nurauf 10. April und 1. September falle, Simeon jedoch am 3. Febru-ar, 17. März, 27. April, 24. Mai und 21. Juli mit großen Letternverzeichnet stehe.

»Werden Sie das Fest fünfmal im Jahre begehen oder sieben-mal?« fragte Konsul S. in der ihm eigentümlich scharfen Weise.

»Neckt mich, wie ihr wollt«, erwiderte Singwald, nachdem Si-mon oder Simeon sich wieder entfernt hatte, »solang ich lebe, binich noch nicht so gut bedient gewesen, und ich fühle mich demGeneral Polliwoy, der mir den Burschen in Teplitz rekommandier-te, zu wahrem Danke verpflichtet. Er ist eigentlich ein geborenerMoskauer, von deutschen Eltern. Nach dem Brande haben sich dieSeinigen mit ihm und andern Kindern nach Petersburg gezogen,und da ist er denn durch viele Hände gegangen und von klein aufgleichsam zum Diener herangebildet worden.«

»Eine gute Schule«, sagte der Konsul, »aber doch gefährlich. Esmag ein gewandter Kerl sein, das zeigt sich, doch vertrauen könntich ihm nicht; Es liegt etwas Schlimmes in seinen Zügen.«

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»Sie sind immer zu streng, Freund S.«, erwiderte Singwald. »Indem ehrlichen Simeon steckt kein Falsch. Ein bißchen luftig ist ernoch, er ist eben noch jung. In unserer Jugend waren wir wohlauch nicht sehr gesetzt, mein gütiger Konsul. Oder waren Sie?«

Es wollten sich gerade einige Stimmen erheben, um für den Ge-fragten, und zwar im ganz entgegengesetzten Sinne, zu antworten,als Simeon hereinplatzte und lebhaft ausrief: »Der Herr Profes-sor!«

»Schon? Das ist ja herrlich«, entgegnete Singwald; »nur her-ein und tausendmal willkommen! Meine Herren, Professor Mül-ler, der als Lehrer der Naturwissenschaften an unsere Hochschu-le nach ›Dörpt‹ berufen ist, dessen Bekanntschaft wir in Dresdenmachten, der uns versprach, auf der Durchreise einige Wochenbei uns zuzubringen, und der nun sein Versprechen auf eine soliebenswürdige Weise erfüllt, daß er mir Gelegenheit gönnt, ihnmeinen besten Freunden in pleno vorzustellen.«

»Simeon, sage meiner Frau, welche Freude unserm Hause wi-derfuhr, und wenn es ihr gefällig ist, kommen wir, den Tee bei ihrzu trinken.«

5. KAPITEL

Professor Müller, schon am nächsten Tage in Singwalds Hau-se heimisch, als ob er darin geboren wäre, wurde es bald eben-so in ganz Riga. Dies ist die Eigentümlichkeit nordischen Lebensund Treibens. Wer sie einmal kennenlernte, sehnt sich ewig dar-nach, und stillen häuslich gestimmten Naturen oder auch solchen,die nach wildem Umhertreiben in weiter Welt einen Hafen desFriedens suchen, kann weder Glanz noch Geräusch Ersatz dafürbieten. Das ist und bleibt der noch lange nicht genugsam durch-forschte Kontrast zwischen Süd- und Norddeutschland, der leiderso häufig zu gegenseitigem Mißverständnissen und zu gehässi-gen Anfeindungen Veranlassung gibt. Gesonderte Elemente, dieim Charakter der Menschen gleichwie in klimatischen Verhältnis-sen wurzeln. Berlin bildet gewissermaßen die Scheidewand undsagt deshalb, weil es – sozusagen – weder warm noch kalt ist, dem

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Fremden am wenigsten zu; auch die Größe der Stadt ist hinder-lich. Darüber hinaus wird der Unterschied schon ausgesprochener,folglich angenehmer. Und in Königsberg zeigen sich die Vorteile,welche aus den Nachteilen eines achtmonatlichen Winters auf-blühen wie Blumen aus dem Schnee in ihrer vollen Bedeutung fürFamilienleben, geistige Geselligkeit und wahrhaft häusliche Freu-den. Da gibt es bald keine Gäste, keine Fremde mehr; da kenntman nur Hausfreunde. Wie viel entschiedener ist es in Riga!

Professor Müller warf sich mit der ganzen Lebendigkeit einesgemütvollen geistreichen Südländers in diese behaglichen Zu-stände und suchte, klug genug, in den Sanddünen und Nadel-holzwäldern keine »Bergstraße« zu verlangen und kein Heidelber-ger Schloß, Entschädigung beim Anblick des mächtigen Stromes,der tiefen, melancholisch flüsternden Föhrenheiden, der mit Im-mergrün umkränzten blauen Landseen, des weiten, von Schaumbespülten Strandes. Noch lag der Sommer in voller nordischerReinheit und Dauer auf den sanfthügeligen Flächen, wie wenn ergar nicht scheiden wollte. Von Vorboten des nahen Herbstes keineSpur. Täglich wurden Ausflüge gemacht. An den Stintsee; an den»Strand«, wo freilich die Badegäste schon sehr dünn geworden;nach Mitau hinüber, zu den Freunden. Und den Beschluß der fröh-lichen vierzehn Tage sollte eine Fahrt nach Dünamünde machen,um die Festung und den Leuchtturm zu sehen, an welchen letz-teren sich für den Sohn der Binnenströme poetische Bilder undAnschauungen knüpften.

Man legte bei einem unnatürlich schwülen Septembertage dieetlichen Meilen nach Bolderaa, von vier kräftigen Lohnpferdengezogen, trotz aufgewühlten Sandweges rasch zurück und hieltdort vor dem erträglichsten Gasthause – denn in Bolderaa, als ei-nem Hafenörtchen, sind eigentlich alle Gebäude Matrosenkneipenund die weibliche Bedienung derselben allerdings mehr auf »Teer-jacken« als auf Einspruch rigischer Oberältestinnen berechnet – ,hieß den Kutscher seine Pferde versorgen und gab Simeon denAuftrag, Mäntel und Lebensmittel zu bewachen und dafür Sorgezu tragen, daß nach der Rückkehr vom Leuchtturm eine nahrhaf-te Kollation bereitstehe. Dann machten sich Singwalds mit ihrem

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lieben Gaste wohlgemut auf. Im Fort Dünamünde, welches siedurchwandern mußten, begegnete ihnen der Kommandant des-selben, der brave Obrist Manderstjern, der den Freunden aus Ri-ga allerdings nur eine Hand entgegenstrecken konnte, aus demeinfachen Grunde, weil ihm die andere samt dazugehörigem Ar-me auf irgendeinem Schlachtfelde abhanden gekommen war, andessen herzlicher und wohlgemeinter Begrüßung aber dennochniemand zweifelte. Er gab ihnen, da er selbst durch Amtsgeschäf-te verhindert war, sie zu begleiten, einen von zahllosen Ehrenzei-chen bebänderten eisgrauen Unteroffizier als Führer mit; einen je-ner in allen Klimaten gebräunten, eisenfesten, uralten Krieger, wiesie vorzüglich in der russischen Armee so groß, ernst, gehorsam,willenlos und unerschütterlich zu sehen sind. Dieser schritt wieein Turm vor ihnen her, und Singwald, in lustiger Laune, äußer-te: »Wenn der Kerl eine brennende Kerze auf seine Mütze steckenwollte, könnten wir behaupten, ein Leuchtturm gehe den anderenbesuchen. Übrigens«, fuhr er fort, »da Sie nun, Freund Müller, denObristen von Manderstjern persönlich kennenlernten, muß ich Siedoch auch mit seinem Bruder, dem General, bekannt machen, vonwelchem eine merkwürdige Geschichte kursiert, die ganz geeig-net ist, nicht bloß diesen tapferen Offizier zu bezeichnen, son-dern die auch einen eigentlichen Blick in unsere Zustände ge-währt, für den neuen russischen Untertanen, als welcher Sie nachDorpat einziehen, von großem Interesse. Es fand ein großes Trup-penmanöver statt, welches unseres Kaisers Majestät selbst mit Ih-rer Anwesenheit beehrten und wobei sehr viele ausländische Offi-ziere hohen Ranges, Österreicher, Preußen, Franzosen, Engländersogar, als Zuschauer sich befanden. Der vom Kommandierendenentworfene Plan war dergestalt eingerichtet, daß die geschlageneArmee auf Schiffbrücken über einen Strom retirierte und hintersich die Brücke rasch abbrach, so daß der verfolgende Sieger amUfer stehenbleiben sollte. Hier hielt der Kaiser mit den Großfür-sten und sämtlicher Suite, als General Manderstjern an der Spit-ze seiner Brigade anrückte und haltmachte. ›Nun, Manderstjern‹,rief ihm der Kaiser zu, ›was geschieht jetzt?‹ – ›Majestät‹, erwider-te dieser, ›das Manöver ist zu Ende und der Feind aus dem Felde

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geschlagen.‹ – ›Aber ein rechter Feldherr‹, fuhr der Kaiser fort, ›be-gnügt sich nicht mit einem halben Vorteil; jenseits müßte man diegeschwächten Truppen verfolgen.‹ – ›Befehlen Majestät, daß iches tue?‹ fragte der General. ›Du mußt wissen, was du zu tun hast‹,sagte der Kaiser. Da sprengte der General vor die Front: ›Soldaten,unser Kaiser will, daß wir dem Feinde folgen; schlagt das Kreuz!Mir nach!‹ Und er gibt seinem Pferde die Sporen und setzt in diereißenden Fluten, die Roß und Reiter augenblicklich verdecken;das erste Glied der Truppen folgt ihm mit jubelndem Hurra! Hun-derte sinken vom schweren Tornister bedrückt, obwohl sie sonstgute Schwimmer sind. ›Soldaten‹, schreit der Kaiser, daß es weit-hin schallt, ›rettet eueren General.‹ Abermals Hunderte werfen ihrGepäck ab, stürzen sich in die Wogen und bringen den von altenNarben bedeckten Krieger halbtot heraus. Die Ertrunkenen hatniemand gezählt. Abends lag der kranke Manderstjern, furchtbarfiebernd, in seiner Biwakhütte, da trat, nur von einem Adjutan-ten begleitet, der Kaiser bei ihm ein. ›Manderstjern‹, sprach erfreundlich zürnend, ›bist du wahnsinnig, einen Scherz so aufzu-nehmen?‹ – ›Majestät‹, antwortete der im Frost Klappernde, ›ichwußte nicht, ob es nicht vielleicht ernst war. Konnte mein Kaiserso vielen fremden Generalen nicht durch die Tat zeigen wollen,wie weit der Gehorsam des Russen für seinen Herrn reicht?‹ –Wie gefällt Ihnen dieser Zug, Freund Müller?«

Der Professor schüttelte sich: »Da weiß man doch beim Himmelnicht, ob man schaudern und umkehren soll, aus diesem Landefliehend, oder ob man staunend bewundern möchte.«

»Da Sie einmal nach Dorpat berufen sind, Professor, und akzep-tiert haben, so rate ich Ihnen wohlmeinend zum letzteren. ZiehenSie aber das Schaudern vor, dann, um Gottes willen, kehren Sienoch von Riga aus um, wo die Grenze in einem Tage und einerNacht zu erreichen ist. Haben Sie in Dorpat die Brücke überschrit-ten, befinden Sie sich auch schon in Asien, wie Bulgarin versi-chert.«

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Während dieser Plaudereien gingen sie den schmalen Dammentlang, der nach dem Leuchtturm führt. Vor ihnen lag der Ri-gaische Meerbusen unter einem klaren hellen Himmel, an dessenäußerster Grenze nur ein kaum sichtbares graues Gewölke hing.

Der Unteroffizier wies darauf hin, schüttelte sein Silberhauptund sagte: »Nix gutt, Sturm!« und förderte seine Schritte.

»Gott beschütze«, sprach Madame Singwald, der dies rasche-re Tempo Seufzer entlockte, »bis daraus ein Sturm wird, der unstrifft, sind wir wohl dreimal wieder zu Hause. Das Wölkchen hatja Platz in meinem Strickbeutel.«

Müller stimmte bei.»Sage das nicht, meine Beste«, wendete der Oberälteste ein.

»Ums Meer herum herrschen ganz eigene Gesetze. Wir wollendoch nicht unnütz trödeln.«

Und sie griffen schärfer aus, ohne auf die Seufzer der wohlbe-leibten Dame zu achten.

Die Besichtigung des Leuchtturmes mit seinen inneren Vorkeh-rungen nahm einige Zeit weg. Sehr umständlich setzte der Wäch-ter den Besuchenden seine ernsten Pflichten auseinander und diestrenge Verantwortlichkeit, welcher bei unglücklichen Ereignissener, vielleicht ohne üblen Willen oder eigentliche Schuld, verfal-len könne. Das Dasein solches Wächters in völliger Abgeschieden-heit von anderem menschlichen Tun und Treiben; die Einsamkeitder Nacht gegenüber den beweglichen Wasserwüsten; die hoch-wichtige Bedeutung solches unscheinbaren Amtes; das grauen-hafte Verlassensein bei tobenden Orkanen . . . dies alles, in derNähe betrachtet und erwogen, ist wohl geeignet, denkenden undfühlenden Menschen Stoff zu fesselnden Gesprächen zu bieten.In solchen begriffen, überhörten unsere Freunde denn auch al-le wiederholten Aufforderungen ihres Unteroffiziers, die dieser,aus Ehrfurcht für seinen Festungskommandanten, dessen Geheißihn zu ihrem Untergebenen für dieses Spazierganges Dauer ge-macht, nur leise und ohne Entschiedenheit auszusprechen wagte.So begab es sich denn, daß sie, den Turm verlassend und ins Freie

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hinaustretend, die geringgeschätzte kleine Wolke am fernen Hori-zont bereits zu einer weitausgedehnten, dunkelgrauen Decke an-gewachsen fanden, die den halben Gesichtskreis einnahm. Dochmeinte Madame Singwald, bis nach Riga kommen wir schon nochtrocken, und dann kann’s losgehen.

»Täuscht mich nicht alles, so geht es schon los«, sprach derProfessor. Und eh er diese wenigen Worte vollendet, war kaumnoch ein Dritteil des reinen Himmels zu sehen. Aber auch die-ses verschwand hinter undurchdringlichen Wolken, bevor nochSingwald seiner Gattin den guten Rat erteilen konnte, ihr Kleidaufzuschürzen. Den ersten einzelnen Tropfen, die wie Taubenei-er groß herabgefallen waren, folgte nun in gerade regelmäßigenStrömungen ein Wasserguß, dessen Gewalt binnen einer Minu-te durch jegliches Stück ihrer Anzüge drang und heftig, wie erEingang gefunden, seinen Ausgang suchte. Der vor einer Stundestaubdürre Pfad des Dammes verwandelte sich in einen Sumpf.Nur wenige Schritte voneinander, sahen sie sich eines das anderenicht mehr, und Singwald machte, mit aller Anstrengung seinerStimme, den Vorschlag, sie möchten wie Kinder, wenn sie aus derSchule laufen, Schlange spielen und ein jeglicher seines Vorgän-gers Rockzipfel anfassen; den Kopf der Schlange sollte der Unter-offizier bilden und sie leiten, damit sie nicht durch einen Fehltrittvom Damme herab ins Wasser gerieten. Der Unteroffizier brachtesie auch richtig bis ins Fort Dünamünde; von hier war er ausge-sendet, hierher lieferte er sie noch lebendig; so weit ging seineParole; was weiter aus ihnen würde, war nicht seine Sache. Erverschwand, als ob die Erde ihn verschlungen hätte. Und die Ver-lassenen bewegten sich auf gutes Glück zur Festung hinaus, wo-bei dem Professor sein angeborener Ortssinn gut zustatten kam.Der Verdruß über das unfreiwillige Bad hatte bei allen dreien oh-nehin nur so lange angehalten, als sie sich noch törichte Mühegaben, irgend etwas von ihrer Kleidung zu schützen. Seitdem siesich in ihr Schicksal gefunden, waren sie sämtlich geneigt, diekomische Seite der Lustpartie in Erwägung zu ziehen, weshalbsie unter lautem Lachen in Bolderaa anlangten. Doch da wendete

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sich das Blatt noch einmal. Die erwarteten Anstalten zur ersehn-ten Bewirtung mangelten. Dem sie übertragen gewesen, fehlte.Kein Simeon war vorhanden. Die Mädchen im Gasthause erzähl-ten, der »junge Herr« habe gerade angefangen, sich mit ihnen zuunterhalten, da sei eine alte Frau vorübergegangen, die ein klei-nes Blockhäuschen draußen am Strande in den Sanddünen besit-ze, wo Schiffer von geringeren Fahrzeugen bisweilen Unterkunftnähmen. Diese Frau scheine er zu kennen, denn er habe hinter ihrher gerufen: »Wo kommen Sie denn her?« und sei ihr dann nach-gefolgt. Als sie ihn erkannt, habe sie große Freude gezeigt; wahr-scheinlich sei er mit ihr in ihr Häuschen gegangen, und wenn ihnda drin der Guß überrascht habe, könne er jetzt beim besten Wil-len nicht zurück, weil ringsherum alle Niederung überschwemmtsei.

»So ist er wenigstens entschuldiget, wenn auch nicht gerecht-fertiget«, hub Singwald an; »aber jetzt, ihr Leute: starken Kaffeeherbei! Nehmt die Flaschen aus ihrem Futterale und kocht unseinen Glühwein, so heiß wie Karlsbader Sprudel. Ehe wir dieRückfahrt antreten, müssen wir von innen brennen, damit wirauswendig dampfen. Es wird sein wie in der russischen Badestu-be; meinen Sie nicht auch, Professor?«

»Ich meine«, sagte Müller, »wir haben von Glück zu sagen,wenn Ihre Frau Gemahlin nicht schwer erkrankt nach dieserfurchtbaren Durchnässung.«

»Wo denken Sie hin? Jetzt bin ich schon wieder bei Wege. EinGewitterregen schadet nicht, der ist wie ein Schwefelbad. Unddie nassen Kleider, was sind die anderes als Gräfenberger Leintu-chumhüllungen, die jetzt modern sind? Man muß nur verhindern,daß Zugluft daran kommt. Geben Sie mir meine wattierte En-veloppe, meinen Shawl; nehmt ihr Männer eure Mäntel; schützteuch gegen den Wind, heizt euch ein mit Weine, ich will’s mit Kaf-fee tun; dann wohlverpackt in die Kutsche, und wenn wir in Rigaaussteigen, rauchen wir über die Treppen hinauf wie drei wan-delnde Kohlenmeiler. Dann ins Bett bis über die Ohren, und mor-gen früh stehen wir um zehn Jahre jünger auf, was mir gar nichtschändlich sein wird und meinem guten Singwald auch nicht.«

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Wo die Frauen, vorzüglich ältere, einen Unfall mit heitrem Sin-ne wegzuscherzen verstehen, kann bei Männern kaum der Miß-mut aufkommen. Müller und Singwald versicherten, den duftiggewürzten Glühwein schlürfend, zu wiederholten Malen, daß die-ser Nachmittag der ergötzlichste ihres vierzehntägigen Umher-schweifens sei, und als sie Bolderaa verließen, dachten sie desweggeschwemmten Simeon gar nicht mehr.

Bei später Nacht, die nur bisweilen von Blitzen erhellt wur-de, langten sie glücklich, wenn auch nicht ohne Gefahr, vielleichtin ausgetretene Wässer zu geraten, vor ihrem sicheren Hause an,wo Isaak, Dorchen, Lieschen und andere Dienstboten ängstlich ih-rer harrten. Isaak, sehr zufriedengestellt, daß man seinen wohlge-pflegten Pferden die schwere Anstrengung nicht zugemutet; Dor-chen, boshaft lächelnd über Simeons Ausbleiben; Lieschen, teil-nehmend und ängstlich fragend: was aus ihm geworden.

Doch das mag er ihr selbst entdecken, soweit er es für nötigfindet, sie in seine Privatverhältnisse einzuweihen. Denn mit Ta-gesanbruch meldete er sich, im eigentlichen Sinne naß wie einegebadete Katze.

Der Herrschaft berichtete er, daß er am Strande eine Muhmeseiner verstorbenen Mutter gefunden habe, die dort eine kleineSchenke halte. Er bat flehentlich um Verzeihung, die ihm dennauch, in Anbetracht aller von ihm ausgestandenen Fährlichkei-ten, durchaus nicht vorenthalten wurde, zu Lieschens Freude, zuDorchens Verdruß.

6. KAPITEL

Mit diesem letzten heftigen Ungewitter hatte der Sommer Ab-schied genommen. Einen Herbst, nach unseren deutschen Begrif-fen, mit seinen goldenen Tagen und schwebenden »Altweiber-sommern« und bunten Blättern und schwellenden Früchten kenntman dort kaum. Als Professor Müller nach »Dörpt« abreiste, ra-schelte schon dürres Laub über die Landstraße, und der Winterstand vor den Toren. Doch lange blieb er nicht draußen, er stell-te sich beizeiten ein. Und Rigas Hausfrauen empfingen den al-ten wohlbekannten Gast gut gerüstet, ausgestattet mit allem, was

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ihn zähmt, unschädlich macht; ja, was ihm Reize abgewinnt, dieer eben nur im Norden entfaltet, wo man, auf sein längeres Ver-weilen eingerichtet, ihm entgegenruft: »Komme nur! Schüttle nurdeine Schneemassen über uns! Je mehr, desto besser! Baue nurdeine Eisblöcke auf; je fester, desto schöner: sie werden uns eben-soviel Brücken. Schnaube nur, drohe nur, wir sind auch da, undwir wollen schon miteinander fertig werden!«

Dies dachte auch Madame Singwald. Ihre reichen Vorräte wa-ren in bester Ordnung, die großen Keller voll des schönsten, ge-sundesten Buchenholzes, die kleinen Keller bargen köstliche Wei-ne, des Herrn Oberältesten Geschäfte gingen gut, Friede im Lan-de, Friede im Hause, Freundschaft und angenehmer Umgang dieFülle – und sogar an Simeon hatte sie sich nach und nach ge-wöhnt, war ihm wenigstens nicht mehr feindselig gesinnt, lobteseine Aufmerksamkeit für Singwald und ermahnte Dorchen, auchvon ihrer Abneigung wider den jungen Menschen zu lassen. Siehatte nichts dagegen, daß seine Muhme, wenn sie von Bolderaanach der Stadt kam, ihn bisweilen besuchte, und erlaubte ger-ne, daß Lieschen die Ermüdete mit mancherlei Überfluß der stetsgefüllten Küche beschenkte. Dorchen behauptete zwar, die bol-deraasche Muhme habe auch ein sehr verkniffenes Gesicht undes wäre ihr ebensowenig zu trauen wie dem Simeon; doch Lies-chen wurde dadurch nicht angefochten, sondern murmelte nur:»Waih, allen beiden kann er nicht Schönheiten sagen. Eine vonuns zweien muß zu kurz kommen, und ich bin doch die Jüngere.«

Ihr gutes und mitleidiges Herz begnügte sich jedoch nicht mitdem Schutze, den sie dem Simeon und dessen Muhme angedei-hen ließ. Sie dehnte ihre Teilnahme auch auf den hübschen, lan-gen Iwan aus, den Gärtnerburschen, der immer noch kein Unter-kommen gefunden und dem es jetzt beim Herannahen des Win-ters doppelt erbärmlich ging. Der arme Junge wäre so gern ineinem Stalle bei Pferden beschäftigt gewesen. Er konnte gar nichtgenugsam schildern, wie sehr ihm diese Tiere ans Herz gewachsenwaren und daß er gern leben wolle wie ein Hund, wenn er nur mitPferden leben könne. Das vertraute sie dem alten Isaak, vielleichtin der Hoffnung, dieser werde einen Gehilfen wünschen und sich

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beim Herrn die Vergünstigung erbitten, Iwan dazu zu machen.Doch davon wollte Isaak nichts hören. Ihn kränkte der Argwohn,als sei er schon zu alt, um seinen Beruf allein zu erfüllen. Gleich-wohl gefiel auch ihm der schlanke Iwan, und als dieser ihm gardes unglücklichen Vaters Leidensgeschichte erzählt und ihm dieheimlich gehegte Hoffnung anvertraut hatte: der Geschäftsführerseines Gebieters in Narwa werde vielleicht im Wahne, der Sohnsei mit dem Vater fortgeschleppt, ganz vergessen, fernere Ansprü-che geltend zu machen, wodurch dann die Leibeigenschaft, die inLivland ohnedies nicht herrsche, nach und nach erlöschen könne. . . da setzte sich Isaak in den Kopf, den armen Iwan unterzubrin-gen. Wenn der eingeborene Russe einmal einen Vorsatz gefaßthat, so wendet er auch gewiß alle ihm eigentümliche Schlauheit,verbunden mit aller Ausdauer nordischer Zähigkeit, an die Durch-führung desselben. Isaak wäre Iwans leiblicher Vater gewesen undhätte nicht unermüdlicher sein können, für diesen Zweck zu for-schen, sich zu bemühen. Es währte denn auch nicht lange, da trater pfiffig lächelnd in die Küche, wo gerade Simeon seine Muhmedurch Lieschen bewirten ließ und Iwan der Abgänge des Mahlesfroh wurde, um letzterem anzuzeigen, daß er ihn beim Teehänd-ler Muschkin untergebracht habe als Diener, Kutscher, Ladenbur-sche, Hausknecht, Koch, alles auf einmal.

Zum Überlegen war keine Zeit, denn Muschkin hatte sei-nen versoffenen Schlingel von Aufwärter fortgejagt, er brauch-te sogleich den Ersatzmann. Lieschen gab ihren Segen, Simeonwünschte Glück, Iwan küßte voll Dankbarkeit Isaaks Ärmel, undfort ging es, als ob er flöge.

Simeons Muhme ließ sich die Verhältnisse bei Muschkin aus-führlich schildern, bezeigte der Erwähnung seines Reichtumsgroße Aufmerksamkeit und begleitete die Beschreibung des ver-einsamten Daseins, welches dieser alte Sonderling führte, mit sonachdenklichem Kopfnicken, daß Lieschen auf die Idee geriet, je-ne beabsichtigte einen Versuch, ihn zu einer Heirat zu bereden,die allerdings für eine kümmerlich lebende Witwe gar nicht übel

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gewesen wäre. Dieser Gedanke erregte Simeons höchste Bewun-derung. Aber seine Verwandte wollte nicht darauf eingehen; er-stens sei sie doch schon zu alt zum Heiraten, wenn auch sonstnoch »ziemlich fix«; und zweitens wäre die Religion ein Hindernis,da sie um keinen Preis zur griechischen Kirche übertreten werde.

Der letztere Grund schien Lieschen vollkommen triftig. Simeonzuckte dazu verächtlich mit Achseln, doch wohlverstanden hinterihrem Rücken.

7. KAPITEL

Vielleicht würden die kleinen Verstöße gegen gesetzliche An-meldungen neuer Dienstboten und gegen strengen Nachweis ihrerBefugnis, am Orte zu weilen, nicht so unbeachtet vorübergegan-gen, sondern zu Iwans Nachteile vom scharfen Auge der Sicher-heitsbehörde entdeckt worden sein, wäre nicht glücklicherweiseder Polizei-Pristaff1 Schloß, in dessen Quartier Muschkins Woh-nung lag, in diesem Augenblicke, gleich seinen Kollegen, ganzund gar beschäftigt gewesen mit dem nun wirklich zur Wahrheitgewordenen Wechsel seines Chefs. Der seit Jahren fungierendePolizeimeister war in der Tat plötzlich nach einer entfernten, klei-nen, unbekannten Stadt im Innern Rußlands versetzt und an sei-ner Stelle ein mit deutschen Sitten und Verhältnissen, mit deut-scher Sprache Unbekannter, ein übrigens gutmütiger und freund-licher Nachfolger angelangt. Jener hatte sein Exil, dieser seinegünstige Beförderung lediglich der unglücklichen verfolgten Sek-te der Altgläubigen, Raskolniks, auch Philipponen genannt, unterdie unseres Iwans Vater gehörte, zu verdanken, gegen welche ver-folgte Sekte der erstere nicht hart genug verfuhr und, wie schonoben angedeutet, dadurch Haß der Landeskirche auf sich lud. Die-se Philipponen – so werden sie im angrenzenden Preußen genannt– mögen Schwärmer sein, aber unschädlich sind sie gewiß. Wenig-stens erweisen sie sich so im Ostpreußischen, wo ihre Vorväter,

1Der Verfasser weiß, daß die Schreibart der wenigen, in dieser Erzählung vor-kommenden russischen Wörter dem ursprünglichen Alphabete nicht entspricht; erbemüht sich, so zu buchstabieren, wie sie unserem deutschen Ohre ausgesprochenklingen.

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damals schon verfolgt, einzuwandern und sich anzusiedeln dieErlaubnis erhielten. Zu jener Zeit unter Kaiserin Elisabeth, nahmdie Auswanderung dermaßen zu, daß man sich genötigt fand, ihrEinhalt zu tun, und einen eigenen Ukas erließ, vermöge dessenbesagter Sekte vollkommene Duldung und Glaubensfreiheit imVaterlande zugesichert worden.

Jener Ukas scheint zu Iwans Zeiten durch einen späteren ver-drängt worden zu sein. Tempora mutantur1.

War die Kabale, welche den vorigen Polizeimeister stürzte undden neuen beförderte, darauf ausgegangen, Menschlichkeit durchUnmenschlichkeit zu vertreiben, so hatte sie sich getäuscht. Derkleine dicke Russe, vor dessen Namen schon sich ganz Riga ge-fürchtet, zeigte sich, da er in Person erschien, als ein bon enfant2

im besten Sinne des Wortes; radebrechte sein bißchen Französischund seine wenigen deutschen Vokabeln mit zuvorkommendsterArtigkeit; verriet nicht die entfernteste Neigung, seine Amtsge-walt bösartig anzuwenden; und flößte sehr bald allen, die amtlichoder gesellig mit ihm in Berührung traten, das beste Zutrauen ein.Nur gegen die eigentlichen Übeltäter und Feinde der bürgerlichenSicherheit, gegen Diebe und Räuber, brachte er den jungfräuli-chen Eifer eines im Dienste noch nicht abgenützten und müde ge-wordenen Mannes mit aus seiner bisherigen kleinen Umgebung,wo es nicht viel zu fangen gab, in eine Bevölkerung von siebzig-tausend Seelen, die reiche Beute versprach. Er brannte auf Ta-ten, die ihn nützlich machen, die ihn in der öffentlichen Meinungehren sollten. Deshalb warf er sich gleich in den ersten Tagentüchtig ins Geschirr und brachte, wie es bei solchen heftigen An-läufen immer geht, Schreck und Verwirrung unter sein Personal.Diesen seinen Eifer noch zu vermehren, mußte gerade eine Wo-che vor seiner Ankunft, nahe bei der Stadt, »im Grünen« ein fre-cher Anfall auf eine noch nicht aus ihrer ländlichen Sommerwoh-nung zurückgekehrte Dame verübt worden sein, welcher vielerleizu reden gab. Wir belauschen den braven Mann im vertraulichenGespräche mit Pristaff Schloß, einem seiner umsichtigsten und

1(lat.) Die Zeiten ändern sich.2(franz.) Gutmütiger Kerl.

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gebildetsten Beamten. »Sagen Sie mir aufrichtig, lieber Pristaff«,spricht er zu ihm, »kommt dergleichen öfter vor? Hausen wirklichRäuber und solches Gesindel in den Waldungen um eure Stadt?Und sind die Leute in ihren ›Höfchen‹ derlei Angriffen ausgesetzt?Wie konnte man das einreißen lassen? Wer sind die Schufte? Wokommen sie her?«

»Herr Obrist«, erwiderte der Pristaff, »ich bitte Sie zu beden-ken, daß Jahre vorübergehen können ohne den geringsten Vorfalldieser Gattung und daß kein Mensch lobende Erwähnung davonmacht; daß dagegen ein Ereignis, wie das neuliche, hinreicht, al-le Zungen in Bewegung zu setzen, um jeden günstigen Eindruckruhig vergangener Jahre zu verwischen. Das ist eine Ungerechtig-keit der öffentlichen Meinung, woran jede Behörde zu leiden hat.Übrigens liegt es in unserer Lokalität, daß sich hierherum vieler-lei Gesindel versteckt, dessen habhaft zu werden keine Aufsichtgenügt. Strom- und Seeschiffahrt, naher Hafen, waldbewachse-ne Hügel, vereinzelte Höfe und Hütten, Schleichhändler, ewigesKommen und Gehen, Bestechlichkeit vieler schlechtbezahlter Of-fizianten – wo läßt sich da strenge Kontrolle handhaben? Dieserletzte Überfall scheint mir von Kerls verübt zu sein, die man nachdem hiesigen Volksausdruck ›Rietzchensucher‹ nennt.«

Der Obrist bemühte sich vergebens, dies nie gehörte Wort nach-zusprechen, und bat um Erklärung, welche ihm der Pristaff imbesten Russisch folgendermaßen gab: »Zur schönen Sommerzeitpflegen von den hier garnisonierenden Regimentern mitunter De-sertionen stattzufinden. Einige dieser Flüchtlinge versuchen viel-leicht, was ihnen freilich höchst selten gelingt, die Grenze zu er-reichen. Andere, minder kühn, begnügen sich mit ungebundenemAufenthalte im Schatten der Föhrenwälder, wo sie umherschwei-fen, wo sie stehlen, was ihnen vorkommt, und daneben – Pilzesammeln, die sie in den Höfchen zum Verkaufe ausbieten, wo-bei sie wohl Gelegenheit zu nächtlichen Besuchen ablauern. Derbeliebteste dieser Pilze ist der kleine gelbe Reiske, ›Rietzchen‹ ge-nannt; daher jener Spottname. Über kurz oder lang werden siezwar eingefangen und tüchtig geprügelt, aber das ist ihnen nichts

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Neues, und sie haben doch einige Monate hindurch gekostet, wieFreiheit schmeckt.«

»Sind die Menschen verrückt?« rief der Obrist aus. »Wie mö-gen sie nur eines so kindischen Gelüstens willen in ihr Unglückrennen?«

»Herr Obrist«, erwiderte der Pristaff sehr leise, »im Vertrauengesagt, manchmal ist es ihnen nicht zu verdenken. Sie sind mit-unter so übel daran, daß ich begreife, warum sie es tun. Geschähenur, was geschehen soll; empfinden sie regelmäßig, was ihnen ge-bührt – es ist gerade auch kein Wonneleben, doch es wäre auszu-halten. Aber es gibt Vorgesetzte . . . Da ist zum Beispiele hier derObrist von B. – darf ich offen sprechen?«

»Mit mir immer; ich will, ich verlange es.«»Der hat sich eine Villa gebaut, am Strande, und hat sie von

Soldaten aufführen lassen, die bei der Arbeit halb verhungerten.Ich begegnete ihnen, als sie auf der Fähre übergesetzt wurden,um nach getaner Arbeit in die Garnison zurückzukehren. Auf Eh-re, sie sahen aus wie Leichname, die in Charons Nachen aus derUnterwelt kommen. Ich schelte keinen von Ihnen, der etwa Rietz-chensucher würde.«

»O mein barmherziger Heiland«, rief der Polizeimeister mitfeuchtem Auge, »wenn das der Kaiser wüßte!«

»Gott ist hoch und der Kaiser ist weit, Herr Obrist!«»Na, das kann alles nichts helfen, Pristaff; wir müssen darum

doch unsere Schuldigkeit tun. Ich werde heute noch mit Sr. Exzel-lenz dem Generalgouverneur darüber verhandeln und ihm vor-schlagen, daß er mir ein Detachement Kavallerie und eine Kom-panie Infanterie beim Militärkommandanten erwirkt. Sie nehmenIhre sichersten Leute, besorgen Fackeln, und mit Einbruch derDunkelheit wollen wir einen Streifzug unternehmen, um zu ver-suchen, ob es uns gelingt, eine Säuberung jener Schlupfwinkel zubezwecken.«

Am Abende desselben Tages sahen die Bewohner der Vorstädtemit Erstaunen verschiedene Truppenabteilungen nach verschiede-nen Richtungen ohne Sang und Klang, ohne Trommel- und Pfei-fenschall ausrücken.

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»Der ›Neue‹ greift’s herzhaft an«, äußerten sie; »das scheint ein›fixer Kerl‹ zu sein!«

Den Erfolg der nächtlichen Unternehmung betreffend, habenwir nichts Genügendes darüber zu berichten. Waren entweder dieAnstalten nicht umfassen genug oder hatten sich, durch unbehut-same Äußerungen erweckt, schon vor der Zeit Warnungsstimmenbis in den Wald verloren . . . ? Nur ein einziger, freilich verdäch-tiger, Spaziergänger fiel in die Hände der bewaffneten Macht. Erantwortete jedoch so ruhig auf alle verfänglichen Fragen, die Pri-staff Schloß an ihn stellte, und gab so befriedigende Auskunftüber Windau (seine Heimat), erzählte so treuherzig, wie er aufdem Wege nach Wenden sich verlaufen und die Finsternis ihnüberrascht habe, daß man ihn zu binden verabsäumte und sichbegnügte, ihn zwischen den Soldaten mitgehen zu lassen, ummorgenden Tages die Richtigkeit seiner Angaben näher zu prü-fen.

Doch als der Morgen kam, beschien er zwar die Bajonette derTruppe, den Gefangenen nicht mehr in ihrer Mitte. Dieser hatte esfür zweckmäßig erachtet, die bewaffnete, ihm aufgedrungene Ge-sellschaft zu meiden und sich wieder der Einsamkeit zu widmen.Wie er das so unbemerkt zustande gebracht, blieb dem Pristaffunerklärlich, flößte demselben aber auch Achtung für die Fähig-keiten des Unbekannten ein.

Der neue Polizeimeister war sehr ärgerlich, daß sie wie Sonn-tagsjäger zurückkehrten in die Festung, ohne Hasen in der Tasche,ohne Fuchs im Eisen.

8. KAPITEL

Der erste Schnee! Welch ein willkommener Anblick, wenn erbeizeiten sich einstellt, dem raschen Laufe des Schlittens die Bahnzu glätten. Ein nordischer Winter mit weichem Wetter, welchesdie Straßen grundlos macht, hemmt den Verkehr und raubt denEinwohnern die Freuden der Jahreszeit; ein trockener kalter Win-ter mit rauhen Nordostwinden verdirbt Hals und Lunge, führtmancherlei bedenkliche Krankheiten mit. Aber wenn auf kaumentlaubte Bäume im lustigen Wirbeltanze die weißen flaumigen

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Flocken fallen, da ist es nicht anders, als gäb es eine zweite Baum-blüte, so hell und fröhlich flimmern die geschmückten Äste. Undüber Nacht hat sich das weite Feld geputzt mit seinem reinlichen,wärmenden Kleide von dauerhaftem Stoffe gewebt, der ein halbesJahr hindurch vorhält, wo nur bisweilen ein wenig von oben an-gefrischt, nachgeholfen, ausgeflickt wird und wo man von untennicht gar zu unbarmherzig damit umgeht. In den engen Gassender Stadt, freilich, da kann der beste Schnee nicht Schnee bleiben,auch bei tüchtiger Kälte nicht. Da verliert er, von tausend Füßengetreten, von tausend Flecken beschmutzt, von tausend Pferde-hufen aufgewühlt, seine natürliche Reinheit und verwandelt sichin einen grau-gelben, grundlosen, kaum zu durchwatenden Sand,welcher dem Fremden wohl nicht lieblich erscheint, welchen derEinheimische nicht beachtet, über welchen klingelnde Schlittenmunter dahingleiten, wie eine grün und gelbgesprenkelte Eidech-se über sonnengedörrtes Waldmoos.

Fürchte dich nicht, unerfahrener Neuling, vor dem wilden Ge-spann, welches galoppierend hinter dir her saust und dich im Vor-überfliegen fast an die Mauer des Hauses drängt. Es geschieht dirnichts zuleide. Der Kutscher nimmt sich wohl in acht; er ließesich eher seinen schönen schwarzen Bart, die Hauptzierde seinesStandes, einzeln ausrupfen, ehe er dir ein Haar krümmte. Denner kennt wohl die Strenge des Gesetzes und sein Gebieter nichtminder. Beiden ist bekannt, und der Herr schärft es dem Dieneralltäglich ein: fahren darfst du, so rasch du willst und die Pfer-de laufen mögen, aber wenn ein Mensch überfahren wird – sei erauch gar nicht beschädigt – , so steckt man den Kutscher in einLinienregiment und die Equipage, wie sie geht und steht, samtPferden und Geschirr, wird zum Besten der Armenanstalten öf-fentlich an den Meistbietenden verkauft. Der Besitzer, dem seinePferde lieb sind, und der Kutscher, der nicht absolute Gelüste ver-spürt, nächsten Sommer vielleicht unter die Rietzchensucher zugehen – sie werden deine Gliedmaßen schonen.

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Zwar jenen singenden Burschen, dem eine Schale heißen Teesaus des ambulanten Schenken brodelndem Kessel nicht warm ge-nug war und der für gut befand, verschiedene »Schälchen« star-ken Branntweins folgen zu lassen, den könnte leicht, wie er sichtoll und voll jetzt mitten in der Gasse quer über den Fahrweg zursanften Mittagsruhe hinlegt und sich mit einem melancholischenLiedchen aus a-Moll in Schlummer winselt, ein Ungemach errei-chen. Zweimal schon hat der Kutscher, dort oben um die Eckebiegend, seinen Warnungsruf ertönen lassen, und der Sänger hatnicht darauf geachtet . . . ; da springt Iwan aus Muschkins La-den heraus, packt den trunkenen Landsmann, reißt ihn auf dieSeite, lacht dem vorüberfliegenden Schlittenlenker zu, nimmt so-dann des Betrunkenen Pelzmütze, füllt sie mit frisch gefallenemSchnee, den er vom nächsten Prellstein streift, stülpt sie wiederauf den gelben Semmelkopf und setzt dessen Inhaber in ein küh-les Winkelchen, mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt. Hier-auf begibt er sich wieder in seine Ladentür, wo er mit unterge-schlagenen Armen den Erfolg seines physiologischen Experimen-tes abwartet. In dem Maße, wie der eingepelzte Schnee sich lösetund in lauen Tropfen über des Berauschten Wangen rinnt, scheintsich auch dessen Rausch zu lösen. Sein Gesang verstummt, seineAugen öffnen sich, seine Besinnung kehrt wieder, bald übersiehter deutlich die prekäre Lage, worin er sich befindet und die erseiner unwürdig hält. Majestätisch erhebt er sich, rückt die wun-dertätige Zauberkappe aufs linke Ohr und schreitet von dannen,ohne seinen Retter eines dankbaren Blickes zu würdigen. »Besau-fe dich nicht noch einmal, Brüderchen; wenigstens heute nicht!«ruft ihm Iwan nach und macht zugleich seinen schönsten Kratz-fuß, verbunden mit dazugehörigem Ärmelschmatz, vor MadameSingwald, die, ihn freundlich begrüßend, in seines Herrn Ladentritt.

»Nun, wie seid Ihr zufrieden, Herr Muschkin, mit EuremIwan?« fragte sie teilnehmend.

Muschkin kann nicht Worte genug finden, den Fleiß, die Ord-nungsliebe, die Anstelligkeit, den guten Willen und besonders dieheitere Laune des Jungen zu rühmen. Ewig wird er dem braven

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Isaak dankbar sein für diese Empfehlung; aber das ist ganz natür-lich; ein Diener des Singwaldschen Hauses kann nur gute Leutekennen, und was von dort kommt, muß zum besten ausschlagen.Er hat jetzt auch die Paßangelegenheiten des treuen Menschen ge-ordnet; es ist nach Narva geschrieben worden, der Geschäftsfüh-rer von Iwans Herrn hat eingewilligt, daß dieser in Riga verbleibeund eine mäßige Abstandssumme für den beurlaubten Leibeige-nen festgesetzt, die Muschkin mit Freuden zahlt. Die alte Mutterist glücklich, daß ihr Söhnchen Ehre einlegt, und findet darin ei-nigen Trost für die Trennung vom Manne, der noch immer nichtseiner Haft entledigt ward.

Doch diese Berichterstattung hindert den geschäftigen Kauf-mann keineswegs, seinen jüngst eingetroffenen Vorrat zu entfal-ten und die beste, feinste Ware anzupreisen. Dazwischen erkun-digt er sich mit verbindlichsten Ausdrücken nach Seiner Wohlge-boren Herrn Singwald und vergißt sogar nicht zu fragen, wie Si-meon sich befinde, den er auch seinen Gönner nennt. Er hofft, daßdieser junge Freund sich des hohen Glückes, bei Ihren Gnadenzu dienen, fortdauernd würdig erweise; denn ein sehr einträgli-ches Plätzchen müsse das sein und bei so vielen Gästen reichlicheTrinkgelder abwerfen, wie sich daraus zeige, daß Simeon man-chen hübschen Dukaten gegen Silber bei ihm einzuwechseln kom-me. »Tut er das?« fragte Madame Singwald. »Nun, das freut mich;das zeigt, er ist sparsam und bringt seinen kleinen Gewinn nichtleicht durch, wie leider so viele andere seinesgleichen. Solche Die-ner sind heutzutage selten, und wir können uns Glück wünschen,Herr Muschkin, daß wir’s mit den unserigen so gut getroffen. Ichfreue mich auch jedesmal, wenn ich höre, Iwan hat unsere Leutebesucht; ich hatte ihn schon gern, wenn er mit Grünlichkeiten inmeine Küche kam.«

Damit empfahl sie sich, ihre Einkäufe zurücklassend, daß Iwanihr zur Feierabendstunde dieselben zutragen möge.

Weil der Tag schön und klar ist, machen wir einen kleinenSpaziergang nach der Petersburger Vorstadt, in die Dampfbäder

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des Herrn Priminoff. Muß uns gar vieles im äußerlichen Formen-wesen der russisch-griechischen Landeskirche abstoßend erschei-nen; können wir uns mit ihren langen Fasten und ihren fast un-genießbaren Leinölgerichten unmöglich befreunden, immer wirdes einen günstigen Eindruck auf den unbefangenen Beobachtermachen, zu sehen, wie sie in diätetischer Beziehung wahrhaftmütterlich besorgt bleibt, die in schmutzige Wintertracht gehüll-ten Leiber ihrer gläubigen Kinder sauber und rein zu halten undzugleich die Einflüsse des Klimas auszugleichen, indem sie da-hin trachtet, die der Haut des Menschen so notwendige Poren-tätigkeit, die im Süden die Natur erzeugt, durch künstliche Mittelwohlfeil zu verschaffen, so wohlfeil, daß auch der Ärmste sie nichtentbehrt. Denn gilt es gewissermaßen für ein kirchliches Gesetz,wöchentlich mindestens einmal ein Dampfbad zu besuchen, soist auch dafür gesorgt, es selbst dem Bettler durch niedrige Ein-trittspreise zugänglich zu machen. Da sitzen sie, ihre Rosenkränzebetend zur Hand, milde Gaben erwartend. Wenige Kopeken genü-gen, ihnen das Paradies zu eröffnen, welches sie, den Busch vonBirkenzweigen unterm Arm, betreten. Sie legen ihre schlechtenLumpen ab, um eine Säuberung an sich selbst vorzunehmen, wiesolche, in so gründlicher Art, den Körpern unserer Vornehmstenselten oder nie zuteil wird; der gemeinste Russe ist an seinem Lei-be reinlicher als unsere duftigsten Stutzer. Denn was sind Fluß-bäder – was sind sogar warme, üppige Abwaschungen mit Man-delöl und Erdbeerenseife in ihren Wirkungen gegen ein russischesDampfbad? Oberflächliche Spielereien, die sich mit jener gründ-lichen Ausrottung aller ungehörigen Stoffe kaum vergleichen las-sen.

Im untern Stockwerke treibt das Volk sein Wesen. Dort kenntman die gesteigerten Ansprüche nicht, welche sanft sprühendenStaubregen oder kräftige Duschen zur Abkühlung verlangen. DerRusse geht – auch die Russin, ihr kleines Kind an der Brust –entweder glühendrot wie ein gekochter Krebs aus der Badestu-be ins Freie und überläßt es Wind und Wetter, nach Umständenihn zu kühlen; oder wenn er Luxus treiben will, wälzt er sich, eheer wieder Toilette macht, im lieben weißen Schnee herum, vor

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Lust jauchzend; wobei vielleicht die Bemerkung nicht unnütz er-scheint, daß es in keiner Nation so viel alte Menschen gibt als indieser und daß hundertjährige muntere Greise zu den Alltäglich-keiten gehören.

Das obere Stockwerk ist in verschiedene kleinere Gemächer ab-geteilt, die gewöhnlich aus einem Vorzimmer, einer Zwischenkam-mer mit Betten und dem eigentlichen Badstübchen bestehen undan einzelne Gäste vermietet werden für den verhältnismäßig auchsehr niedrigen Preis von einem Silberrubel. Zwei bis drei Personenfinden dort bequeme Unterkunft. Auf demselben Flur liegen dannauch einige Gastzimmer, wo Getränk jeder Gattung von Schen-ken in echter koketter Volkstracht gereicht werden und wo stetsplaudernde Gruppen sitzen. Es ist begreiflich, daß eine so wohl-tätiger den klimatischen Verhältnissen entsprechende Sitte nachund nach auf die deutsche Bevölkerung übergehen mußte. Keinrigischer Dienstbote, sei er lettisch oder deutsch, unterläßt, umUrlaub »in Badstube« anzusprechen.

Wir finden hier unsern Simeon, aber nicht in SingwaldscherLivree, sondern im Aufzuge eines selbständigen freien Herren,welchem, um vollkommen zu sein, weiter nichts fehlt als jenesUnnennbare, ich weiß nicht was, ohne dessen Besitz das schön-ste Kleid keinen Mann macht. Er scheint nicht hierhergekommenzu sein, um zu baden; denn er hat sich ohne Aufenthalt in denSchank begeben, wo er an einem kleinen Tische Platz nimmt undseinen Tee trinkt. Offenbar wartet er auf jemand. Forschend undprüfend richtet er den Blick auf jeden Eintretenden, nicht als ober eine unangenehme Begegnung zu fürchten habe; denn daß vonden Gästen seiner Herrschaft hier keiner zu erwarten sei, dessenist er wohl sicher; sondern ungeduldig, wie wenn er ein Zeichenentdecken wolle, woran ein ihm persönlich Unbekannter oder et-wa ein Bekannter aus früheren Jahren, den die Zeit ihm unkennt-lich machte, wiedererkannt werden solle. Sein Benehmen hat et-was Lauerndes, sehr verschieden von der unbefangenen Sicher-heit, die er an der Tafel bei Madame Singwald zur Schau trägt. Erhat bereits eine Stunde verweilt; seine Teekanne ist leer. Unruhigzieht er von Minute zu Minute die Uhr zu Rate, ob es nicht Zeit

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sei, nach Hause zu gehen, wo man ihn zur Bedienung erwartenwerde. Madame hat Damentee und Spiel bei sich. Es ist ein hüb-sches Stückchen von Priminoffs Bade bis hinein zur Jakobigasse.Und finster ist es längst; die Wintertage sind in Riga so kurz. Erwird müssen einen Schlitten nehmen, die Versäumnis nachzuho-len; dann darf er noch ein Viertelstündchen zögern.

Jetzt öffnet sich die Tür. Ein breitschultriger Mann mit mürri-schem Gesicht, in einer Tracht, die etwas von einem Schiffskapi-tän und auch etwas vom Soldaten in bürgerlicher Kleidung hat,erscheint und fordert, ziemlich barsch, eine kleine Flasche Porter,ohne sich weiter um die Anwesenden zu bekümmern. Sogleichläßt Simeon seinen Teelöffel zur Erde fallen, bückt sich, um ihnwieder aufzuheben, und bietet dem Ankömmling den leeren Stuhlan seinem Tischchen, welchen dieser, ohne zu danken, ohne zusprechen, einnimmt. Nachdem der Aufwärter die Bouteille hin-gestellt, Simeons Zeche in Empfang genommen und sich wiederentfernt hat, beginnen beide miteinander zu flüstern. Den Inhaltihres Gesprächs können wir nicht verraten. Wir wissen nur, daß eslänger währte als die Frist, die Simeon sich vorher zum äußerstenTermine gesetzt. Deshalb sprang er plötzlich auf und entferntesich eilig, seinen Tischnachbar zurücklassend wie einen Fremden,mit dem uns der Zufall zusammenführte und dem wir gleichgültigden Rücken kehren, ohne zu fragen, ob wir ihn jemals wiederse-hen werden. Doch so ganz gleichgültig scheint die Unterhaltungnicht gewesen zu sein; denn der Portertrinker bleibt in dumpfesNachsinnen versunken da sitzen, und der Teetrinker besteigt inmerklicher Aufregung einen leer vorüberfahrenden Lohnschlitten,verschmäht die ihm dargebotene wärmende Wolldecke für seineFüße und spürt, leicht bekleidet wie er ist, die Einwirkung desscharfen Schneewindes kaum. Im Tore läßt er anhalten und rennt,immer noch in lebhaften Selbstgesprächen und heftig gestikulie-rend, dem Singwaldschen Hause zu.

9. KAPITEL

»Waih, Madame«, sagte Dorchen . . . aber wir haben dieses»Waih« schon zu verschiedenen Malen gebraucht und Lieschen

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wie Dorchen in den Augen unserer Leser wohl gar zu Jüdinnen ge-macht, die in Riga jedoch nicht hausen dürfen. »Waih« ist ein ehr-liches, lettisches Wort; eines jener unverwüstlichen Ausrufungs-wörter, welches wie Salz beinahe zu allen Speisen so zu allenSätzen gebraucht werden kann, die des Menschen Zunge zusam-menfügen will. Dieser seiner höchst nützlichen Verwendbarkeitwegen ist es auch ins Deutsche übergegangen, und die gebildeteLivländerin benützt es ebenso dankbar als ihre ungebildete Zo-fe. Es drückt Freude, Schreck, Betrübnis, Erstaunen, Furcht, Hoff-nung, Liebe, Haß – es drückt aus, was man ausdrücken will, undc’est le ton qui fait la musique1. »Waih, Lieber, hab ich Sie erwar-tet!« klingt aus schönem Munde wie Musik.

In Reval besitzt man für ähnliche Bedürfnisse ein anders klin-gendes, aber ebenso vieldeutiges Ausrufungswörtlein; es lautetungefähr wie »uich!« und mag vielleicht eine Vermischung vonoh (u) je! und ach! sein. Wenigstens hat diese Ableitung eben-so viel Wahrscheinlichkeit für sich als viele gelehrte etymologi-sche Herleitungen unserer Philologen. Genug, in Estland ruft man»uich!«, wo man in Livland »waih« ruft. Zwischen den drei Haupt-städten der schwesterlichen Ostseeprovinzen herrscht eine nichtabzuleugnende Rivalität: Mitau macht seinen alten reichen Adel;Riga, der Sitz des Generalgouvernements, seinen kaufmännischenFlor, seine überwiegende Größe; Reval seinen näheren Konnexmit der Kaiserstadt, seine sommerlichen Besuche aus Petersburggeltend. Wozu alle drei berechtigt sind, das ist, Ansprüche auf gei-stige gesellige Bildung zu hegen, die sich auch in einer gewähltenund nur mit wenigen Provinzialismen durchflochtenen, rein deut-schen Sprache zu erkennen gibt, ein Vorzug, der vielleicht mehrEinfluß auf den Austausch edler Gedanken, auf das Gedeihen lie-benswürdigen Umganges und Verkehres übt, als man geneigt seindürfte, an anderen Orten einzugestehen. »Uich« und »waih« ge-hören zu jenen kleinen Schmarotzerpflänzchen, welche sich zwi-schen die saubere Sprechweise schlingen. Nun begab es sich, daßeine Tochter mehrere Jahre lang von ihrer rigaschen Mutter fernbei einer Anverwandten in Reval sich aufhielt und erst nach deren

1(franz.) Der Ton macht die Musik.

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Tode heimkehrte. Freudig beim Wiedersehen warfen sie sich ein-ander in die Arme. »Waih«, rief die Mutter, »mein liebes Kind, habich dich endlich!« – »Uich«, schluchzte die Tochter, »uich, Gute,du sagst waih?« – »Das ist allerdings et’s1 komisch«, äußerte derMitauer, der mir’s erzählte. »Ihr Waih hat sie vergessen und dasrevelsche Uich hat sie erlärnt!«

Nachsicht für diese Abschweifung! Wir wenden uns zu Dorchenzurück.

»Waih, Madame«, sagte diese, »der Herr Stammbauer stehtdraußen, der die große Reisekutsche führt von hier nach Taurog-gen, und will mit unserm Simeon reden.«

»So laß ihn reden, Dorchen.«»Aber der Simeon ist ausgegangen, Madame.«»So soll der Kondukteur warten.«»Das tut er schon. Aber unten im Hause warten auch die Zoll-

beamten.«»Auf wen?«»Waih, auf Simeon. Sie wollen ihn gefangensetzen.«»Meinen Diener? Sind sie närrisch? Was hat Simeon mit den

Zollbeamten zu schaffen? Wo ist der Herr?«»Der ist schon nach der ›Muße‹ gegangen; soll ich den Isaak

nach ihm schicken?«»Noch nicht; erst wollen wir hören, was es gibt. Ruf mir den

Stammbauer; ich muß mit ihm sprechen.«Das Rätsel war bald gelöst. Stammbauer hatte bei mehre-

ren Hin- und Herreisen Simeons Dukaten dem Unterhändler inTauroggen richtig eingehändigt und dieser nicht ermangelt, je-ne Summen an Pinkus Heimann Seelig Festenberger nach Tilsitzu befördern, welcher seinerseits sich wiederum beeilte, entspre-chende Waren dafür zu senden, die der Diligencenführer wohl-behalten in Riga ablieferte und zu denen der Empfänger durchVermittlung der ihn bisweilen heimsuchenden Frau Muhme ausdem Blockhäuschen an der Dünamündung Käufer fand. So warbinnen einigen Monaten gegenseitigem Zutrauen begründet wor-den, und diesmal hatte Pinkus dem neuen Geschäftsfreunde eine

1Etwas.

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größere Sendung auf Kredit überschickt. Aber gerade diese warverraten worden. Als Stammbauer mit seinem Fuhrwerk anlang-te, wurde er von den ihn erwartenden Zollsoldaten in Empfanggenommen, die verborgenen Räume des Wagens untersucht, ei-ne beträchtliche Menge verbotener Artikel fand sich vor und da-bei ein förmliches kaufmännisches Konto für Herrn Simeon Ris-pe, Diener bei Herrn Oberältesten Singwald. Wer der Verrätergewesen? Darüber konnte bei keinem Eingeweihten der leisesteZweifel stattfinden. Der Verführer, der Gelegenheitsmacher selbst,nicht zufrieden mit dem mäßigen Vorteile der ihm zugestandenenProzente, hatte nur auf gute Gelegenheit gelauert, einen größerenGewinn mit einem Male zu machen, der ihm aus seinen Denunzi-antengebühren erwuchs. Sogar Madame Singwald durchschautedas auf den ersten Blick, gab dem schändlichen Stammbauer ih-re Verachtung aufrichtig zu erkennen und nahm sogleich für Si-meon Partei, den sonst, ohne Ableitung ihres gerechten Zornesauf einen vor dem Gesetze des Herzens verdammungswürdigerenMenschen, die volle Ladung getroffen haben würde.

Schon hörte man auf der Stiege das verworrene Geschrei derdurcheinander kämpfenden Stimmen und Simeons ängstlichenHilferuf, als die unerbittlichen Handhaber eines strengen Finanz-systems ihn beim Kragen faßten.

Es war kein Spaß. Die auf das Vier- und Achtfache des Wertessteigenden Strafgelder werden bei dergleichen Vorkommenheitenmit rücksichtsloser Konsequenz eingetrieben. Ist der Schmugglernicht vermögend genug, zu bezahlen, so wird er – höchst ein-fach! – , er selbst an den Meistbietenden versteigert und muß mitseinem lebendigen Leichnam einstehen. Deshalb hat sich unterden wohlorganisierten Schleichhändlern eine gegenseitige Garan-tie gebildet. Wird ein Jude, der zu diesem Vereine gehört, auf derTat ertappt und verfällt er der Auktion, dann erstehen ihn sei-ne Genossen auf gemeinschaftliche Kosten, und die Vereinskassakauft ihn – um ihn wieder freizulassen. Simeon war nicht so glück-lich, Mitglied eines so gesegneten Bundes zu sein. Nach mäßigemÜberschlage betrug seine Geldbuße (den Verlust der konfisziertenWaren ungerechnet) tausend Silberrubel; ach, hundert genügten

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schon, ihn unter den Hammer des Auktionators zu bringen. Seinkleines Vermögen steckte in den kaum bezahlten Handelsgegen-ständen. Folglich hatte er die Aussicht, Leibeigener zu werden,wenn nicht etwa Herr Singwald für ihn Kaution leisten wollte.

Das war jetzt die Frage des Augenblickes: würde Herr Sing-wald sich dazu entschließen? Er galt für einen seelenguten, gast-freien, wohltätigen Mann, und mit Recht. Aber nichtsdestoweni-ger blieb er Kaufmann, Rechner; verdankte diesen Eigenschaftenseinen blühenden Wohlstand. Hier war nicht mehr die Rede voneinem Almosen, von einer darzureichenden Unterstützung, voneiner zu leistenden Beihilfe. Hier sollte eine bedeutende Summe,ein Kapital daran gewagt werden, gegen eine Sicherheit so gutwie keine. Denn wie lange mußte Simeon dienen, bevor ihm inmäßigen Raten tausend Silberrubel an seinem Vierteljahresloh-ne abgezogen werden konnten. Und verdiente der Schlingel einsolches Opfer? Für die betrügerische Spekulation, die er da un-ternommen, wahrlich nicht. Und durfte man einem solchen un-zuverlässigen Menschen weiter vertrauen? Schien es ratsam, ihngar im Dienst zu behalten? War es klug, den gerechten Argwohngegen ihn durch Mitleid einzuschläfern?

Alle diese Bedenklichkeiten kreuzten sich in Kopf und Herz derMadame Singwald, die daneben sehr übel zu sprechen war übereine so unwillkommene Störung ihrer erwarteten Teegesellschaft.Doch ein Entschluß sollte gefaßt werden.

Der Zollbeamte zeigte wenig Geduld, und es bedurfte nur einesbejahenden Winkes von ihm, so griffen seine Brummbären mitscharfen Krallen zu.

Simeon, anfänglich ganz verduzt und fassungslos, begriff erstnach und nach den ganzen Umfang seines Mißgeschickes. Daßnur einzig und allein in Singwalds Großmut Rettung für ihn lag,mußte Lieschen, die dicke Köchin, ihm zuflüstern, mit der Auf-forderung, einen Sturm auf die Barmherzigkeit ihrer Madame zuwagen, um deren vermittelnde Fürbitte zu erflehen.

Glücklicherweise hatte der Patron Tränenvorräte zur beliebi-gen Verfügung, die er ohne weiteres strömen und denen er, samtSchwüren und Beschwörungen, freien Lauf ließ. Tränen sind ein

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Zauber, welchem eine Rigenserin selten Widerstand zu leisten ver-mag. Wie das schöne zartere Geschlecht daselbst gern und willigseiner Empfindung Opfer darbringt, wenn irgendeine rührendeDichtung vorgetragen wird; wie es sich überhaupt in seinem Ge-schmacke, vor allem Barocken, Humoristischen, Kecken zurück-schreckend, mehr zum Sentimentalen hinneigt, so kann auch derBittende, der seine Bitte mit Tränentau zu befeuchten weiß, ir-gend möglicher Gewährung sich schon gewiß halten. MadameSingwald versprach den Kieselherzen unter Zolluniformen, ihrenGemahl von diesem Vorfalle heute noch zu unterrichten, und siebürge mit ihrem Worte dafür, daß er entsprechende Bürgschaftfür Simeon leisten werde. So viel Ansehen genoß das Singwald-sche Haus, daß dieses Versprechen aus ihrem Munde genügte. DerBeamte gab Frist bis auf morgen früh und zog sich mit seinen Bä-ren zurück, den Defraudanten und dessen Gebieterin ihren Tee-tischangelegenheiten überlassend.

10. KAPITEL

Das eine verständige Hausfrau ernstlich will, wird sie bei ihremsie achtenden und durch dauernde Bande einer langen glückli-chen Ehe an ihr hängenden Gatten immer durchsetzen. Folglichgelang es auch der Gemahlin des Herrn Oberältesten, diesen da-hin zu bringen, daß er die Kaution für Simeon übernahm. Ja,er tat es sogar, ohne die geringsten Schwierigkeiten zu machen;denn es imponierte ihm gewissermaßen, die Frau, die er bisherals Gegnerin seines Lieblings kannte, nun plötzlich als dessen Be-schützerin auftreten zu sehen; und er sagte sich: was sie in die-sem Falle von mir begehrt, muß reine Menschenpflicht sein, weilsie ihren persönlichen Widerwillen der Sache wegen überwindet.Doch als es geschehen, als der Bedrohte gesichert war, da regtensich in des Biedermannes Kopfe vielfältige Bedenklichkeiten, diebald zum Argwohn wurden und auf geradem Wege zur Abneigungführten. Herr Singwald erinnerte sich daran, mit welch eifrigerHast Simeon sich gleichsam in ihre Dienste gedrängt hatte, als er

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in Teplitz vernahm, daß Riga ihre Heimat sei; er zog in Betrach-tung, daß die häufigen Besuche einer, wie es hieß, bei jenem Un-gewitter in der Nähe von Bolderaa erst entdeckten Muhme, daßdie ganze geheimnisvolle Muhme selbst schon seit einigen Mo-naten verdächtig erschienen, daß die Person unbedenklich Teil-nehmerin heimlicher Durchsteckereien sei; es beängstigte ihn dieAussicht, an diesen zweideutigen Menschen jetzt gekettet zu sein,wollte er ihn als Diener behalten, bis die Geldaffäre sich abge-wickelt habe. Kurz, derselbe Simeon, der ihm seither eine gefälli-ge Umgebung gewesen, wurde ihm plötzlich zu einer aufgezwun-genen Last. Und beide Teile traten dadurch in eine heimliche Ver-stimmung gegeneinander, die den Herrn unfreundlich, ärgerlich,den Diener mürrisch und verdrossen machte, die sich unvermeid-lich auf das ganze Hauswesen übertrug, Dorchen und Lieschen inoffene Feindseligkeiten verwickelte, sogar den allwöchentlichenTischgästen nicht entging. Dennoch billigten die letzteren allge-mein, daß die Herrschaft ihren Diener im Unglücke nicht ver-lassen habe. Vergehungen, die wider unpopuläre Steuergesetzeausgeübt werden, finden überall, vorzüglich in Handelsstädten,nachsichtige Beurteiler. Außerdem galt Simeon nun einmal füreinen »fixen Burschen«, und die ihm gespendeten Trinkgelder ver-mehrten sich augenscheinlich seit der großen Katastrophe. Destoeinstimmiger ließ sich der gehässigste Unwille gegen den denun-zierenden Diligencenführer vernehmen und gegen den Herrn Ratvon der Tamoschna, dessen Spion der schlechte Kerl war, mit demer die schändliche Beute teilte. »Der arme ›Sim‹ ist verführt wor-den«, hieß es; »was weiß der Junge von den Cancrinschen Zoll-gesetzen? Und unser Freund Singwald hat brav gehandelt, als ersich seiner annahm. Herr Oberältester, ich bitte um die Ehre, einGlas mit Ihnen zu trinken.«

Besonders lebhaften Teil an Simeons schwerem Verluste nahmIwan. Er hatte ja mit eigenen Augen gesehen, wenn sein HerrMuschkin aus der eisernen Geldkiste im Schlafstübchen einenBeutel mit Dukaten hervorgeholt und einen derselben, nach sorg-fältigem Prüfen und Wägen, dem »Gospodin Kammerdiener« ge-gen drei Silberrubel nebst Agio vertauscht. Ein kleines dünnes

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Goldplättchen für drei dicke große silberne Taler! Welchen Wertmußte dieses Gold doch haben! Und welches Unglück für Sime-on, alle Ersparnisse, die er darin angelegt, so auf einen Schlag zuverlieren! »Auch«, seufzte Iwan, »könnt ich Gold erschwingen, ichwollte keinen Handel treiben, keine Waren einkaufen, keinen Zollbetrügen; ich wollte nur so lange sammeln, bis ich genug hätte,daß ich mich meinem Herrn in Narva abkaufte und frei würde!«Dieser Wunsch, nicht mehr Leibeigener zu sein, der in den Umge-bungen seiner Heimat wahrscheinlich gar nie in ihm aufgewachtwäre, hatte hier, wo es keine Leibeigenschaft gibt und wo er dieärmsten Burschen um sich her wegen dieses Vorzuges beneidete,so tief in ihm Wurzel geschlagen, daß er fast von nichts mehr re-dete als davon. Stattete er zur Abendstunde seinen gewöhnlichenBesuch beim Gönner Isaak im Stalle ab und nahm ihn dieser dannmit hinauf zu Lieschen in die Küche, wo auch Simeon nicht fehl-te, da unterließ Iwan nie, seine Dukatenphantasie anzustimmen,wobei er Simeon stets mit Vorwürfen überhäufte, daß dieser soleichtsinnig spekuliert habe. »Du weißt den Teufel, dummer Jun-ge«, entgegnete ihm der Getadelte dann, »wie einem zumute ist,der wenig hat und vor Ungeduld brennt, daß er bald mehr habenmöchte! Du faselst immer von deiner Leibeigenschaft und willstdich loskaufen. Wir Livreediener sind auch eine Art von Leibei-genen; wir Dienstboten sämtlich; wir leben auch in der Sklave-rei – nicht wahr, Lieschen? Ich möchte auch lieber mein eigenerHerr sein als auf Herrn Singwald lauern, bis er spätabends aus der›Muße‹ kommt, um ihm die Stiefeln auszuziehen. Deshalb hab ichmeine paar goldenen Eierchen einem wilden Vogel zum Brütenuntergelegt, weil ich hoffe, es würde etwas Rechtes herauskrie-chen und von der Brut würde ich neue Zucht fortpflanzen. DasBeest hat so laut geschrien, daß mein Nest verraten wurde, undsie haben mir’s weggenommen. Wer kann für Unglück! Aber duhast ja das volle Nest ganz in der Nähe. Dein alter Geizkragensitzt ja im Golde bis über die Ohren. Du brauchst nur einen klugenGriff zu tun und hast mehr, wie man braucht, drei solche Iwansloszukaufen.«

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»Waih, Simeon«, rief Lieschen zornig, »was geben Sie dem Iwanfür schlechte Lehren! Wenn’s auch nur Spaß ist, das weiß ich, derJunge könnt es für Ernst halten.«

»Er wird sich hüten«, sagte Simeon. »Er weiß am besten, daßman in Muschkins Kasten keinen Griff tut. Den hält der Alte festverschlossen, und der Schlüssel liegt bei Nacht unter seinem Kopf-kissen; nicht wahr, Iwan, so ist’s?«

»Unter dem Kopfkissen? Freilich! Um sechs Uhr schließt er denLaden. Dann bring ich ihm Wasser, das kocht er im eisernen Öf-chen, macht sich einen steifen Grog, mit dem trinkt er sich insBette. Mich aber schickt er in mein Stallkämmerchen und verrie-gelt die kleine Türe, die aus seinem Stübchen in den Hausflurführt. Da seh ich ihn nicht eher wieder, als wenn er frühmorgensans Fenster kommt und durchs Gitter hinausruft: ›Iwan, ich binlebendig!‹ Da lachen jedesmal die Weiber, die oben wohnen, ausihrer Küche heraus, und mein Roß wiehert: ›Guten Morgen‹, denndas kennt seine Stimme sehr wohl.«

Isaak nickte beifällig, daß Pferde ungleich verständiger wärenals die meisten Menschen. Auch knüpfte er daran eine BelobigungIwans, auf Muschkins Pferd gegründet, welches unter seiner Pfle-ge sichtbar gedeihe. »Gewiß, mein Söhnchen«, sprach er väterlich,»sobald Isaak zu alt und schwach ist, Herrn Singwalds Pferde zupflegen, kein anderer als du betritt meinen Stall; dafür laß michnur sorgen.«

»Wohl bekomm’s ihm«, sagte Simeon; »aber mir will ich wün-schen, daß ich nicht mehr Zeuge seines Glückes bin. Ich hab esherzlich satt hier im Hause, und hielte mich nicht etwas zurück«– mit einem Seitenblick auf Lieschen – , »ich wäre schon über alleBerge.«

»Wie wollten Sie das auch anfangen, guter Simon?« fragte Lies-chen, halb gekränkt durch seine Äußerung, halb geschmeicheltdurch seinen Seitenblick. »Sie dürfen ja gar nicht weg aus Riga,ehe nicht . . . »

»Da sitzt’s eben«, fuhr Simeon fort; »daß er für mich Kautiongestellt, liegt mir auf der Brust und verbittert mir den Aufenthalt.

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Seitdem ist er nicht mehr wie sonst; er sieht mich nur mit schee-len Augen an, als wollt er es mir absehen, daß ich nicht tausendRubel wert sei. Und die Madame läßt’s mich auch entgelten, daßsie für mich bei ihm vorgebeten: auf jeder Butterschnitte kriegich’s mitzuessen. Vollends nun die unausstehliche Dore, mit ih-rem Lauschen und Horchen und Beobachten! Hat sie mir nichtschon meine Muhme verscheucht durch ihr gehässiges Wesen?«

»Es ist wahr, die Muhme macht sich jetzt recht selten, und dastut mir leid, denn es schwatzt sich prächtig mit ihr; sie ist eineFrau, die viel erlebt hat. Anfänglich meint ich, der weite Weg haltesie jetzt im Winter zurück. Aber weil ich ihr manchmal auf demMarkte begegne, glaub ich doch, sie bleibt aus wegen Dorchensspitzen Reden.«

»Weiberzungen!« rief der alte Isaak; »lauter Wascherei! Komm,Iwan, in’n Stall!«

Immer wenn das Gespräch diese Wendung nahm, schlug Si-meon den beiden Russen, dem jungen und dem alten freundlichvor, mit ihm zu gehen. Sie nahmen es jedesmal dankbar an, dennsie wußten, was ihrer harrte. Und Simeon, als ob er die Verluste,die ihn getroffen, gar nicht empfände, sondern reichlich bei Kassewäre, unterließ nicht, sie mit einem Glase warmen Punsches zubewirten, worin Wasser eine sehr untergeordnete Rolle spielte. Esschien ihm Behagen zu machen, daß Iwan – während Isaak mitjedem Schluck stiller und nachdenklicher wurde – sich desto ge-sprächiger zeigte. Des Burschen Golddurst wurde durch Punschnicht gelöscht, wurde nur heißer, und unermüdlich kam er aufseinen Loskaufungsplan zurück.

»Wenn der nicht noch einmal seinen Muschkin beraubt«, pfleg-te Simeon dann beim Auseinandergehen dem schweigseligenIsaak zuzuflüstern, »so will ich keinen Punsch mehr machen.«

»Das wäre schlimm«, äußerte Isaak und strich seinen Bart; »daswäre schlimm, Brüderchen, sehr schlimm für Isaak. Aber raubendarf der Junge nicht. Vielleicht schenkt ihm sein Alter, was er ko-stet?«

»So sieht er auch gerade aus, der gütige Herr Muschkin«, äu-ßerte Simeon; »ich hab ihn kennengelernt, wenn er mir meine

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Dukaten zuwog. Pinkus schwört, daß nicht einer vollwichtig war.Solch ein Knicker und Wucherer . . . Nu, gute Nacht, Isaak!«

11. KAPITEL

Es mag gegen Ende des Monats Februar, folglich bei uns zu-lande schon März gewesen sein, wo blaue Veilchen blühten, wassie jenseits des Njemen und der Düna freilich bleibenließen, alseines Morgens die Mitbewohnerinnen des alten finsteren Gebäu-des, worin Muschkin hauste, sehr erstaunten, des Mannes Pferdfortdauernd ängstlich wiehern zu hören, ohne doch den wohlbe-kannten Ruf. »Iwan, ich bin lebendig!« zu vernehmen. Auch Iwan,der heitere Sänger, der jeden Tag mit seiner sanften Stimme zubegrüßen pflegte, ließ sich heute nicht bewundern.

»Sie werden sich gestern abends alle beide einen tüchtigenRausch angetrunken haben, und deshalb können sie noch nichtauf ihren Beinen stehen; Herr wie Knecht!« Dies war die Erklä-rung, welche den meisten Beifall fand und wobei sich das weib-liche Beobachtungskorps fürs erste beruhigte. Als jedoch um achtUhr von einer zum Bäcker entsendeten Magd die unerhörte Kun-de mitgebracht wurde: Herrn Muschkins Ladentür sei noch nichtgeöffnet und ein Mensch, der Kaviar kaufen wolle, um ihn miteiner Gelegenheit, die sogleich aufbreche, aufs Land zu senden,poche sich die Fingerknöchel wund, aber vergebens . . . ! da stiegmit dem nebelgrauen, kalten Morgenhauch eine Art schauerlicherAhnung in den Kaffeeschwestern empor, und sie beschlossen, sichfragend und forschend an Iwan zu wenden. Ihrer zwei gingen,nach ängstlichem Zögern, endlich zum Stalle hinab: ihre Neugierzeigte sich stärker als das Grausen vor irgendeiner unheimlichenEntdeckung.

Die Stalltüre war fest verschlossen. Sie rüttelten daran, sieriefen Iwans Namen, sie pochten erst mit den zusammengeball-ten Händen, dann mit großen Holzstücken heftig dagegen . . . esward ihnen keine Antwort zuteil als das klagende Wiehern desPferdes, welches fast wie eines Menschen Jammer klang. Jetztwendeten sie sich dem kleinen vergitterten Fenster zu, wodurch

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Muschkins Schlafgemach sein weniges Licht empfing. Da entdeck-ten sie sogleich, wie das Eisengitter nur angelehnt auf der Mauerstand, wie alle dicken Stäbe von den Backsteinen abgelöst undmorsch durchgefressen waren. In den dahinter befindlichen Fen-sterflügeln waren die Glasscheiben ausgebrochen. Drin im Zim-mer herrschte Finsternis, des Tages Schein genügte noch nicht,sie zu erhellen und klare Ansicht zu gewähren. Nur die feurigenAugen des großen Katers funkelten, zwei kleinen brennenden Ku-geln gleich, aus einem ganz dunkeln Winkel.

»Hier ist Mord und Totschlag geschehen! Ein Raubmord ist vor-gefallen!« schrien beide Weiber zugleich, und augenblicklich ent-flohen sie mit allen Zeichen des Entsetzens, um sich zum Pristaffdes Quartiers zu begeben und Anzeige zu machen.

Der uns bereits bekannte Polizeibeamte Schloß fand sich ohneAufschub an Ort und Stelle ein. Unterwegs schon hatte er sich ge-naueren Bericht über Muschkins Häuslichkeit, dessen Lebenswei-se und Umgebungen abstatten lassen, folglich trat er hinlänglichvorbereitet auf den Schauplatz der Tat und übersah mit prakti-scher Zuversicht den Zusammenhang.

Des Fenstergitters zwei Finger starke Eisenstäbe waren nichtallein durchgefeilt, sondern offenbar von einer scharf ätzendenFlüssigkeit zernagt, die, zu wiederholten Malen aufgestrichen,wochenlang gewirkt haben mußte. Er nahm die schwere Massevon der Fensterbrüstung herab und schwang sich rüstig hinein.Seine Soldaten und die zitternden Weiber drängten sich nah her-an, um zu erfahren, wie es da drinnen aussähe. Noch konntensie nicht viel erblicken. Das erste aber, was sie hörten, war einlauter Schrei des Pristaff, dem der Kater auf den Leib sprang, wosich das Tier so fest in seine Uniform einkrallte und biß, daß esnicht abzuschütteln war. Schloß ließ es ruhig hängen, behielt kal-tes Blut genug, sein Feuerzeug aus der Tasche zu nehmen, Lichtzu machen und das Wachskerzchen in seiner kleinen Laterne an-zuzünden. Nun gewannen die Zuschauer am Fenster freie Über-sicht. Da lag der reiche Teehändler, im Blute schwimmend, mitzerschlagenem Hirnschädel, von unzähligen Wunden im Gesichte

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und an der Brust entstellt, auf dem Lager, ohne Zeichen des Le-bens. »Waih«, jammerten die Weiber, »da konnte er freilich nichtin den Stall rufen: ›Iwan, ich bin lebendig!‹ «

Nun erst, als diese traurige Überzeugung gewonnen war, dach-te der von seinem Amtseifer Beseelte daran, sich des wütendenKaters wieder zu entledigen. Die Polizeisoldaten wollten das Tiermit ihren Säbeln herunterhauen. Doch das gab Schloß nicht zu.»Erstens«, sagte er, »wär es eine Grausamkeit, die es für sei-ne treue Anhänglichkeit an den Ermordeten nicht verdient; undzweitens kann es uns vielleicht zur Entdeckung helfen. Wer weiß!Erst will ich’s im guten mit ihm versuchen.« Darauf streichelte erliebkosend des Katers schönes Fell und wendete sich mit ihm zuder Leiche, über welche er sich hinbeugte. Da ließ jener plötzlichden festgehaltenen Rock los, fiel, wie eine reife Frucht vom Bau-me, herab auf das Bett und erhob nun ein so herzzerreißendesGemaunze, daß alle Umstehenden davon erschüttert wurden.

Die nähere Beobachtung ergab, daß jenes kleine Beil, womitdie tödlichen Schläge geführt worden, noch dicht neben des Er-mordeten Bette auf dem Boden lag. Es war von Blutflecken voll,und die Weiber nahmen keinen Anstand, es für jenes zu erklären,womit Iwan sein Holz im Wagenschuppen zu spalten pflegte. ImLaden sowohl als auch im Schlafzimmer schien alles in der ge-wöhnlichen Ordnung: kein Schrank erbrochen, keine Schubladegeöffnet, kein Schloß verletzt. Die eiserne Geldkasse jedoch, die,wie man wußte, neben Muschkins Lager ihren Platz hatte und dieseine Papiere und sein bares Geld bergen sollte, war nirgend zufinden. Auch der Schlüssel, von dem die Sage ging, daß er stetsunter seinem Kopfkissen übernachten müsse, fehlte.

Der Pristaff stellte Wache vor das Fenster und die Tür undschärfte die strengste Aufsicht ein, daß niemand eingelassen,nichts berührt oder aus gegenwärtiger Lage verändert werde.

Dann schritt er zur Besichtigung des Stalles, dessen Türe eraufbrechen ließ, und des daranstoßenden, von Iwan innegehab-ten Kämmerchens. Hier zeigte sich große Unordnung, wie durchplötzliche Flucht veranlaßt. Einige am Boden liegende Stücke Wä-sche waren entschieden aus einem rasch zusammengewickelten

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Bündel entfallen und deuteten auf ängstliche Eile. Bei genauerDurchsuchung ergab sich noch ein schlimmerer Umstand, der fastzum Beweise wider den Entwichenen wurde: es fand sich näm-lich auf dem Grunde des Kastens, der Iwans Effekten enthaltenhatte, ein kleines Fläschchen mit luftdicht schließendem gläser-nem Stöpsel, welches zweifelsohne eine Flüssigkeit bewahrte, je-ner gleich, die angewendet worden war, des Gitters Eisenstäbe amFenster zu zerstören.

Wer der Täter sei, darüber konnte nun wohl kein Zweifel mehrobwalten.

Zunächst kam es darauf an, in Erfahrung zu bringen, wo Iwanden vergangenen Abend sich aufgehalten, mit wem er verkehrt,was er getrieben habe. Wann, zu welcher Stunde er den Mordmöglicherweise verübt; wohin er sich auf seiner Flucht zunächstgewendet haben könne.

Daß er fast allabendlich seinen alten Gönner Isaak aufsuchteund sich zu diesem ins Singwaldsche Haus begab, sobald Musch-kin Feierabend gemacht, das war für die weiblichen Insassen keinGeheimnis, und sie säumten nicht, den gefürchteten Pristaff be-stens davon zu unterrichten.

Dieser, nachdem er erst seine Verhaltensbefehle noch erneu-ernd deutlich gemacht, eilte zu seinem Chef, gebührenden Rap-port des entsetzlichen Vorfalls zu leisten, und als ihm durchden Polizeimeister, der ihn jedes andern Dienstes fürs erste ent-band, die dringendsten Maßregeln zur Ergreifung des Mörderszur Pflicht gemacht waren, verfügte er sich ins Haus des Oberäl-testen, welches wohl, seitdem es diesen Besitzer hatte, zum erstenMale durch einen Kriminalbeamten in Funktion betreten wurde.Auch machte sein Erscheinen ungeheures Aufsehen: Isaak, der ge-rade sein Frühstück in der Küche nahm; der Hausknecht, der dieTreppe fegte; Lieschen, die »fette Schmante« zum Kaffee für dieHerrschaft sott; Dorchen, die Säbel über die Stufen rasseln hörte– alle liefen zusammen und starrten ihren unerwarteten Morgen-gast an. Nur Simeon blieb vollkommen ruhig; sein Gesicht sagtein heiteren Zügen: »Als die Zollbeamten eindrangen, verlor ichdie Fassung, denn ich merkte gleich, wem es galt! Vor der Polizei

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fürcht ich mich nicht; da hab ich, Gott sei Dank, ein gutes Gewis-sen; mit der gerat ich in keine Mißhelligkeiten.« Pristaff Schloßmusterte die vor ihm Stehenden mit Kennermiene, ob eine oderder andere ihm etwa »schon einmal durch die Hände gegangensei«. Erst als er darüber im reinen war und sie sämtlich intaktgefunden hatte, sprach er seinen Wunsch aus, zu Herrn Oberäl-testen geführt zu werden, dem er alsbald die Forderung stellte,gesamtes Hauspersonal um sich zu vereinigen. Als die Versamm-lung vollzählig war, legte Schloß den Betroffenen ernstliche undeindringliche Fragen vor, über ihren Umgang mit Iwan, über seinepersönlichen Eigenschaften, über ihre Meinung von ihm, haupt-sächlich über den Verlauf des gestrigen Abends. Außer den ein-zelnen Umständen, die dem Leser schon bekannt sind, wußtendie Befragten nichts Neues zu sagen. Der gestrige Abend war ver-gangen wie gewöhnlich; nur daß Isaak und Simeon versicherten,länger als üblich bei ihrem Glase Punsch gesessen zu haben; undder Hausknecht bestätigte, erst nach elf Uhr durch Isaak gewecktworden zu sein, damit er dem forteilenden Iwan das Haustor öff-ne. Daß dieser gestern mehr als je von seines Herrn Gold im eiser-nen Kasten geredet und besonderer Lebhaftigkeit von dem Plane,sich in Narva freizukaufen, gefabelt habe, meinte Isaak, trotz al-ler Vorliebe für jenen, dem Pristaff nicht verhehlen zu dürfen; undsetzte noch ferner hinzu, er sei sehr ungeduldig gewesen, fortzu-kommen, habe über innere Angst und Unruhe geklagt und Sime-on habe ihn schier mit Gewalt zurückhalten müssen, daß er denvorrätigen Punsch vollends austrinken helfe.

Simeon konnte das nicht leugnen, wiederholte jedoch mehr-mals, daß nach seiner Ansicht Iwan durchaus nicht der Menschsei, etwas Ungebührliches zu begehen; daß er sich vielmehr stetswie ein gutmütiger, treuherziger, sanfter Bursche gezeigt habe.Ein Zeugnis, welches von allen bekräftiget, von Madame Singwaldunterstützt wurde.

»Gleichwohl«, sagte der Pristaff achselzuckend, »ist er es undkein anderer welcher den armen Muschkin auf die grausamste,niederträchtigste Art ums Leben gebracht. Alle Anzeichen stim-men überein, er ist der Räuber, der Mörder!«

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»Der Mörder!« Dies Wort fuhr wie ein Blitz unter die Versam-melten, bis zu denen die Kunde der Schreckenstat natürlich nochnicht gedrungen war und die begreiflicherweise nur an einenDiebstahl gedacht hatten; sie brachen in laute Wehklagen aus.Lieschen, Dorchen, sogar Madame Singwald schluchzten heftig.Isaak raufte sich den Bart. Simeon rang die Hände und klagte sichan, daß vielleicht sein Punsch dazu beigetragen, den Unseligen zuverwirren und seiner Sinne zu berauben.

Der Pristaff tröstete ihn: »Darüber machen Sie sich keine Vor-würfe, mein Lieber. Nicht im Rausche ist das Verbrechen gesche-hen. Im Gegenteil, längst vorbereitet und schlau genug berechnetwar es. Auch ohne Ihren Punsch würde es verübt worden sein,darüber bin ich im klaren. Ihre Aussagen mögen fürs erste genü-gen, bis sich später Veranlassung findet, dieselben vor Gericht zuwiederholen. Jetzt wollen wir an Werk gehen – und somit, HerrOberältester, empfehl ich mich.«

Das erste, was Pristaff Schloß, durch die Vernehmung der Sing-waldschen Dienstleute aufmerksam gemacht, veranlaßte, war einamtlicher Bericht nach Iwans Heimat; denn daß der Mörder injener Stupidität, welche mit pfiffigen Ränken der Bosheit nichtselten vereinbar ist, sich dahin wenden dürfte, ließ sich fast ver-muten. Aber wenn er sich wirklich auf dem Wege zu seiner Mut-ter befand, konnte der Vorsprung, den er bis jetzt gewann, nochnicht bedeutend sein. Der erfahrene Beamte entwarf sich folgen-des Bild: »Nach elf Uhr erst hat Iwan das Singwaldsche Haus ver-lassen, eine Stunde wenigstens ist verstrichen, bis er das Fenster-gitter gänzlich aus den Fugen brach und, mit der Feile nachhel-fend, ablösete. Dann ist er eingedrungen, hat den Mord verübt,die eiserne Geldkiste durchs Fenster geschoben, diese Last wahr-scheinlich auf einen Schubkarren geladen, mit Stroh, Heu oderDecken verhüllt . . . und wenn er dies alles auch bis zwei Uhr zu-stande gebracht hätte . . . wo denk ich hin? Vor sechs Uhr konn-te er ja die Festung unmöglich verlassen! Dann wird er jeden-falls hinausgezogen sein in den Wald; wird dort die Kasse, wozuer den Schlüssel unter Muschkins Kopfkissen fortnahm, eröffnet;wird so viel Gold, als er genügend meinte, in sein Wäschebündel

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versteckt; wird den Überrest und die Papiere in der Kasse gelas-sen und diese in den Erdboden verscharrt haben – um vielleichtspäter, wenn der Blutgeruch verflogen, das Andenken des Mordesvergessen ist, wieder danach zu suchen. Folglich, wenn ich michrasch zu Pferde setze – jetzt ist’s noch nicht Mittag – , bei Gott,ich kann ihn noch einholen. Vielleicht steht das Glück mir bei.Vorwärts, auf die Straße nach St. Petersburg!«

12. KAPITEL

Ein Jäger, der ein längst umschlichenes Wild verfolgt; ein Hab-süchtiger, der einen sichern Geldgewinn im Auge hat; ein Lieben-der, der seine Geliebte zu erreichen trachtet – was sind sie in ih-rer leidenschaftlichen Erregung, verglichen mit dem Beamten vonTalent, Berufslust, Ehrgeiz, welcher die Spur eines großen Ver-brechens aufsucht. Für diesen gibt es keine Beschwerden, keineMühseligkeiten, keine Entbehrung, keine Furcht, kein Hindernis.Er achtet weder Gefahren noch Tod. Er sieht und hört nichts alssein vorgestecktes Ziel. Mag auch, wie in alles, was menschlichist, eigennützige Selbstsucht, welche Belohnung oder Auszeich-nung erstrebt, in solchen Eifer sich mischen, immer bleibt er ver-ehrungswürdig, weil er öffentlicher Sicherheit, weil er dem Be-stehen geselliger Ordnung gilt. Von ihm durchglüht, sprengte un-ser Pristaff, nachdem er noch zweckdienstliche Befehle und An-ordnungen für das Innere der Stadt zurückgelassen, der Richtungnach, die seine Ahnung ihm zeigte. Ihm war es nicht anders, alsmüsse er in jenen waldigen Hügeln, die er nächtlich mit dem neu-en Polizeimeister durchstreift hatte, finden, was er suche. TriftigeGründe dafür wußte er sich, außer den schon erwähnten, eigent-lich nicht anzugeben. Doch genügten dieselben, ihn anzuspornen,und durch ihn sein mutiges Roß.

»Hilf mir auf den richtigen Pfad«, rief er draußen im Freien, desschnaubenden Tieres Hals streichelnd, »und du sollst ein Pfunddes feinsten Zuckers naschen, den unser Jakob Brandenburg raf-finiert!«

Auch ließ er dem Pferde mehr den eigenen Willen, als daß eres gelenkt hätte. Da ging es denn bald auf breitem Fahrwege, bald

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zur Seite, hügelauf, hügelab, durch tiefen Schnee, durch sausen-de Tannen und Kiefern, vorwärts und wieder zurück. Das Pferdschien seines Reiters Absichten zu verstehen. Wo dichtes Gebüscheinen heimlichen Zufluchtsort verdeckte, brach es durch mit un-ermüdlicher Kraft. Dies währte einige Stunden, bis dem Reitersein eigenes Treiben töricht vorkam. »Meine Hast hat mich blindgemacht«, sprach er zu sich selbst; »ich hätte sollen eine ganzeSchar aufbieten. Was kann ich alleine tun? Während ich hier michund mein Pferd abhetze, mag der Schurke sicher wandern, wo ichnicht bin!«

Und dennoch trieb es ihn immer wieder zu einer gewissenSchlucht zurück, die ihm aus jener Nacht her noch im Gedächtnisgeblieben war und wo er gegen seinen Chef geäußert hatte: daswäre so ein rechter Versteck für Räuber. Er mochte etwa fünf bissechs Werst entfernt sein, als er, von einer unerklärlichen Machtgetrieben, nach jener Gegend hinlenkte.

Schon am Eingang des abgelegenen Platzes erblickte er die denSchnee tief aufwühlende Bahn eines Rades und menschliche Fuß-stapfen, von denen aber schwer zu bestimmen war, ob sie nureinem angehörten oder ob mehreren, die, vorsichtig gehend, ihreFüße in die Spuren des Vormannes gesetzt hatten. So schnell wiedie Sträucher gestatten wollten, drang er in der Schlucht weitervor, und kaum hatte sein Roß fünfzig Schritte zurückgelegt, alser eines Anblickes teilhaftig wurde, der seiner Brust einen weitdurch die Waldung tönenden Ausruf des Erstaunens entlockte: dieSchubkarre, die eiserne Kasse, Stroh, Heu und eine Pferdedecke,welche den Raub umhüllt hatten . . . Alles, wie er es einige Stun-den zuvor in seiner Einbildung gesehen! Doch kein Mensch dabei.Er kam also zu spät!

Der Schlüssel steckte im Deckel der Geldkiste. Eiligst vom Pfer-de gleitend, hob er diesen auf und fand nichts, weder Papiere nochbares Geld.

Vielleicht war der Räuber gestört worden! Vielleicht war ereben im Begriffe gewesen, die Kiste samt einem Teil ihres Inhalteszu vergraben, hatte den Trab des nahenden Pferdes gehört undvorgezogen, alles mitzuschleppen, um einen noch entlegeneren

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Ort aufzusuchen? Vielleicht auch war Muschkins Reichtum garnicht so groß gewesen, als man ihn geschätzt, was bei so wunder-lichen Sparern oft der Fall ist? Vielleicht befand sich der Mörderschon wieder auf der Straße?

Eine Fieberangst überfiel den Pristaff. Seine Pulse hämmerten,sein Kopf drehte sich mit ihm, seine Sinne wirbelten; er fühlte sichder Raserei nahe.

»Ich muß ihn haben«, schrie er und jagte dahin zurück, von woer gekommen war.

Nicht achtete er der Brombeerhecken, deren Zweige, lang undglatt, mit ihren Dornenstacheln sich in sein Gewand schlugen undes in Fetzen rissen; er sprengte hindurch.

Da befand er sich wieder auf der Straße und ließ den Schimmelausgreifen. Einen halben Werst vor ihm zeichnete sich etwas aufdem hellen Schnee ab, wie die Gestalt eines Menschen.

Das Pferd fühlte zum ersten Male so heftig die Sporen in denFlanken und verdoppelte seine Anstrengungen. Der einsame Wan-derer, ein Bündel auf dem Rücken, drehte sich ängstlich um undlief rascher. Jetzt hatte er den Pristaff erkannt. Nun ergriff ermächtig die Flucht und rannte so schnell, daß der atemlose GaulMühe hatte, ihn zu überholen.

»Iwan«, rief der Pristaff dem Burschen nach, der gerade übereinen tiefen Graben springen wollte, um den dicken Wald zu ge-winnen, »bleib stehen, oder ich schieße dich nieder.«

Iwan sah wohl, daß der Drohende kein Schießgewehr führte,und wagte den Sprung, welcher gelang und ihn sogleich vor denBlicken seines Verfolgers hinter dicken Stämmen verbarg.

Der Schimmel setzte nach. Nun begann die Jagd zwischen Bäu-men hin und her. Wie eine Eichkatze wand sich Iwan, schlüpf-te zwischen nahe beisammenstehenden Stämmen durch, wo dasPferd daneben Bahn suchen mußte und durch diese Verzögerungzurückblieb; dann wieder verschwand plötzlich in einem Gebü-sche und zeigte sich erst wieder in der nächstfolgenden Lichtung.

Der Pristaff schäumte vor Wut, sein Schimmel vor Ermattung.Dieser war dem Zusammenbrechen, jener dem Wahnsinn nahe.Da, eben noch zu rechter Zeit, ging der Wald in freies Feld aus;

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jenseits des Ackers lag ein größeres Dorf. Iwan, auch schon be-sinnungslos, war so unklug, geradeaus zu fliehen anstatt wiederin den Schutz der Bäume umzubiegen. Jetzt erreichte ihn die Ge-walt. Der Pristaff ritt ihn nieder in den Schnee, warf sich vomPferde herab auf ihn, riß ihm den ledernen Gürtel, den der Russeträgt, vom Leibe, schnürte ihm die Hände auf dem Rücken zusam-men, hing ihm sein Bündel um den Hals, band ihn an den linkenSteigbügel fest, und nachdem er mit einigen heftigen Schlägendes Säbelknopfes in den Rücken des zitternden Menschen seinemZorn genügt hatte, ritt er im schärfsten Trabe, dessen der keu-chende Schimmel noch mächtig war, den nächsten Häusern zu,unbekümmert, ob Iwan imstande sei zu folgen.

Der Reiter, dessen Pferd und der Gefangene – alle drei warenwohl geeignet, aufmerksames Erstaunen der Landleute zu erre-gen, welche »im Kruge« bei einem Gläschen Schnaps am großenTische saßen. Doch des Pristaffs befehlende Strenge ließ ihnenzum Staunen nicht Zeit und forderte sie zum Gehorchen auf. Eswurde ein Schlitten requiriert und mit entsprechender Bedeckungvon sechs rüstigen Männern versehen. Iwans lederne Bande wur-den mit Ketten vertauscht, die der Richter herbeischaffen muß-te, und zunächst ging es an ein genaues Durchsuchen des Reise-bündels. In diesem fand sich außer Wäsche und Kleidung nichtsvor als in einem kleinen zerlumpten Ledertäschchen einige we-nige Papierrubel; durchaus nicht mehr, als er etwa an Monats-lohn empfangen haben konnte. Auf wiederholte Fragen, wo erden Inhalt der geraubten Geldkiste vergraben habe, antworteteer ebensowenig mit Worten, als der eindringliche Vorhalt, daß ernun doch verloren sei und daß ein reumütiges Geständnis, wel-ches dem Amte die Mühen der Nachforschung erleichterte, ihmnur vorteilhaft werden könne, Wirkung auf ihn machte. Er warin das dumpfe Schweigen der Unterwerfung, in das gedankenloseHinbrüten des Vernichteten versunken, der keinen Ausweg, keineRettung mehr sieht und sich stummer Verzweiflung hingibt. We-der milde Ermahnungen noch Drohungen noch Schläge – an de-nen es leider nicht fehlte – brachten ihn aus seiner Verstocktheit.

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Es blieb dem Pristaff nichts übrig, als ihn auf den Schlitten wer-fen zu lassen und mit der aus Landleuten bestehenden Begleitungbis an jene Stelle der Straße zu fahren, wo man nach der obener-wähnten Schlucht gelangte. Dort wurde der Mörder gezwungen,sich mit ihnen bis an den Ort zu begeben, wo die Geldkiste aufder Schubkarre stand. Abermalige mündliche und tätliche Auffor-derungen, das vergrabene Geld nachzuweisen, waren abermalsfruchtlos. Iwan stöhnte unter den Schlägen, aber keine verständ-liche Silbe kam über seine Lippen. Da es nun ohnedies bei vor-rückendem Abend schon zu dunkel wurde, um einigen Erfolg vonNachgrabungen in der Umgegend zu hoffen, so zog der Beamtees vor, diese Versuche für den Anbruch des nächsten Tages aufzu-sparen, lud Kasse, Schubkarre, Pferdedecke und was dazugehörteauf den Schlitten, wo Iwan unter diesen leblosen Gegenständenauch fast leblos lag, und langte mit dieser seiner schwer erobertenFracht – allerdings nur halb triumphierend – zwischen acht undneun Uhr in der Festung an.

Ehe noch die Wächter ihre »zehn« ausgerufen, hatte sich durchdie ganze Stadt das Gerücht verbreitet: Muschkins Mörder ist ein-gebracht, aber die geraubten Schätze sind verschwunden.

13. KAPITEL

Wir lassen die aus der Stadt nach den Waldhügeln entsende-ten Arbeiter unter Aufsicht des ihnen mitgegebenen Unterbeam-ten den Boden viele Werst in die Runde vergeblich durchwühlenund bleiben im Gefängnis, um den ersten Verhören des Mördersbeizuwohnen.

Dieser war aus seinem Schreckenstaumel nach und nach zumBewußtsein und zur Besinnung gelangt, daß in den Antworten,die er gebe, sein Heil oder sein Unheil liege; daß trotziges Ver-stummen sein Schicksal nur verschlimmern könne. Er wurde ge-sprächig und gab umständliche Auskunft, die wir durch seine ei-genen Worte mitzuteilen versuchen, indem wir ihn redend einfüh-ren wollen, wenn wir zuvor noch erwähnt haben, was sich zutrug,

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als er an den Platz der Tat geführt und dem schmählich entstell-ten Leichnam seines Brotherrn gegenübergestellt wurde. Der ent-setzliche Anblick hatte zuerst sein Schweigen gebrochen, denn erhatte einen Ausruf des Erbarmens getan und sich weinend aufdie Knie geworfen. Als er aber die Hände des Ermordeten küssenwollte, war ihm der Kater, der die Leiche noch immer bewachte,wütend auf den Nacken gesprungen. Der Pristaff, ganz verges-send, daß ihm selbst etwas Ähnliches widerfahren, legte auf dieseKundgebung des Tieres großes Gewicht.

Übrigens erkannten die Hausgenossen die aus dem Walde mit-gebrachte Schubkarre – die Geldkasse hatte niemand früher zusehen Gelegenheit erhalten – als jene an, welche Iwan zu aller-lei Verrichtungen im Gebrauche gehabt. Ebenso die Pferdedecke.Das blutbefleckte Beil erklärte er selbst ohne Widerspruch für seineigenes.

Seine Aussage lautete so: »Ich bin oft des Abends, wenn meinHerr sich in sein Schlafgemach begeben und mir Erlaubnis erteilthatte, zu den Singwaldschen Dienstleuten in Besuch gegangen,teils um mit Väterchen Isaak von Pferden zu plaudern, teils ummit Herrn Simeon zu schwatzen, der mir ebenfalls wohlwollte undbei dem ich deshalb so gern mich aufhielt, weil er unter die we-nigen hiesigen Herrendiener gehört, die geläufig russisch reden.Auch der Punsch, womit er uns bisweilen bewirtete, schmecktemir sehr. Vorgestern Abend war ich auch da. Ich wollte, wie ge-wöhnlich, um zehn Uhr heimgehen. Isaak und Simeon hieltenmich zurück; der letztere schenkte mir immer wieder ein. SeinPunsch war nie so stark gewesen und hatte mir nie so wohlgetan.Es wurde wieder viel von meines Herrn Reichtum gesprochen unddaß sein eisernes Kästchen voll von Goldstücken liege. Simeonneckte mich wieder, daß ich gewiß manchmal einen Griff täte unddaß der Schlüssel unter dem Kopfkissen liege. Auch VäterchenIsaak lachte dabei, und sie behaupteten: der Iwan kauft sich dochnoch einmal frei und wird ein großer Herr, der mit drei Pferdenfährt; dann wollen wir in seine Dienste treten. Mein Kopf wurdemir immer schwerer, vom Punsch und von den Gedanken an Goldund Freiheit. Was ich gesprochen habe, weiß ich nicht mehr; aber

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sie lachten über mich, beide, das weiß ich noch. Als es elf geschla-gen, rief Simeon: ›Jetzt darfst du gehen, Iwan, jetzt ist’s genug.‹Isaak weckte den Hausknecht, und sie öffneten mir die große Tü-re und ließen mich hinaus. Draußen kam ich wieder etwas zu mirund eilte heim. Zu unserem Haustor führte ich den Schlüssel. Eswar ziemlich finster im Hofe. Wie ich an meine Stalltüre trat, fandich sie nur angelehnt, nicht geschlossen. Das erschreckte mich,weil ich auch zu dieser den Schlüssel bei mir trug und ihn, da ichausging, zweimal im Schlosse umgedreht. Ich fühlte auf einmaleine heftige Angst, und diese bewegte mich, nach des Herrn Stu-benfenster zu schleichen. Da lag das Gitter unten am Erdboden;ich stieß mit den Füßen daran. Durch die gebrochenen Scheiben,vor denen sonst immer ein wollener Vorhang hing, durch den mannicht sehen konnte, der aber jetzt zurückgeschoben war, erblickteich unseres Katers Augen, und die leuchteten so hell auf meinesHerrn Kopfkissen, daß ich rote Flecken wahrnahm. Es war, wiewenn der Kater spräche: er ist umgebracht. Die Knie knickten mirein und ich dachte: heilige Mutter Gottes, das wird auf dich kom-men! Das war mein letzter Gedanke. Nachher verwirrte sich allesin meinem Kopfe, und ich weiß nicht mehr, was ich begonnen ha-be. Ich ging wie im Schlafe herum, aber in meinem Herzen bohrtees, und ich hörte den Kater Miauen: Iwan ist der Mörder! Dazwi-schen war es mir wieder, als müßt ich hineinkriechen zum Toten,den Schlüssel unter dem Kopfkissen wegnehmen und die Geldki-ste öffnen, alle Taschen voll Gold stecken. Damit ich das nicht tä-te, hob ich das ausgebrochene Gitter vom Boden auf und lehnte eswieder vor das zerschlagene Fenster. Ich bin dann in meinen Stallgekrochen und habe gebetet, bis ich völlig nüchtern war. Je mehrmein Rausch verflog, desto größer wurde meine Angst und ichimmer verwirrter. Wenn mein Pferd an seiner Stallkette rüttelte,so dacht ich gleich, das wären meine Ketten, die ich klirren hörte.Wer soll’s denn gewesen sein, der ihn umgebracht, dachte ich mir;auf wen soll denn die Schuld kommen? Auf dir wird sie sitzenblei-ben, sie werden dich mit der Knute zu Tode schlagen; sie werdendir das Fleisch von den Knochen hauen. Ich besinne mich, daß ichhabe eins vom Glockenturme gehört, dann zwei, dann drei. Um

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vier Uhr hab ich mein Pferd gefüttert. Dann habe ich wieder gebe-tet. Um fünf Uhr hab ich mich um des Pferdes Hals gehängt undhabe Abschied von ihm genommen. Dann hab ich mir ein Bündelzusammengemacht und bin weggelaufen. Gegenüber vom Torehab ich mich in einem Gassenwinkel zusammengeduckt und ge-lauert, bis aufgemacht wurde und die ersten Milchleute aus derVorstadt hereinkamen. Zwischen denen hab ich mich hinausge-drängt und bin gerannt – gerannt – , davon weiß ich weiter garnichts mehr, als daß der Herr Pristaff mich eingeholt hat und inden Schnee geritten! Das ist die Wahrheit!«

Der Inquirent – denn in Rußland gebührt die gerichtliche Vor-untersuchung lediglich der Polizei – war keineswegs geneigt, wasIwan als solche gab, dafür zu nehmen, sondern verordnete zurEntwirrung dieses aus pfiffiger Dummheit und heuchlerischer Ein-falt zusammengestrickten Lügengewebes fürs erste eine angemes-sene Tracht Prügel.

Doch Iwan biß die Zähne zusammen und blieb dabei. Das klei-ne, mit einer Londoner Etikette beklebte Fläschchen, dessen In-halt Sachverständige bereits für »diluierte1 Schwefelsäure« erklärtund geeignet gefunden hatten, die am eisernen Fenstergitter er-folgten Zerstörungen verursacht zu haben, wurde ihm vorgehal-ten mit der Frage, wie es in seine Lade und wie er in den Besitzdieses ihm zu seinen Berufsarbeiten durchaus nutzlosen Dingesgelangt sei.

Er leugnete, dasselbe jemals gesehen oder gar Gebrauch vonetwas dem Ähnlichen gemacht zu haben; für welche freche Lügeeine wiederholte Züchtigung nicht ausbleiben konnte.

Pristaff Schloß verhörte sich immer fester in die Überzeugunghinein, daß er es mit einem durchtriebenen, im eigentlichen Sin-ne des Wortes, ganz verdorbenen Verbrecher zu tun habe, dem dieNatur in einer ihrer unbegreiflichen Launen die täuschende Lar-ve unschuldiger Sanftmut gönnte, während sie sein Herz gänzlichverhärtete. Dazu kam noch der Ärger, daß jegliche Nachforschungwegen der geraubten Summen unbefriedigt blieb und daß Iwan

1Verdünnte.

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durchaus nicht Miene machte, den Versteck, den er dafür ausge-funden, irgend zu bezeichnen.

Natürlich wurde der sich abquälende Beamte vom bitterstenGroll gegen den Missetäter übermannt, und er würde vielleichtdie ohnehin schon weit ausgedehnten Grenzen seiner Vollmachtüberschritten und schwere Mißhandlungen verhängt haben, hät-te sich jener nur jemals auf dem kleinsten Widerspruche ertappenlassen. Doch dergleichen kam niemals vor. Wie wenn er sich inder Nacht vor dem eigentlichen ersten Verhör seine Lektion festeingeprägt und den Entschluß gefaßt hätte, lieber alles zu dul-den, als nur eine Silbe weit von dem einmal Gesagten abzuwei-chen, blieb Iwan unerschütterlich bei seiner ersten Aussage. We-der Querfragen noch Überraschung durch plötzliche Drohungennoch gütliches Zureden unter Verheißung möglichster Nachsichtbrachte ihn aus seinem Gleise.

Bald war die ganze Stadt voll von Erbitterung gegen diesen beiso früher Jugend schon so zähen Bösewicht. Muschkins Begräb-nis, von dessen am Orte lebenden Glaubensgenossen mit allemPompe begleitet, den die griechische Kirche einem Märtyrer wid-men konnte, hatte nicht wenig beigetragen, diese Erbitterung zusteigern. Und als sich gar die Kunde verbreitete, der große Katerhabe das Grab nicht mehr verlassen und sich auf demselben zu To-de gehungert, da erhob sich eine förmliche Sturmflut von Flüchengegen den treulosen, undankbaren, mörderischen Diener, der sotief unter jenem getreuen Tiere stand.

Vielleicht nur ein Mensch in der ganzen Stadt zweifelte anIwans Schuld und sprach diesen Zweifel überall offen aus; daswar Singwalds Diener, Simeon. Wenn ihm dagegen von denjeni-gen, mit welchen er stritt, alle zusammentreffenden Anzeichenund Belastungsgründe vorgehalten wurden, pflegte er zu erwi-dern: »Das ist alles richtig, und ich kann es niemand verdenken,der ihn für den Täter halten will; aber ich bin’s nun einmal nichtimstande, ich kann’s nicht glauben, daß Iwan einen Mord began-gen hat; so sieht kein Mörder aus.«

Madame Singwald belobte Simeon für diese milden Gesinnun-gen, und er stieg dadurch wieder mehr in ihrer Gunst.

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14. KAPITEL

Die Untersuchung hatte sich so lange fortgeschleppt, daß siedurch die herannahenden Ostern unterbrochen wurde und wäh-rend der Festtage ruhen sollte. Doch gerade diese Tage benützteder Pope, welchem die Seelsorge der Gefängnisse übertragen war,zu einem Hauptangriff auf den Verbrecher. Wahrscheinlich wurdeer dazu weniger vom Inquirenten als vielmehr von seinem Archi-mandriten angetrieben, welcher in Iwan, dem Sohne eines ket-zerischen Altgläubigen, eine ihm und der rechtgläubigen griechi-schen Kirche entzogene – Dank sei es der sträflichen Nachsicht desvorigen Polizeimeisters! – Beute sah und nun wenigstens der irdi-schen Gerechtigkeit das Opfer zu liefern wünschte. Ein Wunsch,der ohne des Verbrechers Eingeständnis, trotz aller wider ihn spre-chenden Indizien, doch vielleicht nicht in Erfüllung ging.

Was der Pristaff nicht herausgebracht, das sollte der Pope her-auszubringen versuchen, und dieser einigte sich bald mit jenem,der, weil er fast schon müde geworden, gern auf die Ehre verzich-tete, wenn nur endlich ein Resultat erzielt wurde.

Der Pope erhielt die Bewilligung, mit dem Gefangenen, wie miteiner Sache, nach eigenem Ermessen zu verfahren. Die langen Fa-sten, an und für sich schon zehrend genug, im Kerker nun vollendsaushungernd und schwächend, hatten Iwan, der einer gediegenenKost während seiner Dienstzeit bei Muschkin gewöhnt gewesen,sehr heruntergebracht und ihn mit einer wahren Freßgier erfüllt.Er klagte über nichts mehr als über Hunger, und wenn er demfetten Popen gegenüberstand, fletschte er bisweilen die schönenZähne, als hätt er Gelüste, einen Biß in die feisten Wangen zu tunund den Mann der griechischen Kirche anzunagen.

Am Freitage vor Ostern überraschte ihn der Wohlgenährte mitdem Antrage, ihn zu füttern. Iwan wußte nicht, ob er recht hörte,als ihm gesagt wurde: »Ich hege Mitleid mit dir, mein Söhnchen;magst du immer ein schwerer Verbrecher sein, hängt es doch nurvon dir ab, durch reuiges Geständnis wieder mein Bruder zu wer-den, und ein Mensch bleibst du immer. Ich will nicht, daß GottesKreatur so wilden Hunger leide, und deshalb werd ich dir heu-te abend gute Speise bringen; aber es bleibt unter uns, und du

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darfst mich für meine Christenliebe beim Gefangenwärter nichtetwa verraten.«

Wer war froher als Iwan! Er zählte die Augenblicke bis zur Dun-kelstunde; er malte sich mit all der Lebhaftigkeit, deren ein leererMagen von zwanzig Jahren nur fähig ist, die unnennbare Wonneaus, zermalmen, verschlucken, sich sättigen zu dürfen.

Und als er Tritte im Gange vernahm! Als die Riegel an seinerZellenpforte zurückgeschoben wurden! Als der Pope, bei der Fin-sternis kaum sichtbar, ihm ein Päckchen in Papier gehüllt zuschob:»Da, nimm, iß! Weißbrot, gute Fische; wohl bekomm dir’s! Undgehe in dich!«

Er bemerkte gar nicht, daß er wieder allein war; er hörte garnicht, daß die Pforte wieder geschlossen, die Riegel wieder vorge-schoben wurden; daß die Tritte auf dem Gange wieder verhallten.

Er verschlang nur, nicht wie ein essender Mensch, wie ein wil-des Raubtier, ohne schmeckend zu prüfen, was er genoß.

Ehe eine Viertelstunde vergangen, hatte er einige Semmeln ver-zehrt und ein halbes Dutzend scharf gesalzener Heringe.

Und dem Tiere gleich, wenn es sich den Wanst überfüllt, warfer sich auf die Pritsche und versank in bleiernen Schlaf.

Er träumte von einem langen schönen Sommertage in seinerHeimat; von einem Tage so klar, durchsichtig, rein, wie ihn nurder Norden gibt, wenn die helle Mitternacht an den frühen Mor-gen streift. Er war wieder ein unschuldiges lustiges Kind, ein mun-terer Knabe, half der Mutter Beeren suchen, duftige rote Beerenim weißstämmigen Birkenwalde, jagte sich mit glänzenden Kä-fern herum, erkletterte hohe Lindenbäume und schaute den Vö-geln ins Nest. Ach, ihm war so wohl, so leicht . . . nur getrunkenhätte er gern, denn die Hitze machte ihn durstig; doch wie er sichdem Bächlein näherte, das neben ihm her durchs Grüne rann, undwie er mit der hohlen Hand schöpfen wollte, da wichen ihm dieschlüpfrigen Wellen aus, glitten ihm zwischen den Fingern durch,und er brachte nur eine leere, trockene Hand an die Lippen. DieHitze wuchs, sein Durst ward immer brennender – und das silber-ne Wasser wich immer weiter von ihm, je mehr sich seine Kehledanach sehnte. Schon fing der Gaumen ihm auszutrocknen an.

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»Mutter«, weinte er, »ich verschmachte . . . « Da klirren von einerBewegung seines Körpers die Ketten, die er trug, und Iwan er-wachte bei dem gräßlichen Klange. Fort war der lange Sommer-tag, die Mutter, der Wald, die Knabenzeit . . . Doch der brennende,quälende Durst war geblieben. Von diesem gemartert, wachte erdie zweite Hälfte der Nacht durch, in Sehnsucht des Morgens har-rend, wo der Aufseher sich zeigen wurde. Doch zum Unglückezögerte dieser gerade diesmal ungewöhnlich lange. Iwan winsel-te in seiner Qual. Er hätte lieber ein nochmaliges Verhör samtallen damit zusammenhängenden Schlägen ausgestanden als die-sen Durst. Endlich erschien der Längsterwartete. Er brachte ihmSpeise – ausnahmsweise, wie er sagte, durch besondere Vergün-stigung, ihm von sämtlichen Kettengefangenen allein: »Laberdan,prächtig eingesalzen!«

Iwan schob voll Widerwillen den hölzernen Teller zurück undflehte mit matter Zunge, die am Gaumen klebte, nur um Wasser!

»Ist der Krug leer?« fragte der Wärter; »jawohl, mein Söhnchen,gleich sollst du Wasser haben, schönes, klares, frisches Wasser.«

Als er diese Worte hörte, flimmerten des Gefangenen matte Au-gen auf in krankhaftem Glanze, und er flüsterte: »O ich bitte, gü-tigster Herr Stockmeister, erbarme dich!«

»Sogleich mein liebes Söhnchen, sogleich sollst du bedient wer-den«, hatte der Aufseher beim Hinausgehen gesagt; aber verge-bens starrte der Elende nach der Türe . . . eine Viertelstunde nachder andern verstrich, die Tür öffnete sich nicht. Vor ihm standder eingesalzene Kabliau. Es erfaßte ihn ein heftiger Ekel vor die-ser Nahrung, deren Geruch schon seinen Durst zu mehren schi-en, und er schleuderte den Teller von sich. Bald darauf kam derWärter, den steinernen Wasserkrug in der Hand. Iwan ließ einenFreudeschrei hören, dem heiseren Gebrüll des Wolfes gleich.

»Was ist das?« fragte der andere, »meinen Teller mit der schö-nen Gottesgabe in den Winkel geworfen? Meine gute Meinung mitFüßen getreten? Ungebärdig, widersetzlich willst du sein? Oho,Vögelchen, da wird man dir den Saufnapf höher hängen. Dafürgebührt Strafe, und weil in der heiligen Woche sich Schläge nicht

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ziemen, so durste noch ein Weilchen, bis dir der Übermut ver-geht.«

Damit goß er das kühle Brunnenwasser auf die Fliesen des Fuß-bodens und entfernte sich, ohne auf Iwans Beschwörung weiter zuachten.

Die mit Staub und Erde erfüllten Ritzen zwischen den Stein-platten saugten schnell alle Feuchtigkeit ein. Flüchtige Luftbläs-chen perlten auf, und der letzte Tropfen war verschwunden.

Iwan heulte vor Wut, aber ohnmächtig und hilflos knirschte erin seine Ketten.

Und abermals neigte sich ein grauer Tag dem düstern Abendzu, da knarrte das Schloß am schmalen Pförtlein, ächzten rostigeRiegel, und der Pope stand wieder vor ihm, diesmal nicht allein.Hinter ihm der Wärter mit dem Wasserkruge. In der halbgeöffne-ten Türe der Pristaff und ein Schreiber.

»Iwan«, hub der Pope an, »Sohn eines Ungläubigen, eines Ket-zers, wie lange willst du noch zögern und ausweichen dem Ar-me der menschlichen Gerechtigkeit? Weißt du nicht, daß nur dieBußen, die du hier reumütig erduldest, denen du dich bereitwil-lig unterwirfst, mildern können jene unausbleiblichen Strafen derEwigkeit? Gehe in dich! Ermüde nicht länger die Geduld derer,welche auf dein freiwilliges Geständnis harren. Bekenne dein Ver-brechen, damit du Frieden findest in deiner Seele und das mor-gende Auferstehungsfest für dich zur Auferstehung eines neuenMenschen werde. Willst du endlich reden? Wir sind hier, dich zuhören.«

»Wasser!« stöhnte Iwan.»Erst rede, öffne dein Herz, dies versteckte, böse Mörderherz!«»Ich kann nicht reden, Väterchen, ich verschmachte.«Der Pope nahm den Krug und hielt ihn dem Flehenden vor die

Lippen. Einen Schluck ließ er ihn versuchen, dann riß er den La-betrunk wieder fort.

»Willst du bekennen, wenn du dich satt getrunken? Willst dudann eingestehen?«

»Ich will alles, was Ihr verlangt; nur laßt mich trinken.«»Schwöre vorher!«

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»Ich schwöre!«»So nimm!«Iwan leerte den Krug mit einem Zuge.»Geweihtes Osterwasser hast du getrunken, nun mußt du be-

kennen, oder du stirbst in einer Stunde. Bist du schuldig?«»Ich – bin – schuldig!« sagte Iwan und stürzte auf seiner Prit-

sche zusammen.Am nächsten Morgen mischte sich in die von manchem Judas-

kusse begleitete Segenskunde: »Christ ist erstanden!« die zweite:»Und Muschkins Mörder hat freiwillig bekannt; aber das Geld istnoch nicht gefunden.«

15. KAPITEL

Der Polizeimeister kam zum täglichen Rapport beim General-gouverneur. Der große Audienzsaal im Schlosse, durch welchenman geht, um nach dem eigentlichen Empfangszimmer des inden Ostseeprovinzen Gewaltigen zu gelangen, enthielt verschie-dene Gruppen von Harrenden; meistenteils lettische Landleute,aus der Nähe und Ferne, die irgendein Gesuch, eine Bitte anzu-bringen hofften.

Nur eine bejahrte Frau, welcher man auf den ersten Blick an-sah, daß sie nicht aus diesen Provinzen stammte, daß sie eine ei-gentliche Russin sei, stand allein, gebeugt, kummervoll, ermüdetvon langer Wanderung; in ihrer Hand hielt sie ein kleines Brief-chen.

Der gutmütige Polizeimeister wollte eben auf sie zuschreiten,um sie zu befragen, worin ihr Anliegen bestehe, als ein jüngererAdjutant Seiner Exzellenz aus den innern Gemächern hervorkam,augenscheinlich beauftragt, die Anwesenden zu überschauen unddem vielbeschäftigten Generalgouverneur unnütze Gespräche zuersparen.

Kaum bemerkte dieser in dem weiten Raume den Polizeimei-ster, als er sich ihm eilig näherte: »Nun, Freund, wie steht’s? Nochnicht auf den Mammon gestoßen?«

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»Nein, Herr von Kotzebue«, erwiderte jener; »Iwan hat wohleinige Andeutungen gegeben, an welcher Stelle der Raub ver-scharrt sei. Wir haben den bezeichneten Platz auch gefunden; ichselbst war dabei zugegen, als alles umwühlt wurde. Aber nichtszu finden. Entweder andere, unberechtigte Finder sind uns zu-vorgekommen. Und dies Unglück ist am Ende nicht so groß, dennErben sind nicht da, und ob die Krone etliche zwanzigtausend Ru-bel mehr hat, darauf kommt nichts an. Oder, wovon mein Pristaffallerdings nichts hören will: Iwan hat einen Helfer bei der Tat ge-habt. Oder endlich, der Schurke meint, über kurz oder lang ausSibirien zurückzukommen, und hat uns nicht die ganze Wahrheitgesagt. Gleichviel! Die Hauptsache ist, daß seine Exzellenz demObergerichte Eile anempfehle und die Sache bald zum Spruchebringe. Wir sind der öffentlichen Meinung die Exekution schuldig.Aber was will diese Frau? Sie ist mir schon bei meinem Eintrittauffällig gewesen.«

In dem Betragen der Fremden war eine lebhafte Veränderungvorgegangen, seitdem der Name Iwan zu ihren Ohren gedrungen.Sie wiederholte denselben einige Male und setzte hinzu: »MeinSohn, mein armer Sohn!«

Der Polizeimeister und der Adjutant winkten sie heran und hie-ßen sie sprechen.

Sie kam aus der Gegend von Narva. Leibeigene des Herrn Kru-schoff, hatte sie durch diesen ihren freundlichen Gebieter Nach-richt erhalten von den amtlichen Anfragen, die wegen ihres ein-zigen Sohnes Iwan ergingen. Iwan sollte ein Mörder sein? Daskonnte sie nicht glauben. Hier herrschte ein grausamer Irrtum.Aber die Mutter würde den Sohn retten, wenn sie ihn nur errei-chen könne. Kruschoff hatte ihr gestattet, die Reise zu machen.Sie war matt und schwach den langen Weg gegangen, Bettlerin,Pilgerin! Da war sie nun. Den Generalgouverneur wollte sie se-hen! Dem wollte sie’s vortragen, daß ihr Sohn unschuldig sei.

»Der wird mir’s glauben«, sagte sie, »seine Mutter hat mir’sauch geglaubt.« Dabei hielt sie den Herren das Briefchen hin.

Der Adjutant wollte es ergreifen.

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Rasch zog sie es wieder zurück. »In seine eigenen Hände mußich es legen; es ist von seiner Mutter geschrieben.«

»Lebt des Generalgouverneurs Mutter noch?« fragte der Poli-zeimeister.

»Hochbejahrt«, antwortete der Adjutant, »wohnt die edle Damein Reval.«

»Ja, in Reval«, rief Iwans Mutter; »über Reval bin ich gegangen;zu ihren Füßen hab ich gelegen; dies hat sie geschrieben für ihrenSohn; er wird mich meinen Sohn sehen lassen!«

»Frau«, erwiderte der Adjutant, »der Generalgouverneur kanndich jetzt in diesem Augenblicke nicht vorlassen. Er ist dringendmit dem Zivilgouverneur beschäftigt, und sogar dieser Herr, siehstdu, unser Polizeimeister, der im Dienste hier ist, muß warten. Alledie übrigen wird er vielleicht erst morgen sprechen können. Waswillst du die Zeit versäumen, deinen Sohn zu sehen? Gib mir denBrief einstweilen, ich trage ihn hinein, gebe ihn in Seiner Exzel-lenz Hand und bringe dir wahrscheinlich die Erlaubnis mit heraus,daß du deinen Iwan besuchen darfst.«

Der Polizeimeister bestätigte diese Zusagen, und die arme Mut-ter entschloß sich. Der Adjutant ging Augenblicks, das gegebeneVersprechen zu erfüllen.

»Wenn du die Erlaubnis empfängst, Mütterchen, deinen Sohnunter vier Augen zu sprechen«, fuhr der Polizeimeister fort, »so re-de ihm nur ja recht ins Gewissen und mache, daß er uns aufrichtigsage, was mit dem geraubten Gelde geschah. Seine Geständnissewaren bis jetzt noch unvollkommen!«

»Oh, mir soll er die Wahrheit sagen«, rief das Weib; »mir gewiß,darauf verlaßt Euch, Herr!«

»Und du wirst sie mir dann nicht vorenthalten, hoff ich?«»So wahr ein Gott lebt und wir durch seinen Sohn Erlösung

hoffen; was mein Sohn mir eingesteht, das gesteh ich Euch! Wenner den Mord begangen, wird er mir es entdecken, und er wirdmir auch nicht verschweigen, wo der Raub verborgen liegt. Aberfindet ihn die Mutter schuldlos, dann, ihr Herren, müßt ihr auchder Mutter glauben und ihn freilassen! Versprichst du mir das mitdeinem Eide?«

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»Wo denkst du hin, Weib?« sagte der Polizeimeister verlegen;»davon ist nicht mehr die Rede. Er hat ja den Mord schon be-kannt!«

»Wem, Herr? Denen, die ihn prügelten, die ihn quälten? Dasist nicht gültig vor Gott. Der Mutter muß er’s bekennen, wenn sieihn liebkoset; der Mutter, die ihn unterm Herzen trug. Eh er dasnicht getan, halt ich ihn für keinen Mörder.«

»Er wird es tun, Frau. Liebkose ihn immer, desto leichter gehtihm das Herz auf. Aber sieh, da kommt der Hauptmann zurück.«

Der Adjutant brachte, wie er’s vorhergesagt, die Bewilligungdes Generalgouverneurs, daß Iwans Mutter eine Stunde im Ker-ker allein mit ihm zubringen dürfe, und ersuchte den Polizeimei-ster, dafür Sorge zu tragen, daß dieser Vergünstigung nichts inden Weg gestellt werde. Die erbetene Audienz wurde auf morgenvertagt, und alle Anwesenden mußten den großen Saal verlassen.

Der Generalgouverneur Baron von P. hatte sich soeben mit sei-ner noch immer schönen holdseligen Gemahlin und den liebens-würdigen Töchtern zur Mittagstafel gesetzt, die heute im eigent-lichsten Sinne Familientisch war. Kein Gast, nicht einmal einervon den Adjutanten war zugegen. Der Brief seiner uralten Mut-ter, den ihm Iwans Mutter aus Reval mitgebracht, lag noch nebendem Gedecke der Dame vom Hause, die ihn kurz, ehe sie zumSpeisen gingen, durchgelesen. Natürlich galt ihr Gespräch derwürdigen Greisin, ihrer menschenfreundlichen Gesinnung, ihrergeistigen Klarheit, ihrer festen Handschrift und vorzüglich demGlücke, daß ein Mann mit grauem Haar und weißem Bart nochdie Begünstigung genieße, eine hochverehrte Mutter am Lebenund bei dauernder Gesundheit zu wissen. »So sehr ich mich überjeden ihrer Briefe freue«, sagte der Baron, »diesmal würde ich esihr Dank wissen, wenn sie nicht geschrieben hätte. Ich muß nundas bedauernswürdige Weib morgen empfangen, die verzweifeln-de Mutter, und was soll ich tun, sie zu trösten? Ich kann des Mör-ders Schicksal nicht mildern, und könnte ich’s, doch wär es widermein Gewissen. Für solchen Frevel, der kein Motiv hat als niedrigeHabsucht, tierische Grausamkeit, was bleibt da übrig? Und wohin

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käm es zuletzt auf Erden, wollte man hier dem Rechte nicht sei-nen Lauf lassen? Gleichwohl wird sie weinen und bitten . . . Mut-ter bleibt Mutter . . . es ist traurig, das zu hören, und die meinigehätte mir den Jammer wohl ersparen können.«

»Was gibt’s?« fragte plötzlich die Baronin den Tafeldecker, densie mit den Lakaien und diese wieder durch die offene Tür miteiner der im großen Saale wachthabenden und eingetretenen Or-donnanzen flüstern sah.

Keiner wollte mit der Sprache herausrücken.»Nun, werdet ihr antworten?« drohte der Herr.Jetzt drückten sich die Livreediener beiseite und ließen den

Unteroffizier vortreten.»Sprich«, sagte der General.»Habe zu melden, daß ein Weib draußen steht und will sich

nicht abweisen lassen. Kommt aus dem Gefängnisse und meint, esist notwendig. Habe gesagt, Erlaucht sitzen bei Tafel, essen unddürfen nicht gestört werden, außer bei Feuerschaden. Das Weibwill nicht Vernunft annehmen. ›Ich habe seit drei Tagen nichtsgegessen‹, schreit sie; ›mag er essen, aber anhören muß er mich!Das ist seine Pflicht!‹«

»Die Frau hat recht; und wenn es um Mitternacht wäre. Dafürbezahlt mich der Kaiser1. Laß sie kommen, hier herein, marsch!«

Ohne Verlegenheit, festen Trittes, mit hochaufgerichtetemHaupte, ja stolz und ihrer Sache gewiß gehorchte die Leibeigeneaus der Umgegend von Narva dem ihr überbrachten Befehle. Siebeugte sich wohl vor den am Tische Sitzenden, jedem der Reihenach das Kleid zu küssen; als aber diese Förmlichkeit abgetan, er-hob sie sich wieder, stellte sich vor den Machthaber und begann:»Herr, ich bin Iwans Mutter. Deine Mutter hat dir meinetwegen ge-schrieben, du hast ihr Brieflein empfangen, dort seh ich es liegen.Nun höre mich an. Mein Sohn ist unschuldig. Er hat die Tat nichtbegangen! Gib ihn los, daß ich ihn mit mir nehme, in unser Dorf.Ich habe nichts als ihn. Mein Mann, Iwans Vater, ist im Gefängnis

1Diese Worte hat der Verfasser buchstäblich aus dem Munde des damaligenGeneralgouverneurs der Ostseeprovinzen vernommen.

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gestorben, wo sie die Irrgläubigen eingesperrt hielten; Gott erbar-me sich seiner Seele. Ich bin rechtgläubig. Mein Sohn ist es auch.Gib ihn mir heraus, Herr, auf daß Gottes Wille geschehe; denn erist unschuldig. Ich weiß es.«

Darauf war der General nicht gefaßt. Flehende Bitten hatte ererwartet, nicht diese entschiedene Zuversicht. »Weib«, rief er aus,»du redest irre; dein Sohn hat sein Verbrechen freiwillig einge-standen.«

»Freiwillig? Herr, du redest irre; du weißt nicht, was dusprichst. Du sitzest da und löschest deinen Durst mit kühlem Wei-ne. Wüßtest du, wie dem Gefangenen ist, der verschmachten will,den sie wochen- und wochenlang ausgefragt haben, gescholten,geschlagen, gemartert, den sie verdursten lassen, daß er schwachwird und matt und die Besinnung verliert. Und nun kommen sieund zeigen ihm frisches Wasser; bekennen soll er, sonst darf ernicht trinken. Da sagt er: ›Ich will alles bekennen, was ihr ver-langt, nur gebt her.‹ Und wenn er getrunken, ruft der Pope: ›Eswar geweihtes Osterwasser! Bekenne, sonst mußt du sterben.‹ Dadenkt der Elende in seinem schwachen Kopfe: ›Nein, sterben willich nicht, ich bin noch so jung. Lieber bekenn ich und lasse michknuten und nach Sibirien bringen; behalt ich doch vielleicht meinLeben.‹ Weiter ist’s nichts, Herr. Iwan ist unschuldig wie du, wiedeine Frau, wie deine Mädchen hier, die weißen Rosen. Unschul-dig ist er, denn er hat mir es zugeschworen; weiß nichts von demMorde; ist nur entflohen aus Furcht. Ich glaub ihm Herr! Und dumußt mir glauben und ihn freigeben.«

»O du Ärmste!« seufzte die Baronin. Ihre Töchter weinten.»Nicht wahr, ihr Engel, er muß ihn loslassen? Helft mir bitten!«»Frau«, sprach der General, »mach uns das Geschrei nicht. Es

gibt keine Hilfe. Sein Geständnis liegt vor, schwarz auf weiß; alleAnzeichen und Verdachtsgründe lasten auf ihm, auf ihm allein;auf keinem andern lebendigen Menschen. Verurteilt wird er, dar-auf bereite dich. Begnadigen darf ich nicht; ich bin nicht der Kai-ser.«

»Gut, so geschehe, wie du sagt, Mann mit dem silbergrauenBarte. Aber deiner alten Mutter werd ich’s klagen, daß du mich

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fortgewiesen hast. Ja, deiner Mutter will ich’s klagen, daß ihrSohn meinen Sohn wird stäupen lassen bis auf den Tod, daß erihm wird lassen sein zartes weißes Fleisch in langen blutigenStreifen vom Rücken hauen! Meinem Iwan! Meinem schuldlosenJungen! Meinem einzigen Sohne!«

Es wurde den Dienern ein Wink gegeben. Sie führten das wei-nende Weib hinaus.

16. KAPITEL

»Des Mörders Mutter!« Unter diesem Namen wurde die Leib-eigene aus Narva sehr bald in der Stadt bekannt. Überall, wo siesich zeigte, fand sie Mitleid, und reiche Gaben strömten ihr zu.Sie war entschlossen, zu verweilen, bis das Urteil gefällt war; siewollte der Vollziehung beiwohnen. Keine Gegenrede, keine War-nung brachte sie von diesem Vorsatze ab. Wenn gutmütige Leuteihr sagten: »Du wirst es nicht aushalten, du wirst unterliegen!«,dann erwiderte sie nur: »Muß er es doch aushalten!«

Die Richter waren bald einig. Iwans Widerruf konnte nichtmehr beachtet werden. Alles sprach gegen ihn. Was in Rußland,wo die eigentliche Todesstrafe nicht verhängt wird, an deren Stel-le tritt: dreimalige Geißelung, Brandmarkung, Deportation – daswurde dem Überwiesenen erst Bekennenden, dann wieder bos-haft Leugnenden, einstimmig zuerkannt.

Niemals war eine Sitzung kürzer gewesen.Der Tag der ersten Exekution stand schon fest.Im Singwaldschen Hause flossen viele Tränen um den hüb-

schen, schlanken, guten, blauäugigen Iwan. Isaak grämte sich biszum Krankwerden; Dorchen weinte, wenn sie ihrer Madame dieHaare machte, so heftig, daß diese schalt; was aber nicht hinder-te, daß sie selbst nach dem Tuche griff, um sich verstohlen dieAugen zu wischen. Lieschen war so betrübt, daß sogar Simeon sienicht trösten konnte.

Der Oberälteste meinte: »Ihr seid alle nicht klug! Erst könntihr nicht Verwünschungen genug auftreiben über den ruchlosenMörder, und nun es endlich dazu kommt, daß ihm sein Recht ge-schieht, zerfließt ihr in Mitleid?«

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»Wenn er’s nur auch wirklich getan hat«, äußerte Simeon be-denklich.

»Das ist’s eben«, klagen die Frauenzimmer.Simeon hatte in neuester Zeit – um auch wieder einmal von

ihm zu reden – dargetan, daß es ihm redlicher Ernst sei, dieErinnerung an seine garstige Zollgeschichte bis auf den letztenFlecken zu verwischen. Er betrug sich sehr still, fleißig, aufmerk-sam im Dienste, blieb auch in Freistunden zu Hause, sparte seineTrinkgelder und gestattete sich seit Iwans Gefangenschaft auchnicht mehr den sonst üblichen Abendpunsch mit Isaak, worüberder letztere, trotz seiner Trauer um Iwan, dennoch klagte.

Herr Singwald konnte endlich nicht anders, als seinen muster-haften Diener beloben und sich Glück wünschen, daß er für ihnKaution geleistet.

»Wenn mich der Patron auch etwas teuer zu stehen kommt«,pflegte er am Spieltisch zu sagen, »einen Bessern wüßt ich mirdoch nicht aufzutreiben!« Auch war er vollkommen gefaßt dar-auf, die Strafgelder wirklich für Simeon erlegen zu müssen. Umso größer war die Verwunderung, als dieser, da die erste Quoten-zahlung ausgeschrieben wurde, und zwar mit dem bedeutendenBetrage von 250 Silberrubel, seinem Herrn mehr als zwei Dritteiledieser Summe in Gold brachte und den Überrest am Monatslohnenach und nach abzuziehen bat. Er setzte dabei freudig und mitbefriedigtem Selbstgefühl auseinander, daß zu seiner angenehm-sten Überraschung die endliche Abrechnung mit dem Tilsiter Spe-diteur so vorteilhaft für ihn ausgefallen sei, daß er, anstatt nochfür Waren schuldig zu bleiben, einen Überschuß gerettet habe;daß Herr Pinkus so rechtschaffen und rücksichtsvoll gewesen, ihmdiesen Überschuß zu senden; und daß er es nun für seine schön-ste Pflicht achte, dem großmütigen Helfer wenigstens dankbarenWillen zu zeigen.

Niemals noch in dem Jahre, welches Simeon mit und bei Sing-walds verlebt, hatten seine Papiere so gut gestanden als in die-sen Tagen, und Lieschen bildete sich nicht wenig ein auf seineneue günstige Stellung. Denn daß Herr Oberältester einen so so-liden Menschen nicht im Stich lassen, ihm durch seine hohen

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Bekanntschaften einen Posten verschaffen und daß »Simon« siedann heimführen werde . . . daran hegte sie wohl keinen Zwei-fel. Die glückliche Köchin! Zwiefach glücklich, weil Dorchens fort-dauernder, wenn auch versteckter Groll gegen jenen sie vermutenließ, sie werde um seine Neigung beneidet!?

Der Pristaff Schloß, ermüdet von einem anstrengenden Amts-tage, saß mit den Seinigen beim Tee und blies, übelgelaunt undschweigsam, die Rauchwolken seiner Tabakspfeife vor sich hin. Erdurchdachte den eigentlich mißlungenen Ausgang seiner so eifriggeführten Untersuchung in der Muschkinschen Mordgeschichte.Diese Gedanken machten ihn verdrüßlich. »Übermorgen«, mur-melte er vor sich hin, »wird man den Mörder peitschen . . . unddas ist noch die letzte Hoffnung; denn wenn ihm auch dieser äu-ßerste Schmerz nicht ein Geständnis entreißt, wo er den Raubverborgen hält, so ist alles verloren, und die üble Nachrede bleibtauf mir sitzen, daß ich nicht fähig gewesen bin, die Hauptsachezu eruieren. Weiß der Himmel, ich habe einen furchtbaren Zorngegen die heimtückische Bestie, und ich will mit Wonne sein Blutrinnen sehen, hat er mir das Leben sauer gemacht! hat er mich ge-peinigt! Oh, es ist ein schrecklicher Beruf, zu dem ich verdammtbin!«

Dann nahm er seinen jüngsten Sohn auf den Schoß, herzte ihnliebevoll, streichelte seine Locken und warnte ihn: »Werde wasdu willst, mein Junge, nur deines Vaters Laufbahn vermeide; nurkein . . . «

Da klopfte es leise an die Tür.»Hat man auch in seinen vier Pfählen keine Ruhe?« rief er mür-

risch; »wer ist da? Was soll’s?«Dorchen zeigte sich.»Wer bis du? Was willst du?«»Waih, Herr Pristaff, ich bin das Kammermädchen von Frau

Oberälteste Singwald«, stotterte sie.»Schickt dich deine Herrschaft?«»Nein, ich habe mich zu Hause weggeschlichen, ich möchte mit

Herrn Pristaff . . . «

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Schloß hatte in diesem Augenblicke eine jener unerklärlichenAhnungen, wie sie den in solchen Gebieten heimischen Beamtenbisweilen mit einer Art von Divination1 erfüllen. Ein unbegreifli-ches Gefühl sagte ihm, daß er im Begriffe stehe, auf eine wichtigeEntdeckung geleitet zu werden. Heftig sprang er empor und führ-te das bebende Mädchen in sein Arbeitszimmer. Dort forderte ersie auf, sich zu fassen und ihm ruhig zu sagen, was sie anbringenwolle.

Sie bat tausendmal um Verzeihung, daß es gar nichts Bestimm-tes sei, was sie melden könne, daß ihre Anklage jedes Beweisesentbehre; daß sie gleichwohl reden müsse, weil ein dunkler Arg-wohn ihr die Brust zersprenge. »Ich glaube«, stammelte sie, »unserSimeon, des Herrn Diener, ist ein schlechter Mensch und hält esmit bösen Leuten. Gestern hat er dem Herrn eine Menge Dukatengezahlt und wird gepriesen, daß er so ehrlich ist. Aber ich halteihn für einen Scheinheiligen. Wo hat er auf einmal das Gold her?Wie die Männer vom Zoll ihn packten, da jammerte er, nun wärer ruiniert und sein Erspartes verloren und müsse sogar seine Uhrverkaufen. Und gestern legt er Herrn Oberältesten eine Hand vollgelber Dukaten hin. Gewiß stecken noch mehr in seinem Schuhe,denn ich habe gehorcht vor der Kammertür und habe ihn zäh-len und klimpern gehört. Ich möchte schwören, er bezahlt unsernHerrn mit demselben Golde, welches er ihm gestohlen hat.«

Der Pristaff sann eine Weile nach. Dann fragte er: »Hast dudeinen Verdacht schon gegen jemand ausgesprochen, ehe du zumir kamst?«

»Waih, Gott soll behüten. Das dürfte ich zu Hause nicht wagen.Sie halten wieder alle miteinander große Stücke auf ihn.«

»Desto besser. So kehre zurück, verrate mit keiner Silbe, daßdu mich gesprochen, und halte dich ganz still, mag auch bei euchvorfallen, was immer wolle. Fürs erste dank ich dir für deinen Be-such und will ihn benützen. Ich setze voraus, daß es nicht persön-liche Feindschaft ist, die dich zu einer falschen Angeberin machte.Nun geh!« Die letzten Worte schienen eine wunde Stelle getroffenzu haben, denn Dorchen wurde feuerrot und entfernte sich mit

1Ahnung.

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gesenkten Augen, was zwar dem Polizeibeamten nicht entging,ihn aber doch auch nicht abhielt, erregt, wie er nun einmal war,seinem innern Antriebe zu folgen.

Mit dem Schlage zehn Uhr – der Hausknecht wollte gerade denTorflügel schließen – stellte Schloß, begleitet von zwei Männern,denen er unten zu harren gebot, sich ein und begab sich ohne Auf-enthalt an die schon von seinem früheren Besuche ihm bekannteKammertür des Verdächtigen, welche gleich auf das erste Pochenrasch geöffnet wurde.

Es mußte dem erfahrenen Menschenkenner auffallen, daß Si-meon, der bei ihrem früheren Zusammentreffen vollkommenunbefangen erschienen war, diesmal sich entfärbte und seinesSchreckens fast nicht Meister werden konnte.

Schloß benützte diesen unvorbereiteten Augenblick und frag-te sehr barsch: »Wo sind die Goldstücke hergekommen, die HerrSingwald gestern von Ihnen empfangen?«

Während dieser kurzen Anrede hatte Simeon sich schon wiedergesammelt: »Ich habe sie von dem Handelsmanne in Tilsit erhal-ten, mit dem ich mich damals in das unglückliche Geschäft einge-lassen. Soviel blieb mir noch gut; hier ist die Abrechnung.« Dabeizeigte er einen an ihn gerichteten Brief vor, der diese Berechnungwirklich enthielt.

»Dieser Brief ist nicht mit der Post angelangt, wie ich sehe!Enthielt er das Gold?«

»Nein, Herr Pristaff; das Gold befand sich in einem kleinenRöllchen . . . hier ist noch das Papier . . . Beides brachte mir derFeldjäger, der gestern mit Depeschen von Tilsit nach Petersburghier durchreiste. Diesen hatte Herr Pinkus ersucht, es für michmitzunehmen, und bei diesem hab ich es mir, weil ich’s erwarteteund weil ich zufällig hörte, daß ein Kurier gekommen sei, draußenüber der Düna von der Posthalterei abgeholt, wo er frühstückte.«

»Von wem erfuhren Sie, daß ein Feldjäger da sei?«»Von Isaak, unserem Kutscher; dem hat es ein Postillon erzählt.

Sie können ihn fragen.«»Und woher wußten Sie gewiß, daß dieser Kurier das für Sie

bestimmte Geld mitbringe?«

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»Herr Pinkus hatte mir’s schriftlich vorher angezeigt; hier istauch dieser Brief.«

Es verhielt sich so; die Postzeichen waren ganz in der Ordnung.»Wie heißt der Feldjäger?« examinierte der Pristaff, der schon

seinen vergeblichen Gang bereute, nur um noch zu fragen.»Seinen Namen weiß ich nicht.«»Bis wann kommt er wieder zurück?«»Er geht von Petersburg weiter, zur See, nach London, glaub

ich.«»Hm; öffnen Sie Ihren Schub – Ihren Koffer – , ich habe Gründe,

Ihre Effekten zu untersuchen.«Simeon leistete gefällig Folge, leuchtete, ohne selbst Hand an-

zulegen, mit einer eigens dazu angezündeten Kerze und gab seinin bester Ordnung gehaltenes bewegliches Eigentum den wühlen-den Händen des Beamten willig preis.

Nichts Verdächtiges war zu finden. Die bare Kasse bestand inetwa zehn Rubel und fünfzig Kopeken. Von Gold keine Spur. Un-willig brummte der Pristaff in den Bart: »Die Dirn ist wahrschein-lich eifersüchtig und will sich rächen, daß sie ihm nicht gefällt.«Dann sprach er laut: »Es ist gut! Ich freue mich, daß der Verdachtgegen Sie unbegründet war. Sie brauchen nichts davon zu erwäh-nen, was jetzt hier vorgefallen.«

Indern er das sagte, griff er, und es würde schwer sein, genü-gende Gründe anzugeben, warum er es tat – doch wohl mehr inZerstreuung und von anderen Gedanken in Anspruch genommenals absichtlich, nach dem Papier, aus dem das Röllchen gebildetgewesen, welches die besprochenen Dukaten enthalten und wel-ches halb zerrissen noch auf dem Schubkasten lag, wohin Simeones geworfen. Er knitterte es in den Fingern zusammen, wie maneben mit dem ersten besten Gegenstande spielt, und stieg dann,von Simeon mit dem Lichte geleitet, die Treppen hinab. Untenim Flur wartete noch der Hausknecht. Diesen schickte er nachIsaak, ließ sich vom Alten bestätigen, was Simeon, des FeldjägersAuskunft betreffend, versichert, und schied nachher von Dorchensüblem Willen gegen einen sie Verschmähenden vollständig über-zeugt.

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Isaak und der Hausknecht erschraken nicht wenig, als Simeonseine fünf Finger an die Nase hielt und diese Verlängerung seinesGeruchsorganes allerlei kecke und herausfordernde Bewegungenhinter Herrn Pristaff her spielen ließ.

17. KAPITEL

Dorchen, die mit Lieschen ein gemeinschaftliches Gemach ne-ben der Küche bewohnte, hatte die Nacht schlaflos, wie auf Na-deln liegend, zugebracht. Ihr war das ungewöhnliche Geräusch,welches nach zehn sich auf dem Flur erhoben, nicht entgangen,und sie hatte sich leicht denken können, daß jetzt schon die Nach-wirkungen ihrer Anzeige im Gange waren. Mit welcher Ungedulderwartete sie den Morgen! Wie sehnte sie sich, zu erfahren, ob dieDurchsuchung der Simeonschen Habseligkeiten zu einer wichti-gen Entdeckung geführt habe. Lieschen wußte gar nicht, wie ihrgeschah, als ihre sonst langschläflerische Genossin heute vor ihrdas Lager verließ und unter dem Vorwande einer höchst nötigenNäherei für Madame aus dem Zimmer schlüpfte.

Dorchen aber eilte vor Simeons Tür, wo sie, fast gewiß über-zeugt, daß er bereits in gefänglicher Haft weile, recht dreist undzuversichtlich durchs Schlüsselloch zu gucken sich bemühte. Ehesie jedoch dazu gelangt war, des Feindes Bett forschend ins Augezu fassen, riß dieser argwöhnisch die Tür auf und stand dicht vorihr: »Ah, Dorchen, Sie sind’s? Wollten wohl zusehen, ob der HerrPistaff mich gestern mitgenommen? Denn Sie werden es, denkich, sein, der ich seinen Besuch verdanke. Wie? Nun, das ist jarecht hübsch von Ihnen, recht kameradschaftlich! Aber hat nichtszu sagen. Ich schreibe mir’s hinters Ohr, und vielleicht findet sichGelegenheit zur Vergeltung. Für diesmal sitz ich noch nicht imschwarzen Loch, wie Sie sehen!«

Dorchen war ganz vernichtet. Eine entsetzliche Angst bemäch-tigte sich ihrer. Sie fürchtete des Feindes Rache. Und in dieserBesorgnis eilte sie, was sie konnte, zum Pristaff.

Aber auch dort blühte ihr kein günstiger Empfang. »Ei, dutückische Kröte«, scholl es ihr entgegen, »kommst du etwa, dirdeine Nasenstüber abzuholen, dafür, daß du mich gestern abends

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noch einmal in die Stiefeln genarrt um nichts und wieder nichts?Was Teufel fällt dir ein, euere dummen Liebeleien, die ihr Dirnenmit den Bengeln habt, mich entgelten zu lassen?«

»Herr«, entgegnete sie, »Was ich gestern gesagt habe, glaub ichheute noch. Und wenn Sie nichts Verdächtiges vorfanden, so be-weiset dies nur, daß der Simeon ein Schlaukopf ist. Die Zeit wirdmich schon rechtfertigen. Auch will ich mich ja herzlich gern umnichts mehr bekümmern, in nichts mehr mischen, und wenn ermir meine eigenen paar Rubel wegstibizt. Nur um Schutz will ichbitten und fragen, was ich tun soll, denn er hat mir gedroht. Lie-ber will ich aus dem guten Dienste gehen, als mich seiner Bosheitaussetzen.«

»Warum machst du solche Klatschereien ohne sichern Grund?Ich kann’s ihm nicht übelnehmen, daß er sich gekränkt fühlte. ImVertrauen auf dich hab ich ihn behandelt wie einen Dieb, und erhat alles richtig nachgewiesen. Da sieh, hier liegt noch das Papier,worin er seine Dukaten aus Tilsit empfing, wie ich’s gestern inmeinem Ärger über dich in der Hand zusammenknitterte und mitmeiner Mütze aufs Kanapee warf.«

Er nahm die zu einer Kugel gedruckte Düte auf und versuchte,die ganz vernichtete Form wieder herzustellen. Dabei lösete sichein nur noch an dünnem Streifen hangendes Stückchen Papiervöllig ab und fiel zu Boden. Schloß, bemerkend, daß es beschrie-ben, griff darnach und las: »Frau Johanna Rispe, eigenhändig.«

»Das ist Simeons Zuname«, rief Dorchen, »Rispe heißt er.«»Und wer ist Frau Johanna?«»Er hat eine Anverwandte, die ihn früher manchmal besuchte.

Jetzt hat sie sich schon seit geraumer Zeit nicht bei uns blickenlassen.«

»Wohnt sie in der Stadt?«»Waih, Herr Pristaff, nein, draußen am Strande, unweit Bol-

deraa, mein ich, ein garstiges Weib.«Vorsichtig enthüllte nun der stutzig gewordene Mann die Über-

bleibsel der Düte. Dorchen hörte nur die einzelnen Worte, die ervon dem Blatte las: » . . . nicht länger warten . . . meinen Anteil . . .

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Vorläufig mindestens 60 Füchse . . . sonst mag sich Stefan hüten. . . könnt Ihr ihm sagen! . . . durch den Überbringer haben.«

»Mädchen, dein Argwohn ist doch vielleicht nicht so grundlos,wie ich wähnte. Die Luft ist nicht rein. Weißt du gewiß, daß jeneAnverwandte draußen bei der Bolderaa wohnt?«

»Gewiß; in einem kleinen hölzernen Häuschen. Die Herrschafthat davon gesprochen, wie sie vergangenes Jahr eine Fahrt nachDünamünde machten, mit dem fremden Professor, der jetzt in›Dörpt‹ lebt. Damals hat Simeon die Muhme entdeckt. Früherwußte er nichts Gewisses von ihr.«

»Die Dukaten sind also nicht aus Tilsit gekommen, und Herr Si-meon ist ein Betrüger, soviel steht fest. Was nun? Dorchen, kannstdu schweigen?«

»Waih, Herr Pristaff, ich kann alles, was Sie mir befehlen, wennSie mich nur vor dem Menschen schützen wollen.«

»So mache dich eilends nach Hause; stelle dich ganz gleichgül-tig; verrichte deine Geschäfte und weiche dem Simeon aus. Bisheute abend wird er dich nicht fressen, und dann sollst du mehrvon mir hören. Vor allen Dingen: reinen Mund!«

Eine Stunde nach diesem Zwiegespräche trabte ein Mann inalltäglicher Kleidung die Düna entlang, auf Bolderaa zu, in wel-chem wir den Beamten, den wir in Uniform zu sehen gewöhnt wa-ren, kaum erkennen würden, wenn er nicht seinen Schimmel ritte,dessen wir uns noch erinnern. Er schien unbewaffnet; doch einemaufmerksamen Beobachter würde nicht entgangen sein, daß dieAusdehnung der Taschen an seinem Oberrocke von zwei tüchti-gen Sackpistolen herrührte. Er ließ dem Pferde Zeit, trieb es nichtan; wie wenn ihm daran läge, bevor er noch sein Ziel erreichthätte, gemütlich erwogen zu haben, was zu beginnen und wel-che Handlungsweise die klügste sei. Manchmal hielt er sogar an,zaudernd und unschlüssig, ob er den breiten sandigen Fahrwegnach dem Hafenstädtchen verfolgen oder ob er sich rechts durcheinzelne, zum Teil von Wasser umstandene Dünen schlagen solle.Endlich zog er das letztere vor und ließ dem bereitwilligen Schim-mel seinen Lauf.

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Kein Zweifel, daß er die oberflächlichen Auskünfte, die Dor-chen ihm über eine unbestimmte Frau Johanna Rispe hatte ertei-len können, mittlerweile aus einem für ähnliche Zwecke unterhal-tenen Register zu vervollständigen Mittel gefunden; denn er wie-derholte sich mehrmals: »Am Strande; hölzernes Blockhäuschen;unbefugte Schenke für schlechtes Gesindel von kleinen Schiff-chen; wahrscheinlich Schmuggelei; nur durch Protektion gedul-det! Früher in Petersburg; später Wirtschaftshalterin am Hafen.«

»Ei, Frau Johanna Rispe«, setzte er dann lächelnd hinzu, »ichbin recht gespannt, Dero persönliche Bekanntschaft zu machen –und auch die Ihrer Dukaten und jener Münze, aus der sie Ihnengeliefert werden.«

Eine Wildente flog aus dem Sumpfe auf und weckte den Rei-ter aus seinen träumerischen Selbstgesprächen. Er folgte ihremFluge mit den Augen, bis sie sich, zwischen kümmerlichem Ge-strüpp hindurch, in eine kleine Bucht senkte. Dort stand ein ein-zelnes Häuschen, welches ein von morschen Schiffsplanken zu-sammengefügter Zaun notdürftig umgab. Eine Art von Schuppenoder Stallgebäude hing daran.

»Das ist’s!« sprach der Reiter und ließ den Schimmel wiederlangsamen Schritt gehen, damit sein Blick durch die Erschütte-rung nicht wankend werde. Es lag ihm daran, aus der Ferne schonscharf zu sehen.

Doch er beobachtete nicht allein; er wurde auch beobachtet. Indem Augenblicke, wo er am niedern Fenster des Blockhauses, hin-ter zurückgebogenem schmutzig-rotem Vorhange ein lauerndesWeibergesicht zu entdecken meinte, verschwand dasselbe auchschon; der umgebogene Vorhang klappte wieder zu und verbarges vollends. »Man erwartet keinen Besuch zu Pferde«, sprach erspöttisch; »aber man ist allein, wie es scheint; um so passenderfür ein zärtliches Stündchen mit Frau Rispe.«

Er schlug, nachdem er sich bedächtig aus dem Sattel gehoben,die Zügel des Rosses um denjenigen der Zaunpfähle, welcher nochder haltbarste schien, öffnete leicht das schmale Pförtchen undstand, nach vier oder fünf langen Schritten, in einem niedrigen,vom Tageslichte matt beleuchteten Zimmer, worin außer einem

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Schubkasten, einem alten Kleiderschrank, einem plumpen Tischenur etliche mit Geflechten von Roßhaaren versehene Mahagoni-stühle standen, die, wie Ruinen einer besseren Rispeschen Vorzeit,neben dem andern Geräte sich wunderlich ausnahmen. An derHinterwand erhob sich ein Himmelbett, dessen Krone am Balkender Decke schwebte und dessen Gardinen fest zugezogen waren.

Er enthüllte das verborgene Lager. Vor ihm lag, mit dicht ge-schlossenen Augen, in ihre Federkissen vergraben, eine Kranke imtiefen Schlafe. Einige Male rütteln mußte er sie, bis sie erwachte.

»He, Frau, was fehlt Euch?«»O Herr, wie kommen Sie zu mir? Was wollen Sie? Sind Sie der

Arzt?«»Vielleicht. Aber ehe ich verordne, beantwortet meine Fragen.

Wie ist Euer Name? Redet!«»Rispe, Johanna Rispe, Witwe.«»Und was treibt Ihr in dieser abgelegenen Hütte?«»Ich hielt früher einen Schank für Schiffer. Jetzt bin ich elend,

und kein Mensch mehr spricht bei mir ein.«»Wie lange liegt Ihr darnieder?«»Seit mehreren Wochen, mein gütiger Herr.«»Und wer pflegt Euch?«»Niemand; eine mitleidige Frau aus Bolderaa, einst meine

Nachbarin, kommt täglich ein- oder zweimal nach mir zu sehenund bringt mir ein bißchen Suppe.«

»Ihr verlaßt Euer Bett nicht mehr?«»Wie könnt ich? Meine Schwäche ist so groß, daß ich kein Glied

rühre.«»Ihr seid auch heute nicht auf gewesen? Habt nicht am Fenster

gestanden?«»Gott beschütze, wie lange nicht!«»Und seid ganz allein im Hause?«»Mutterseelenallein, so wahr der Herr lebt.«»So bist du eine freche Lügnerin, und hier hast du die beste

Arznei aus meiner Hand.«

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Er gab ihr eine kräftige Maulschelle, die eine merkwürdige Um-wandlung bei der Kranken bewirkte, denn sie richtete sich schrei-end auf. »Was untersteht Ihr Euch, fremder Mensch? Wer gibtEuch das Recht . . . «

»Ich bin der Pristaff Schloß«, sagte er mit Eiseskälte; »du bisteine Diebshehlerin, vielleicht noch etwas Schlimmeres. Ein Bur-sche deines Namens dient in der Stadt und hat dir geschriebenwegen seines Anteils an einem Raube, den du verbirgst. Du bistso dumm gewesen, die Dukaten, die du ihm schicktest, in seinenBrief zu hüllen. Dies Blatt ist in meiner Hand. Also weiter keineunnützen Umstände. Aufgestanden! Angekleidet bist du, denn ichhabe dich vor fünf Minuten dort am Fenster gesehen.«

Das Weib gehorchte, stumm, bleich, zitternd, aber nicht vorFurcht; vielmehr vor innerer, kaum zu beherrschender Wut. Ihregrauen Augen stierten umher und richteten sich, während sie ihreRöcke in Ordnung brachte, nach einem großen scharfen Messer,welches auf dem Tische lag.

Schloß äußerte nichts darüber. Er nahm nur ein Tuch vom ma-geren Halse des drohenden Weibes und band ihr, mit jener Ge-wandtheit, die er damals an Iwan erprobt, beide Hände in einenfesten Knoten. Sie kniff ihre Lippen zusammen, und es drangdurch ihre geschlossenen Zähne ein Seufzer, der einem furcht-baren Fluche glich.

»Jetzt, mein Weibchen«, sagte der Pristaff in fröhlichster Laune,»wo ist das Gold, wo ist das gestohlene Gut versteckt? Heraus mitder Wahrheit; ich habe nicht Lust, mich lange hier aufzuhalten,und je früher wir miteinander zum Ziele kommen, desto besserwird es für uns beide sein. Erst den Raub, dann die Namen derBeraubten, dann die Namen der Mitschuldigen, und wir könnennoch die besten Freunde werden. Also?«

Frau Rispe zuckte verächtlich die Achseln: »Ich weiß von kei-nem Raube!«

»Und was steht hier, Madame? Hier auf diesem Blatte, des-sen Adresse an Sie lautet? Nur an Sie, Allerschönste! Heißt es danicht: ›meinen Anteil‹? Anteil an was denn? Wie? An was denn,wenn nicht an einem gemeinschaftlich verübten Gaunerstreich?«

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»Ei, was! Ich frage nicht darnach, was in diesem Briefe steht.Mein Sohn hat leicht schreiben, aber . . . «

Kaum waren diese Worte, von wildestem Zorne hervorgespru-delt, über ihre Lippen, als ihr auch schon klar wurde, wie dummsie gesprochen, zu welcher Unvorsichtigkeit sie sich hatte hinrei-ßen lassen, sie, die Schlaueste der Schlauen. Im Wahne, Simeonhabe sie verraten, durch ihn sei dies Blatt dem Pristaff zugestecktworden, vergaß sie das alte Verbrechersystem, nie mehr reden, alsunumgänglich notwendig ist und, wenn es sein kann, nur mit Jaund Nein zu antworten.

»Dein Sohn?« rief Schloß in aufrichtiger Überraschung; »Sime-on dein Sohn? Das wird ja immer besser. Ei, das liebe Dorchen,welche Ehrenerklärung hat es von mir zu fordern! Dann, FrauRispe, um so schlimmer für Eure Familie, daß es dein Sohn ist,der dich verraten.« Er gebrauchte wohlberechnend diese List, weilihm das Übergewicht, welches er dadurch über die Hehlerin ge-wann, nicht entging. »Aber es ist einmal geschehen, und deshalbfrisch ans Geschäft!«

Schrank und Kasten und einige Körbe und kleine Koffer warenbald durchsucht. Nirgends bot sich dem Kenner ein Anhaltspunkt.

»Sollten wir uns hinausbegeben müssen in den durchsichtigenSchuppen? Vielleicht in den Schoß der Erde hineingraben? Daswäre nicht meine Angelegenheit. Und hier gibt es nichts mehr zu. . . halt, das Bett! Wie wär’s, wenn wir das Nest aufrührten? Obnicht der Drache auf seinen Schätzen zu brüten pflegt?«

Bei dieser Äußerung wechselte Frau Rispe die Farbe. Doch reg-te sie sich nicht und verriet durch keine Miene, was in ihr vorging.

Die große Lagerstätte, von Tannenholz gezimmert, war baldausgeräumt bis auf den Strohsack, der die Unterlage bildete undworin Schloß mit einer Fertigkeit arbeitete, die jedem Zolldie-ner an der Grenze das Lob seiner Vorgesetzten eingetragen habenwurde. Zu Füßen griff er im raschelnden Stroh auf einen Beutelvon grober Sackleinwand. Diesen zog er begierig hervor . . . Dochfand er sich anfänglich enttäuscht, denn es klang nicht, es klirrtenicht, es hatte kein Gewicht, es fühlte sich an wie Papiere.

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»Das ist wohl Euer Archiv, Eure Spitzbubenkorrespondenz?«fragte er ärgerlich und biß den Bindfaden, der darumgeschlun-gen war, mit den Zähnen entzwei. Das erste, was er herausholte,war ein zinsentragendes Staatpapier von nicht unbedeutendemWerte. Auf der Rückseite stand Muschkins, des Ermordeten, Na-me, mit russischen Lettern deutlich geschrieben.

Fast wäre der sonst so besonnene, in seinem traurigen Amte ab-gehärtete Pristaff Schloß niedergesunken, als sein Auge den Na-men Muschkin begegnete. Was er so eifrig erfaßt hatte, glitt ihmaus den Fingern, ein Schwindel befiel ihn, er mußte tief Atemschöpfen, sich zu ermannen, und gegen das Weib, welches instummer Wut auf einem zerbrochenen Stuhle saß, hingewendet,schrie er: »Ihr habt ihn umgebracht! Du und deine Bande!« Dannschlug er die Hände vor sein Gesicht und rief mehrmals: »Iwan!Iwan! Und morgen soll er . . . Gott sei gelobt, noch ist es nicht zuspät. Vorwärts, ich nehme dich mit; die Wahrheit soll dir ausge-preßt werden, und müßten wir dich unter die Ölstampfe legen,dich und deinen Simeon.«

Die Rispe stellte sich, als wolle sie gehorchen, und schickte sichan, das Zimmer zu verlassen, indem sie sich der Türe näherte.Doch war auf ihrem unheilverkündenden Gesichte ein gewisserHohn zu lesen.

»Denkst du«, sagte Schloß, »ich werde den Sack mit Dokumen-ten vergessen? Ohne Sorge, so ist’s nicht gemeint.«

Er eilte nach dem Bett, dessen Vorhänge wieder zugefallen wa-ren. Da er sie aufschlug, waren die Papiere verschwunden.

»Hier werden allerlei Künste getrieben«, sprach er gefaßt; denndie augenscheinlich drohende Gefahr gab ihm seine ganze Ruhewieder. »Auch ein bißchen Zauberei ist im Spiele, wie mir scheint.Aber ich habe zu viele Taschenspieler gesehen, um nicht zu wis-sen, was doppelte Böden sind. Heraus, Gevatter Stefan, denn duwirst’s ja wohl sein, von dem Simeon schreibt?«

Er schob, nicht ohne außerordentliche Anstrengung, die schwe-re Bettstatt von der Wand weg, machte sich eine schmale Gassebis an den Fleck, wo er die eisernen Angeln in den Fugen der

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Holzverbindung bemerkte, und trat die dünnen Bretter mit ei-nem Fußtritt entzwei, daß es krachte. In engem Verstecke zusam-mengehockt, kauerte ein Kerl, schlecht bekleidet, mit dem Aus-drucke völliger Geistlosigkeit, und lachte ihm einfältig entgegen.Den Sack mit Papieren hatte er auf den Knien liegen. Als der Pri-staff ihn beim Kragen packte und gewaltsam hervorzog, grunzteder Halbmensch zwar, doch durchaus nicht unwillig, sondern nurwie belustigt durch den mit ihm getriebenen Scherz.

Als ihn Schloß noch schüttelte und ihn nachdrücklich auffor-derte, zu erklären, wie er da hineingekommen sei und was er imSchilde führe, sagte die Rispe: »Geben Sie sich weiter keine Mühemit ihm, der kann nicht antworten, er ist taubstumm und blödsin-nig. Deshalb erwähnte ich ihn auch nicht als meinen Einwohner.Er bettelt sich herum.«

»Ich weiß nicht«, meinte der Pristaff, den breitschulterigen,derben Kerl vom Boden aufziehend und ihm in das dumme Ge-sicht starrend, »mir ist, als kennten wir uns schon. Ich müßte michsehr irren, hätten wir uns nicht vergangenen Herbst bei Fackel-schein gesehen; und wen ich einmal sah, den vergeß ich nicht soleicht. Aber damals war der gute Freund weder blödsinnig nochtaubstumm; auch verstand er sehr wohl, sich unserer Gesellschaftzu entziehen. Na, wir werden versuchen, ihm Verstand und Spra-che und Gehör wiederzugeben. Ich will ihn in die Kur nehmen,und den Anfang dieser Kur wollen wir gleich in Dünamünde aufder Wachstube versuchen, wohin ihr beide die besondere Gefäl-ligkeit haben werdet, mich und meinen Schimmel zu begleiten.«

Die Minute, welche der Pristaff der Physiognomie des Taub-stummen gewidmet, hatte Frau Rispe benützt, den Sack mit Wert-papieren unter die Federbetten zu schieben, wozu sie, da ihreHände gebunden waren, sich der Füße auf recht geschickte Wei-se bediente. Wie nun der Polizeikommissär, um seiner Bitte beimHarthörigen sichtbaren Nachdruck zu geben, eine seiner Pistolenaus der Tasche genommen und die Mündung nicht allzusanft mitdes Menschen schon etwas kahl werdendem Schädel in Berüh-rung gebracht, kehrte er sich – die Pistole immer im Anschlaghaltend – nach dem Leinwandbeutel um, den er erst suchen und

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unter den Kissen hervorziehen mußte. Dadurch entstand ein un-bewachter Moment, und ehe dieser entschwand, war der Bewoh-ner des doppelten Wandbodens auch schon aus dem Zimmer ver-schwunden. Als der Pristaff ihm nachstürzte, hatte jener bereitsden Schimmel bestiegen und das feurige Tier mit einem Messerso heftig in die Rippen gestoßen, daß es in einem gewaltigen Sat-ze davonflog. Aber zugleich knallten beide Pistolen hinter ihm her,und von einer Kugel in die Schulter getroffen, sank der Verwun-dete zu Boden. Der Schimmel kehrte zu seinem Herrn zurück.

Etliche hundert Schritte davon arbeiteten mehrere Matrosen,welche ein Ruderboot mit Teer bestrichen. Diese eilten, da sie dieSchüsse vernahmen, sogleich herbei, Hilfe zu leisten. Einer vonihnen wurde nach dem Fort entsendet, um Wachmannschaft zuholen und einen Militärarzt, der die Wunde des Ohnmächtigenuntersuchen und verbinden sollte; denn es lag dem Pristaff sehrviel daran, diesen wichtigen Teilnehmer blutiger Taten am Lebenzu erhalten. Jetzt zeigte sich’s wohl, daß dies kein Blödsinnigerwar, daß er diese Maske nur vorgenommen hatte, um sich wo-möglich unter ihrem Schutze noch einmal aus des Pristaffs Gewaltzu stehlen.

Im bewußtlosen Zustande spiegelte das menschliche Antlitz dieinnere Verfassung bisweilen am furchtbarsten ab. So war es beidiesem Stefan. Eine ganze Hölle von Frechheit, Kraft, Grausam-keit und Haß sprach aus seinen Zügen.

Die Sonde des Chirurgen brachte ihn zum Bewußtsein zurück.Er wollte mit der linken Faust nach jenem schlagen und mußte ge-waltsam festgehalten werden. In den Kleidungsstücken, die ihmdes Verbandes wegen abgestreift wurden, fand sich eine großeMasse Geldes vor; sie waren mit sorgsam eingenähten Goldmün-zen gefüttert.

Die Wunde erklärte der Arzt für bedenklich; doch meinte er,eine Woche lang könnte es dauern, bis der Tod erfolge. Vielleichtauch sei Heilung möglich.

Erst jetzt sah sich der Pristaff nach Frau Johanna Rispe um, dieer über diesen Zwischenfall vergessen.

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Sie wurde nicht gefunden, obgleich nach ihr ausgeschickte Pa-trouillen ringsumher alles durchstöberten.

Ein Kind, welches Muscheln am Strande suchte, sagte aus, eshabe eine Frau, mit gebundenen Händen, ins Wasser springen se-hen und sie sei augenblicklich untergesunken.

18. KAPITEL

Es versteht sich von selbst, daß der Generalgouverneur, aufempfangenen Bericht über die Vorgänge des Tages, den Befehlerteilte, Iwans erste Auspeitschung bis auf weiteres zu verschie-ben.

»Des Mörders Mutter« – denn so hieß sie vorläufig noch immer– zog wie verklärt durch die Gassen und lauschte auf jedes Wort,welches von Vorübergehenden gesprochen ward, ob sie ihres Soh-nes Namen höre.

»Unschuldig, unschuldig ist er«, so rief sie zuversichtlich aus,»andere haben es begangen, Iwan wird nicht geknutet!«

Stefan wurde schon nach wenigen Tagen von den Ärzten auf-gegeben. Er wäre vielleicht zu erhalten gewesen, hätte er selbstnicht alles getan, was nur in den Kräften des streng Bewachtenlag, um seine Heilung zu verhindern. Er blieb Tag wie Nacht inrasenden Ausbrüchen ungezügelter Wut und half dadurch demohnedies heftigen Wundfieber ihn völlig aufzureiben. »Sterben istdas Beste, was ich tun kann«, wiederholte er tausendmal. Als einerder Chirurgen die Besorgnis aussprach, die Wunde könne brandigwerden, lachte er höhnisch auf. »Die Knutenmeister kriegen michnicht in ihre Klauen!«

Doch am siebenten Tage ging eine große Veränderung mit ihmvor. Er zeigte Reue, verlangte nach dem Priester (er war evan-gelisch), den er bis dahin nicht hören wollte, und erklärte sich,nachdem dieser ihn verlassen, plötzlich bereit, vollständige Be-kenntnisse abzulegen, wenn man ihm ehrlich sagen wollte, wasaus Johanna Rispe geworden sei. Denn es mußte ihm allerdingsauffallen, daß man in – freilich fruchtlosen – Verhören ihm Sime-on mehrmals gegenübergestellt und nicht dessen Mutter.

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Auf die Nachricht, daß sie sich in den Strom gestürzt habe unddaß ihre Leiche gefunden worden sei, sagte er: »Nun, so habe ichkeine Ursache mehr zu schweigen.«

Er gab nun ein umständliches Bild seines an Verbrechen rei-chen Lebenslaufes, der schon seit Moskau und Petersburg mit Si-meons Mutter und deren Schicksalen eng verkettet gewesen, denwir aber füglich übergehen können, weil er uns zu weit von demHauptgegenstande unserer Geschichte ablenken würde.

Simeon hatte niemals an ihren Untaten anders teilgenommenals dadurch, daß er ihnen gute Gelegenheiten, dergleichen zu ver-üben, ausspionierte. Weil er aber mit seinem sogenannten Stief-vater wegen Teilung des Raubes schon frühzeitig in Zerwürfnisgeraten, so hatte er sich in Petersburg von ihnen getrennt undjene Reise ins Ausland angetreten, durch welche er zu Singwaldkam. Daß seine Mutter mit ihrem Zuhalter nach Riga ziehen woll-te, um dort am Hafen ihr Wesen zu treiben, davon war schon vorseiner Trennung in Petersburg gesprochen worden. Ursprünglichhatte er es auf seinen Herrn abgesehen. Doch droheten dabei all-zu gefährliche Möglichkeiten, und er wendete deshalb seine Auf-merksamkeit dem einsam lebenden Muschkin zu. Simeon war esgewesen, der alles vorbereitet, der, wenn er sich bei Iwan befand,die Fenstergitter mürbe gemacht, der ein Fläschchen mit Schwe-felsäure in des Jungen Kasten gesteckt, der Stunde und Tag sicherberechnet, der die Abdrücke der Schlüssel von Haus- und Stalltürbesorgt hatte. Den Mord gestand Stefan mit Simeons Mutter inGemeinschaft begangen und mit ihrer Beihilfe die eiserne Kassefortgeschafft zu haben. Außerdem gab er noch an, daß diese Tat indieser Gegend nicht ihre erste sei und daß man in dem Schuppenbei Johannas Blockhäuschen die Leichname zweier Schmugglereingescharrt finden werde, welche sie wegen einer Übervorteilung»im Geschäft« kaltgemacht hätten.

Simeon, der gleich, nachdem der Pristaff dem Blockhäuschenzugeritten, in Haft gebracht worden war, hatte sich so lange sei-ner Haut gut genug gewehrt und recht scharfsinnig die ihm dro-henden Spitzen der Verhöre von sich abzuwenden gewußt. VorStefans letzten, mit Todesröcheln unterbrochenen Geständnissen

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brach seine Kraft auch zusammen, und der schlaue Heuchler, desLeugnens müde, ergab sich.

Und so bewährte sich denn Iwans erste und bis zur greulichenDursttortur stets wörtlich wiederholte Aussage bis ins kleinste völ-lig wahr.

Beide, der sterbende Stefan wie der heimtückische Simeon,bestätigten, daß Muschkins Diener ohne die geringste Mitwisser-schaft ihrer Freveltat gewesen und geblieben sei.

Iwan wunderte sich wohl, daß die erste der ihm verhängtenGeißelungen so lange auf sich warten ließ. Der mürrische Schlie-ßer hatte ihm nur angedeutet, es wären neue Mitschuldige ein-gezogen worden; der ganze Prozeß finge von vorne an und werwisse, was da noch zum Vorschein käme.

Dem armen Jungen war es gleich. Seines Schicksals meinte erallzu sicher zu sein; was konnte es ihm helfen, wenn andere, viel-leicht Schuldige, auch unter den Hieben der Knute erlagen.

Eines Morgens hörte er ein ungewöhnliches Geräusch auf demsonst stillen Zellengange.

»Sie holen mich«, rief er, von der Pritsche aufspringend; »omein armes Mütterchen, Gott steh dir bei!«

An sich dachte er nicht, der brave Bursch. Doch drückte er dieAugen ein, um jene gefürchteten Büttel nicht zu sehen, die sichseiner, glaubte er, bemächtigen würden.

»Iwan, schläfst du? Stehst du träumend hier?« so redete ei-ne kräftige, wohlklingende Männerstimme ihn freundlich an. Erschlug die Augen auf, und die große, Ehrfurcht gebietende Ge-stalt des Generalgouverneurs stand vor ihm; hinter diesem derPolizeimeister und der Pristaff Schloß, auch der Ratsherr, welcherihm sein Urteil eröffnet hatte.

»Deine Leiden haben ein Ende, Iwan! Gottes Hand hat den un-gerechten Verdacht von deinem Haupte genommen und die Ver-brecher zur Rechenschaft gezogen, hier – und dort. Du bist un-schuldig erfunden. Du bist frei! Und weil du so viel gelitten hast,so komm ich selbst in deinen Kerker, um dir die Ketten abnehmenzu lassen.«

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Der Schließer, auf einen Wink Seiner Exzellenz, befreite denGefangenen von den ehernen Banden.

Pristaff Schloß trat heran, gab ihm die Hand und sprach: »Ver-wünsche mich nicht, armer Teufel. Ich hab’s dir sauer gemacht,ich weiß, doch es geschah in guter Zuversicht, daß ich die richtigeBahn verfolgte. Als ich meinen Irrtum einsah, hab ich wenigstenskeine Mühe gespart, deine Unschuld ans Licht zu stellen.«

»Und nun«, fügte der Generalgouverneur mit lauter Stimmehinzu, »betrübte Mutter, tritt heran, nur näher! Hier hast du dei-nen Sohn. Mit diesem Kuß auf seine Wange, wie wenn heute heili-ges Osterfest wäre, feiere ich seine Auferstehung aus diesem Grab.Da, nimm ihn, gläubiges Weib! Dein Vertrauen auf Gottes Gerech-tigkeit täuschte dich nicht. Liebkose deinen Sohn, umarme ihn.Und wenn du etwa wieder durch Reval kämest, so sage meinerMutter, daß eine Träne freudiger Rührung über diesen Bart rann,als ich den Geprüften seiner Mutter wiedergeben konnte. Gott mitEuch!«

Der Herr mit seinem Gefolge entfernte sich. Iwan durfte sei-ne Gefangenenkleidung ablegen und gegen sein eigenes Ge-wand vertauschen, welches der Pristaff dem Schließer zu diesemZwecke übergeben lassen. Dann gingen er und sein Mütterchenlangsam, schwankenden Schrittes, eines das andere stützend, ausden düstern Mauern der Kerkerhallen hinaus; sie, das Kruzifixan ihrem Rosenkranze küssend, dann wieder den Sohn; er, kopf-schüttelnd und noch immer zweifelnd, solange er im steinernenRaume des Gefängnisses blieb.

Erst als er draußen, außerhalb des Vorhofes, in der offenenGasse war, überkam es ihn als eine beglückende Gewißheit, undda weinte er laut und selig. Der alte Kutscher Isaak harrte seineran der Gassenecke. Kindisch in seiner Lust, trunken vor Jubel, ge-bärdete er sich, wie sich wirklich nur ein Russe mit weißem Haarin seiner Freude gebärden kann. Kaum gewann er den Ausbrü-chen dieser kindlich väterlichen Teilnahme so viel Sammlung ab,daß er seinem jungen Schützling mitteilen konnte, er habe denAuftrag, ihn samt der Mutter zu Herrn Singwald zu führen.

»Zu meiner Wohltäterin!« sprach die Mutter.

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Dorchen erwartete sie unten an der Treppe.»Waih, Lieschen, er kommt!« rief es herauf! Und. »Waih, Dor-

chen, ich bin schon da!« klang es herab. Die beiden Gegnerinnenwaren versöhnt. Lieschen hatte doch eingesehen, welchen Dienstihr Dorchen erwiesen, da sie den schlechten Menschen entlarvteund Simeons Nachfolger im Dienste schien auch sein Nachfolgerin ihrer Gunst zu werden. Sie war getröstet und konnte sich nunihrem Mitgefühl für Iwans Rettung ungestört hingeben. Sie undDorchen trugen den Abgematteten über die Stufen, mit kräftigenlettischen Armen; Isaak unterstützte die Mutter, die stark geblie-ben war, solange sie für den Sohn fürchtete; die schwach wurdeund sich kaum aufrecht halten konnte, seitdem sie ihn gerechtfer-tigt wußte.

Herr und Frau Singwald befanden sich nicht allein. All ihreTischfreunde waren um sie versammelt. Der verfolgte Sohn undseine treue Mutter wurden empfangen wie tapfere Krieger, dieaus einem langen Feldzuge heimkehren. Jeder Anwesende beei-ferte sich, ihnen Achtung zu beweisen. Einstimmig wurde eineSammlung für sie beschlossen und ausgeführt. Ein Teller ging vonHand zu Hand und war im Nu mit so reichen Gaben der Wohltä-tigkeit bedeckt, wie nur Rigas großmütigen Bewohnern eigen ist.Der Teller brach schier unter seiner schweren Last.

»Das ist für deine Mutter, Iwan«, sagte Herr Singwald; »dudarfst davon keinen Kopeken anrühren; mag sie, wenn sie will,sich damit freikaufen; mag sie in ihrer Heimat, mag sie hier, indeiner Nähe, ihre Tage beschließen; Not wird sie nicht leiden, so-lange einer von uns lebt, die wir diesem Auftritte beiwohnen. Wasdich betrifft, mein Söhnchen, du gehörst mir. Schon hab ich nachNarva geschrieben; ich handle dich deinem Herrn ab, wir wollenbald einig werden. Du bist nicht mehr Leibeigener. Aus meinemHause kam dein Unglück, in meinem Hause sollst du dein Glückfinden. Unser alter Isaak sträubt sich nicht länger; er nimmt dichauf in seinen Stall; er erzieht dich zum tüchtigen Kutscher; duwirst seine Stelle einnehmen, wenn er Ruhe braucht und Pflege.Da, nehmt jeder ein Glas, und Sie, meine Freunde, trinken Sie,meine Freunde, trinken Sie mit mir auf Iwans Wohl!«

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»Lieber Mann«, sagte die Frau Oberälteste verlegen, »möchtenwir aber nicht dem Iwan eine Perücke machen lassen? Er siehtschrecklich aus.«

»Mitnichten, meine Gute«, entgegnete er; »dieser Kahlgescho-rene Schädel, der ihn jetzt noch entstellt, ist sein Orden, seinEhrenschmuck. Laß ihn damit gehen als lebendiges Warnungs-zeichen für menschliche Gerechtigkeitspflege; und möchte dieseWarnung, diese Erinnerung in den Herzen irdischer Richter fortle-ben, auch dann noch, wenn schon wieder Nachwuchs in jugendli-cher frischer Lockenfülle das ehrliche Gesicht umgeben wird. Gottsegne dich, zwanzigjähriger Kahlkopf!«

Simeon Rispe feiert seine fünf, resp. sieben Namenstage imkühlen Klima, zwischen Tobolsk, Tomsk und Irkutsk, »wo derbiedre Zobel weilt«; hat aber bis jetzt noch keines jener geschätz-ten Tierchen zu erlegen vermocht. Sollte Lieschen den einst Ge-liebten wiedersehen, würde sie vor ihm zurückschaudern, dennStirn und Wangen, die ihr damals so unwiderstehlich schie-nen, tragen die verhängnisvollen Buchstaben: W.-O.-R.1, und diesBrandmal entstellt ihn gar sehr.

Iwan wurde bald ein tüchtiger Kutscher, von allen Leuten ge-liebt, von Lieschen gern gefüttert. Auch war er kein Kostverächter.Nur gegen gesalzenen Fisch behielt er längere Zeit hindurch einenWiderwillen.

19. KAPITEL

Ein armer Geschichtenerzähler ist eigentlich übel daran. Wasseinen Helden oder Schützlingen Übles widerfährt; alle Leiden,die sie drücken; alles Unheil, durch des Verhängnisses Willen oderauch durch eigene Schuld ihnen aufgebürdet; jede Gefahr, worinsie schweben; jede Not, die ihnen dräut: dies alles soll er desbreiteren ausführen, schildern, malen, dehnen, um die verehrli-che Lesewelt möglichst zu spannen. Denn der teure Leser und –wunderbarlich genug! – auch die schöne, zarte, huldvolle Lese-rin können nicht Jammer genug auf eines guten Menschen Hauptgehäuft sehen, sobald sie dessen Leben im Buche vor sich haben.

1Verbrecher

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Ja, die mitleidigsten Gemüter, denen in Wirklichkeit jedes Wur-mes Schmerz teilnehmende Ausrufungen entlockt, weiden sichgleichsam an den Martern ihrer romanhaften Lieblinge – voraus-gesetzt, daß jenen durch Qual und Nacht ein glücklicher Ausgangwinkt. Das wäre an und für sich vortrefflich, denn in dieser Be-reitwilligkeit, sich von ihm ein wenig torquieren zu lassen, liegtja des Autors ganze Macht, wenn er dieselbe gehörig zu benützenweiß. Aber es ist auch ein übler Umstand damit verbunden: hater seine Leute mühselig, oft in eigenem mitleidigem Erbarmen,durch dünn und dick geführt, bis zur Erlösung; kommt nun derZeitpunkt, wo er Gelegenheit hätte, das durch seine Feder sorg-lich vorbereitete, schwer verdiente Glück des Geprüften vor denAugen des Lesers zu entfalten; freut er sich selbst, der Leserinjetzt eine recht umständliche Beschreibung häuslichen Stillebens,friedlichen Daseins zu geben – da klappen beide, Leser wie Le-serin, das Buch zu, um nach einem andern zu greifen, wo dasElend von vorn beginnt. Und auf diese Weise wird der Verfas-ser um seine Ernte betrogen. Der Ruhe darf er nicht froh wer-den. Mit zufriedenen, bescheidenen, dankbaren Menschen darf ernicht weilen, denn von solchen gibt es ja nichts Außerordentlicheszu berichten. Er muß neue Opfer aufsuchen. Und ich behaupte,das ist eine traurige Bestimmung für den Erzähler, der sich nachRuhe sehnt, ohne sie jemals genießen zu können. Was würden– auch die bis hierher geneigt gebliebenen – Leser wohl sagen,wenn sie zu spüren anfingen, daß der neunzehnte und zwanzig-ste Abschnitt dieses Büchleins keinen andern Zweck verraten, alsunseres ehrlichen Iwans behagliche Existenz im SingwaldschenStalle mit sichtbarer Vorliebe für den guten Jungen an ihnen vor-überzuführen. Würden sie nicht, nachdem sie einige Seiten raschdurchblätternd überflogen hätten, gähnend ausrufen: »Gott, wielangweilig! Das Ende hätt er uns schenken können!?«

Nun, fürchten Sie nichts, Hochgeehrte! Gar so schlimm ist esnicht. Oder vielmehr nicht gar so gut. Das Schicksal mancherMenschen trägt schon Sorge, daß sie nicht auf einmal zum Zie-le gelangen, und macht ihnen den Weg dahin sauer genug. AuchIwan muß noch ein böses Stück Lebensreise durchmachen . . . und

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auf diesem wollen wir ihn weiter begleiten, wenn es Ihnen gefälligist.

Zwei Jahre beinahe verstrichen ihm freilich wie im Himmel.Herr Oberältester hielt ihn wie ein eigen Kind, und Iwan hieltwiederum des Herrn Oberältesten Pferde wie seine Kinder, undIsaak fand selten zu tadeln. Gegen diesen hörte Iwan nicht aufsich zu benehmen, als ob der alte in Ruhestand versetzte Kutschermit zur Herrschaft gehöre; wurde nicht müde, ihn seiner Dank-barkeit zu versichern, weil er ihm sein Glück verdanke. Allerdingshatte Isaak den Iwan bei Muschkin untergebracht . . . das nannteder gute Junge »sein Glück«!

Alle Leiden, die ihm aus dieser Stellung hervorgegangen, wa-ren bereits vergessen; daß aber aus ebendiesen Leiden mit derRettung auch der Übergang in Singwalds Dienst verbunden gewe-sen, das hielt er fest, voll freudiger Dankbarkeit. Wie viele hoch-gebildete, vornehme Menschen könnten lernen von diesem Sohneder Natur!

Der festlichste Tag für die Dienerschaft war Lieschens, der Kö-chin, eheliche Verbindung mit Herr Simeon Rispes Nachfolger, ei-nem schon gesetzten Manne, den Herr Oberältester sich sorgsamzum Diener auserwählt hatte, weil er die Windbeuteleien jünge-rer Burschen nun fürchtete. Die Hochzeitsfeier fand anderthalbJahre nach den Ereignissen statt, welche wir in vorigen Abschnit-ten kennenlernten. Madame Singwald freute sich herzlich, ihretreue, dicke Köchin an einen soliden Mann gebracht zu sehen,und sie wie ihr Gemahl leisteten der Verbindung den trefflichstenVorschub, indem sie gestatteten, daß die Neuvermählten – jedesauf seinem Platze – fürs erste im Dienste verblieben. Ja, es wurdesogar schon darüber beraten, wie es am zweckmäßigsten einzu-richten sei, daß kein Wechsel nötig werde, wenn vielleicht dasjunge, oder eigentlich nicht mehr junge Paar sich und die übrigenHausbewohner mit etwaiger kleiner Nachkommenschaft überra-sche. Eine Möglichkeit, welche Lieschen im vertrauten Gesprächemit Dorchen – beide hielten, seitdem Simeon nicht mehr zwischenihnen stand, recht gute Freundschaft – entschieden zurückwies.

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»Waih, Dorchen«, meinte sie, »Madame hat sich wer weiß wie lan-ge ein Kind gewünscht und ist alt geworden, ohne daß ihr Wunscherfüllt ward. Von mir wär’s unverschämt, wenn ich für mich einsverlangte. Das werd ich mich niemals unterstehen.«

Die Trauung ward in der Kronskirche durch den Herrn Oberpa-stor vollzogen, und sämtliche Singwaldschen Tischgäste stelltensich als Zeugen ein. Dorchen, die Brautjungfer, nahm sich sehrstattlich aus, weinte viel und versicherte, da man die Kirche ver-ließ, mehrere der anwesenden Herren: sie für ihre Person sei festentschlossen, niemals zu heiraten, billige jedoch die verständigeWahl, die Lieschen getroffen, indem Gabriel doch wenigstens eingesetzter Mann sei.

Die Bewirtung, welche den Hochzeitsgästen zuteil wurde, ent-sprach vollkommen dem gastlichen Hause in der gastlichsten allerStädte. Und da es um die Zeit des gefürchteten Eisganges war,wo die Düna bei hartnäckigen Nachtfrösten und widerspensti-gen Winden bisweilen garstige Sprünge macht, so erklärte HerrOberältester: »Sind wir keinen Augenblick sicher, daß Riga unterWasser gesetzt wird, will ich meine Leute fürs erste unter Weinsetzen.«

Herr von Brackel hatte sich’s nicht nehmen lassen, den Ge-fühlen der Hausfreunde poetische Worte zu leihen, und hattein einem heiteren Festliede, »gedruckt bei Wilhelm FerdinandHäcker«, die Verdienste laut und fröhlich gepriesen, welche sich»Elisabeth Gabriel« seit so vielen Jahren um Gaumen und Ma-gen der Gesellschaft erworben. Seine Verse, zwanzigmal im Cho-re wiederholt, und Singwalds Wein, der wirklich floß, als hättenso unerschöpflich der Düna Fluten ihn unter dem Eise vorgespült,versetzten alle Anwesenden in die glücklichste Stimmung, ohnedaß doch irgendein Übermut sich gezeigt hätte, ohne daß sicht-bare Räusche gefallen wären. Nur ein Opfer des schönen Tagesforderten die Mächte der Unterwelt, die uns Erd- und Staubge-borenen niemals ein ganz reines Glück vergönnen wollen. Deralte Isaak, ein völlig klarer Berechner des Verhältnisses, in wel-chem seine Fähigkeiten zur Wirkung gebrannter Wässer standen,

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verrechnete sich diesmal beim edlen Rebensafte, den er zum er-sten Male im Leben schlürfte. Sehr erstaunt, nach dem Genußverschiedener Flaschen voll guten, kräftigen Bordeaux-Weines –aus dem wohlassortierten Lager des Herrn Schweinfurt zu demverhältnismäßig geringen Preise von siebzig Kopeken die Flaschegeliefert – nichts zu empfinden, was einem reellen Effekte ähnlichgewesen wäre, wurde er irre an sich und an dem dargebotenenStoffe, verlor das Maß, mit diesem die Besinnung und vertilgteals rechtschaffener russischer Franzosenhasser so viel des feindse-ligen, flüssigen Elementes, daß er wie ein überfülltes Faß in seineKammer gewälzt werden mußte. Es war sein Tod. Ein Schlagflußendete des lustigen Greises Dasein, ehe noch der Ärzte Aderlässeihn zu retten vermochten. Iwan beweinte ihn innig; und beim Be-gräbnis des treuen Leibkutschers blieben auch seiner guten Herr-schaft Augen nicht trocken.

Der Tod ist und bleibt ein eigentümlicher Gesell. Bisweilen gehter die längste Zeit an der Menschen Wohnungen, mögen es nunHütten sein oder Paläste, wie ein Fremder vorüber; kaum, daß erflüchtig und leise anpocht! Ist ihm aber einmal geöffnet worden,hat sich eine Türe ihm aufgetan und kennt er erst des Ortes Gele-genheit, so nistet er sich gerne ein und macht sich’s bequem wiein seines Vaters Hause. Er wartet dann nicht erst, ob das Tor ihmoffenstehe. Er kriecht durchs Fenster, schlüpft durchs Schlüssel-loch. Auch bei Singwalds muß es ihm gefallen haben, denn wirfinden ihn, bald nach Isaaks Bestattung, beim Lager des Oberäl-testen sitzen, der, ohne an einer ausgesprochenen Krankheit zuleiden, seinem Hausarzte, dem geistvollen Doktor Bährens, garbedenkliche »Hms, Hms« entlockt. Es ist bei unserem alten Freun-de eine plötzliche Abnahme aller Lebenskräfte, eine Hinfälligkeitund Erschlaffung der sonst noch so rüstigen Natur eingetreten,die sich zuerst durch eine auf nichts Bestimmtes gegründete Ab-neigung kundgab, seine gewöhnliche Kartenpartie auf der »Mu-ße« zu besuchen, was begreiflicherweise großes Erstaunen erreg-te, in sowie außer dem Hause, und wozu der Arzt allen Ernstesden Kopf schüttelte. Auch die Geschäfte reizten den im Geschäftegrau – und reich – gewordenen, fleißigen Arbeiter nicht mehr; er

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überließ die wichtigsten Entschließungen seinem Buchhalter undtadelte keinen Brief mehr, weder englische noch französische, vonder Hand des jüngsten Comptoiristen geschrieben. Dazu schüttel-te der Arzt zweimal den Kopf und recht kummervoll, denn er warja des Kranken Freund. Das dritte Symptom aber mußte wohl je-den erschrecken, der es irgend gut mit Singwalds meinte; dennder Oberälteste widersetzte sich der vom Arzte diesmal dreifachanempfohlenen Sommerreise in die böhmischen Bäder ganz ent-schieden und erklärte – allerdings nicht in Gegenwart seiner Gat-tin – , keine Macht der Erde bringe ihn dieses Jahr in die Reise-kutsche und er wolle in Riga – bleiben!

Die durch einen Gedankenstrich hier so matt bezeichnete Pau-se machte in Wahrheit tiefsten Eindruck auf die zufällig Anwesen-den, unter welche auch Dorchen gehörte; weshalb diese treu erge-bene, wennschon mitunter etwas mürrische Dienerin zu ElisabethGabriel, der Köchin, äußerte: »Waih, unser Herr gefällt mir nicht;mir könnt es schon recht sein, daß nicht ins Bad gereiset wird, unddir auch, Lieschen – seit der Brautjungfernschaft nannten sie sichdu – , weil dein Mann zu Hause bleibt, und die Schüttelei auf derChaussee ist kein Pläsier. Aber ein trauriges Anzeichen ist es; unddu sollst sehen: wir begraben ihn, ehe das Jahr um ist.« Lieschenfand diese traurige Voraussetzung hauptsächlich darum begrün-det, weil dem Herrn, wie sie klagte, jetzt nichts mehr schmeckteund sie, trotz aller Mühe, ihm keines der früheren Lieblingsge-richte mehr zu Danke bereiten könne. Dieser Mangel an Eßlustnahm wirklich mit jedem Tag zu und schlug den Mut des Arz-tes völlig nieder, da er kein Mittel ausfindig machte, die immermehr schwindenden Kräfte wieder herzustellen. Auf die ängstli-chen Fragen der Madame Singwald, ob denn Gefahr drohe, lau-tete die Antwort stets: »Wenn Herr Oberältester nur erst wiedereinmal Verlangen nach irgendeiner Speise zeigten!«

Doch dieses Verlangen zeigte sich nicht, um die unentbehrlich-ste Nahrung mußte, wie bittere Arznei, ihm aufgedrungen wer-den, wobei der vermagernde Kranke so langsam hinsiechte unddie Kunst des Arztes, der dabei verzweifeln wollte, zuschandenmachte.

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Auf diese betrübte Weise verging der Sommer, den LieschensHochzeit fröhlich verkündet, doch Isaaks Tod düster begonnenhatte. Über dem Singwaldschen Hause hing ein schwerer, schwar-zer Flor, von den Händen der vertrautesten Freunde manchmalnur auf ein Viertelstündchen gelüftet, um dann desto tiefer undschwerer herabzusinken und jede Spur von Fröhlichkeit zu ver-hüllen.

Der Trübsinn herrschte vor, bis in den Stall hinab. Iwan bliebzwar der einzige, der nach wie vor tätig sein durfte für den gelieb-ten Herrn, denn er wurde täglich spazierengefahren. Doch welcheFahrten waren das! Nicht in der offenen kleinen Droschke, in wel-cher sonst Madame Singwald neben ihrem Gatten auf schmalemSitze kaum Platz fand und, zur Hälfte im Freien schwebend, sichdennoch an den Sprüngen der muntern Rosse zu ergötzen pflegte;nicht in jenem leichten, obgleich ein wenig hart stoßenden, aberdarum die Verdauung des wohlgenährten Ehepaares befördern-den Gefährte: nein, in einem großen, breiten Glaswagen, dessenFenster auch beim wärmsten Wetter geschlossen wurden, damitden verdrossenen, verzagten Leidenden nur ja kein Lüftchen be-rühre. Langsam, wie hinter einer Leiche! Iwan behauptete, nichter allein, auch die Pferde hegten finstere Ahnungen und härmtensich stillschweigend, weil sie im voraus empfänden, daß sie baldwirklich einer Leiche folgen müßten.

»Und dann werden wir verkauft«, setzte er hinzu, »und wiewird’s uns dann ergehen, den Pferden und mir?« Wenn Dorchenund Lieschen, einstimmend zwar in die herzliche Betrübnis überSingwalds wahrscheinliches Ende, doch wieder Trost schöpftenaus der Zuversicht, Madame werde, als alleinige Erbin, das gan-ze Hauswesen gewiß auf dem bisherigen Fuße belassen und inihrer Witwenschaft nichts ändern und umstoßen von allem, wasihr Herr Oberältester und wie er es hinterlassen – dann erwiderteIwan mit dem Instinkte des Naturkindes: »Mütterchen nicht langebleibt lebendig, wann ist gestorben Papinka.«

Der kurze Sommer schlich langsam dahin, weil er freudlos war.Der Übergang in den Winter geschah diesmal rascher denn je, undmit ihm verschlimmerte sich des Kranken Zustand. Der Hausarzt

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zog den Senior der Fakultät, den vielerfahrenen Doktor Wilpert,zu Rate, und dieser stimmte ein in das Geständnis seines jüngerenFreundes, daß hier die Wissenschaft ratlos dastehe vor einem all-mählich verlöschenden Lebensfeuer, dessen Glut kaum noch glim-me. Auch er fand des Patienten Widerwillen gegen leibliche Nah-rung für das schwierigste Hindernis, der ablaufenden Maschinestärkend beizukommen, und erklärte sämtliche Roborantia1 ausder lateinischen Küche für ungeeignet, die mangelnde Kräftigungdurch einfache Speisen aus Lieschens Küche zu ersetzen. »Wennunser Freund Oberältester nur wieder einmal rechtschaffenen Ap-petit auf ein gutes Gericht bekäme«, äußerte der greise Sohn desÄskulap orakelhaft, »dann stände es gleich anders.«

Aber es kam der Winter mit seinem wolligsten Schneegesäu-sel und hüllte die Fluren in ihr weißestes Gewand, ohne daß mitihm die Lust der Geselligkeit, die ganz Riga erfüllte, zurückge-kehrt wäre in das Haus, worin sie so lange heimisch gewesen.Täglich wurde es stiller und einsamer um die beiden alten Leu-te. Auch die nächsten Freunde blieben endlich aus, weil sie sicheingestehen mußten, daß ihre Gegenwart nur beitrug, des Kran-ken schlimme Laune zu verschlimmern. Die Schneedecke nann-te er seufzend sein Leichentuch, ohne Rücksicht zu nehmen aufden Schmerz, den er durch diesen Ausdruck der treuen Gefährtineiner langen glücklichen Ehe bereitete. Diese trug mit wahrhaftweiblicher Würde und fester äußerlicher Haltung ihren heißenGram, der eben darum desto schärfer nach innen bohrte und ihrliebevolles Herz anfraß. Bald schwankte sie selbst wie eine Ster-bende umher, nur noch aufrecht gehalten von der Möglichkeit, eskönne ja doch vielleicht die Stunde schlagen, wo ihr Gemahl, nacheiner Speise verlangend, sich dem irdischen Leben noch einmalzuwenden werde. »Hör ich das«, sagte sie seufzend zu Dorchen,»dann bin ich gleich wieder auf den Beinen!« Ja, dieser Wunschwurde bei ihr zur fixen Idee; sie redete mit allen Dienstboten da-von; sogar Iwan mußte sich von der wichtigen Bedeutung eines sofernen Hoffnungsschimmers vorerzählen lassen und ward so leb-haft ergriffen, daß er den Vorschlag machte: »Mütterchen solle es

1Kräftigende Mittel.

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doch mit einer großen Schüssel Sauerkraut versuchen – verstehtsich, nicht zu scharf gesalzen. Dem vermöge kein Sterblicher zuwiderstehen«, meinte er aus seinem russischen Magen heraus.

Unter Ängsten und Qualen einer edlen weiblichen Seele – umso quälender, weil sie durch unbestimmte Hoffnung stündlich neuangeregt und aufgereizt wurden – rückte endlich der Weihnachts-abend heran. Scharenweise drängten sich jung und alt durch engeGassen, das heilige Fest der Gaben und Geschenke freudig vorzu-bereiten; ein Fest, für welches alljährlich Madame Singwald imVorteil ihrer Hausbewohner unermüdlich tätig gewesen. Heutesaß sie regungslos, ohne Teilnahme an fremder Freude, vor desGatten Ruhebett. Was den Leuten gebührte, war ihnen in baremGelde gespendet worden; zwar freigebiger wie sonst – aber dochminder beglückend, denn es fehlte ja die Überraschung durchbunte, für jeden einzelnen ausgewählte Geschenke, das Grün derBäume, der Glanz der Lichter, welcher sonst den Abend in hel-len Tag verwandelt hatte. Farblos, ohne erhellende Aussicht fürdie Dunkelstunde, ohne fieberhaft ungeduldige Erwartung verstri-chen die Stunden wie gewöhnliche, graue Wochenstunden denSingwaldschen Dienstleuten: sie hatten ihre Silberrubel in denTaschen und freuten sich derselben wenig oder gar nicht. Also,an ihres kranken Gatten Ruhebett saß die – vielleicht kränkere –Frau und bemühte sich in rührender Aufopferung, ihn durch al-lerlei gleichgültiges Geschwätz zu zerstreuen, wie schwer es ihrauch wurde, von etwas anderem zu reden, als wovon ihr Busenvoll war. Auch vom heutigen Tage redet sie und von der Feierdesselben bei sämtlichen Nachbarn, wo schon hier und da durchfestverklebte mit grünem Moose, farbigen Winterblumen und ro-ten Waldbeeren geschmückte Doppelfenster die Kerzen der Weih-nachtsbäume zu schimmern begannen.

»Es ist wunderlich«, hub Herr Singwald an; »mich überkommtin diesen Augenblicken ein Gefühl, wie ich es lange nicht gehabt;eine förmliche Sehnsucht nach der Kinderzeit; so wehmütig, sotraurig, und doch so süß. Ich denke an mein altes, frommes, ehr-würdiges Lübeck, meine unvergeßliche Vaterstadt; an die ehrli-chen, bürgerlich beschränkten Eltern; an die schmalen Gassen,

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die hohen Wälle mit schönen Bäumen, die feierliche Stadtkirchemit ihrem geheimnisvollen, winkeligen Platze und kleinen Plätz-chen. Da trieb ich mich vor sechzig Jahren umher, ein munte-rer Junge, und wußte von keiner Welt darüber hinaus. Das warso hübsch. Und da war auch einmal heiliger Weihnachtsabend;der letzte, den meine gute Mutter mit uns verlebte, mit mir undmeinem seligen Bruder. Den ganzen Tag über hatten wir gefastet,wie es Christen aus der alten Zeit geziemte, und waren schreck-lich hungrig geworden; nicht ohne Murren, worüber Vater schalt.Doch Mutter vertröstete uns auf den Abend, wo sie uns leckerfüttern wollte. O ich weiß es noch wie heute; eine Taubensuppesetzte sie uns vor. Das Geflügel schwamm in einer klaren kräfti-gen Brühe, da sie die volle tiefe Schüssel auf den Tisch stellte. Esschmeckt mir jetzt noch, wenn ich daran gedenke. Ich weiß nicht,was ich drum gäbe, hätte ich eine Schüssel solcher Taubenbrü-he zur Stunde vor mir. Ein förmlicher Heißhunger überfällt michdanach. Wie kann ein alter, todkranker Mensch so kindisch sein!«

Die würdige Matrone wollte laut aufjauchzen. Doch sie über-legte sogleich, daß der Ausbruch ihres Jubels den argwöhnischen,auf jede Silbe lauernden Patienten beunruhigen könne. Deshalbbeherrschte sie sich, ging scheinbar ruhig aus dem Zimmer, eiltedann der Küche zu und rief nur, in aufwallendem Danke gegenGott: »Oh, Heiliger Abend!« Dann riß die heftig die Küchentüreauf. »Lieschen, mache fort; schaffe Tauben; sogleich; so rasch wiemöglich!«

»Waih, Madame, Tauben? Wozu Tauben?« fragte Elisabeth Ga-briel hocherstaunt.

»Zu einer Suppe für den Herrn, Lieschen, er verlangt darnach;frage nicht lange und mache dich auf den Weg. Wir wollen demHimmel danken für dies Zeichen der Genesung!«

Lieschen stand sprachlos mit offenem Munde. Sie konnte diesBegehren nicht fassen und wußte noch weniger, wie es sich erfül-len ließe.

Bekanntlich gilt innerhalb Rußlands Grenzen die Taube für einheiliges Tier; sie zu beschädigen für einen Frevel wider die Drei-einigkeit. Auf allen Plätzen der Städte erblickt man diese Vögel

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in Massen; sie werden teils auf öffentliche Kosten gehegt und ge-pflegt, teils von einzelnen gefuttert. Deutsche Einwohner, die dar-nach lüstern sind, mögen wohl hin und wieder Tauben verzehren,doch müssen sie es heimlich tun und werden deshalb von denEingebornen Barbaren geschimpft. Auf dem Markte dürfte diesesGeflügel niemals feilgeboten werden. Man begreift folglich Lies-chens Schreck, weil durch den Befehl der Herrin ihr etwas gleich-sam Unmögliches zugemutet wurde. Wer würde ihr, noch dazuam Weihnachtsabend, Tauben verkaufen? Wo sollte sie derglei-chen aufsuchen? Sie stand ratlos, und ihr stummes Widerstrebenvermehrte natürlich die Ungeduld der sonst so geduldigen undfreundlichen Madame Singwald.

»Mögen sie kosten, was sie wollen, Lieschen; ich muß Taubenhaben!«

»Nicht für hundert Rubel Silber weiß ich eine einzige aufzutrei-ben, Madame!« rief Lieschen, als sie die Sprache wiedergefunden.

In diesem Augenblicke, wo fast ein Zank zwischen Herrin undDienerin ausgebrochen wäre – im Singwaldschen Hause unerhörtund nie erlebt – , erschien wie gerufen Iwan. Er vernahm nurLieschens Weigerung, die er vollkommen begriff, und vernahmnur der Gebieterin Wunsch, durch eine Taube oder durch meh-rere den kranken Herrn genesen zu machen; was er zwar nichtbegriff, jedoch darum gerade desto gläubiger auffaßte. Für ihnknüpften sich an die Heiligkeit der Taube vielerlei dunkle Mög-lichkeiten. Daß hier von weiter nichts die Rede sei als von ei-ner ganz gewöhnlichen Suppenbrühe, konnte ihm ebensowenigin den Sinn kommen wie daß man ihm, dem rechtgläubigen Iwan,zumuten werde, die gefiederten Symbole des Höchsten und Un-begreiflichsten für die Küche zu liefern. Er sah und hörte nichtsals die drohenden Bitten der Frau, die ängstliche und heftige Wei-gerung der Köchin; dachte nichts als die Rettung des guten Herrndurch ein Wunder! Und dies vollbringen zu helfen, erklärte ersich bereit, sollte er auch vielleicht den Hals dabei brechen. Dennseitdem es Winter geworden, hatten einige von den in der Stadtfrei herumfliegenden Tauben – wahrscheinlich junge von vergan-genem Sommer, die in der überfüllten elterlichen Heimat keinen

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Raum mehr gefunden – sich auf dem Oberboden des Hauses, dichtam Rauchfang, ein Zufluchtsplätzchen gesucht, so sie die Nächteim Warmen zubrachten. Iwan kletterte ohne Bedenken im Sparr-werk des spitzen Giebeldaches hinaus, was bei hereingebroche-ner Dunkelheit nicht eben vergnüglich war, und zeigte sich so ge-schickt, zwei bereits in schuldlosen Traum versunkene Vögel zuerwischen, die er, nicht ohne ihnen vorher schmeichelnde Küsseund tausend verkleinernde Liebesbeinamen zu geben, unverletztin die Küche trug, woselbst der Streit zwischen Frau und Köchinnoch fortdauerte. Lieschen, die schon in Tränen schwamm überdie ihr gemachten Vorwürfe, befand sich in einer für ihre gewöhn-liche Sanftmut ganz außerordentlichen Aufregung; ja, soweit esbei ihr nur möglich, schien sie voll Zorn zu sein. Es hatte sie zuhart getroffen, aus dem Munde ihrer »Madame« vernehmen zumüssen: mit ihrer gepriesenen Anhänglichkeit für ihre Herrschaftkönnte es nur schwach bestellt sein, weil sie zu bequem wäre, ihreWeihnachtsabendruhe zu opfern und einige Gänge in die Vorstadtzu wagen, um herbeizuschaffen, wovon vielleicht Leben und Ge-sundheit des Hausherrn abhänge.

Diese schreckliche Anklage ließ sich nicht verwinden. ElisabethGabriel war in ein Schluchzen verfallen, als ob es ihr das ehrli-che Herz abstoßen wollte; Worte zu ihrer Rechtfertigung fand sieschon gar nicht; rang nur vergeblich nach Luft . . . da hielt ihrIwan die zappelnden Tiere hin. Und sie beglückt, einen Gegen-stand zu finden, woran unmächtige Wut auszulassen war, packtemit zitternden Händen die wehrlosen Geschöpfe, denen sie imNu beiden die Köpfe abriß, daß sich die Rümpfe blutend am Bo-den wanden. Iwan dies erblicken, sich im furchtbarsten Schauderdie Augen verhüllen und in einen entsetzlichen russischen Fluchüber die Untat ausbrechen, war eins. »Nun muß Väterchen ster-ben, nun sind wir alle unglücklich!« schrie er und verließ den Ortder Entweihung.

Madame Singwald achtete nicht auf ihn; sie eilte nur, der Kö-chin Hilfe zu leisten. Im Nu waren die Vögel durch heißes Wasser

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gezogen, gerupft, gesäubert, in der glänzendverzinnten Kochpfan-ne beigesetzt, und Herrin wie Magd bewachten die Glut mit glü-henden Augen, die Zeit heranbetend, bis die Suppe gar, das zarteFleisch genießbar sei! Sie versöhnten sich während dieser Fristdurch stumme, vielberedte Zeichen, durch Blicke, durch einenHändedruck. Sie glichen zwei Schwestern, die für den teuren Va-ter sorgen. Sie fühlten sich durchdrungen von der Wichtigkeit ih-rer Beschäftigung. Lieschen dankte Gott im stillen, daß er sie ge-würdiget habe, sie eine Köchin werden zu lassen!

Unterdessen meldeten sich abwechselnd Gabriel und Dorchen,im Namen des Kranken nachzufragen, »ob seine Taubensuppenicht bald fertig sei«. Durch alle Räume des Hauses war die fro-he Kunde gedrungen. Die Comptoiristen standen im Vorflur, desErfolges zu harren. Der Hausknecht hatte sich in den Torweg ge-pflanzt, jedem Vorübergehenden zu melden: »Herr Oberältesterhabe seinen Appetit wieder.« Nur Iwan saß niedergeschlagen imStalle, seine Heiligen um Hilfe anflehend und um Verzeihung.

Niemand dachte daran, den Arzt in Kenntnis setzen zu lassen.Doch erreichte ihn bald die Nachricht des unerwarteten Ereignis-ses durch Fremde, die ihrerseits wieder von Hausfreunden davonunterrichtet worden. Aufopfernd wie es in seiner Weise lag, ver-ließ er die Seinigen mitten im Jubel ihres Festabends und begabsich zu seinem rätselhaften Patienten.

Er kam eben zurecht, da der Zug aus der Küche sich mit derwohlgeratenen Speise in Bewegung setzte, und schloß sich ihman. Madame Singwald bemerkte kaum die Gegenwart des würdi-gen Freundes, völlig umnebelt von zuversichtlicher Hoffnung undErwartung, wie sie war.

»Endlich!« seufzte der Kranke, als ihm der tiefe Teller voll duf-tig dampfender Brühe dargereicht wurde. Mit bebender Hand er-griff er den Löffel, führte ihn nach Lippen . . . doch kaum hattendiese den Rand des Silbers berührt, als er die begehrte Labungvon sich stieß, den Löffel hinwarf und mit Ekel sagte: »Pfui, dasist nicht meine Weihnachtssuppe aus der Kindheit; das schmecktnach Blut! Was habt ihr mir da gekocht!?«

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Dann lehnte er matt sein Haupt zurück und flüsterte klagend:»Es war eine Täuschung! Mit mir ist es aus!« Sogleich aber, sichwieder ein wenig aufrichtend und zum Arzte, der ihn teilnehmendbetrachtete, gewendet, rief er laut: »Nicht nach mir, Doktor, umGottes willen, sehen Sie nach ihr!«

Denn die getreue Hausfrau und Pflegerin, nachdem sie so lan-ge mit jener, nur weiblicher Heldenkraft möglichen Ausdauer demnagenden Seelenkummer Trotz geboten, vermochte jetzt, wo sieallzufrüh täuschender Hoffnung Raum gegeben, den Folgen einesheftigen Rückfalls in die traurigste Wirklichkeit nicht mehr Wider-stand zu leisten.

Des Gatten bedeutungsschweres Wort: »Mit mir ist es aus!« hat-te sie darniedergeworfen, und sie lag bewußtlos, kränker als die-ser – das entging dem scharfen Auge des erfahrenen Arztes nicht– , dem Kranken gegenüber.

»Schlagt ihr Sterbebette in meinem Zimmer auf«, sagte Sing-wald, fast heiter; »laßt sie bei mir; wir wollen zusammen enden;es wird uns beiden leichter werden. Der Himmel hat es gut mituns vor; er will uns nicht trennen, auch auf kurze Stunden nicht,weil wir so lange friedlich miteinander gelebt.«

Am letzten Tage des Jahres waren die Gassen mit grünen Tan-nenzweigen bestreut, von Singwalds gastlichem Hause bis zur Kir-che; und die halbe Stadt folgte zwei Leichen mit ungeheuchelterTrauer.

Die Freunde aber sagten: »Es ist ihnen wohlgeschehen, daß einGrab beide Gatten umschließt; ihr Angedenken bleibe in Ehren,und ihres Namens Gedächtnis lebe unter uns fort, solange wirleben!«

20. KAPITEL

Der verstorbene Oberälteste hatte kurz vor Beginn der Krank-heit einen letzten Willen aufgesetzt und gerichtlich deponiert,vermöge dessen er seine teure Lebensgefährtin – Blutsverwandtelebten ihm nicht – zur unumschränkten Erbin einer Hinterlassen-schaft ernannte, die er größtenteils an ihrer Seite und im Wirken

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mit ihr erworben; wobei er ihr anheimstellte, alle, die ihm ge-dient, reichlich zu bedenken. Er durfte sich überzeugt halten, daßdies in seinem Sinne und großmütiger Weise geschehen werden,ohne daß er nötig habe, nähere Bestimmungen darüber zu treffen.Nun aber hatte der Tod, in einer der ihm eigentümlichen höh-nischen Neckereien gegen menschliche Wünsche, Absichten undPläne, die Angelegenheiten gänzlich verwirrt. Die Universalerbinstarb – wenn auch nur wenige Stunden – vor dem Testator, unddie beabsichtigten Legate zerfielen dadurch in nichts. WeitläufigeVerwandte der Frau Singwald, teils in Westfalen, teils in Hollandlebend, von dem Tode der ihnen kaum den Namen nach Bekann-ten in Kenntnis gesetzt, erwählten Rechtsfreunde zur Wahrneh-mung ihrer Ansprüche; das Singwaldsche Haus wurde, samt allemdazugehörigen Nachlaß, unter Band und Siegel gelegt, damit dergerichtliche Schlendrian seinen althergebrachten Schneckengangkrieche – die livländischen Schnecken bewegen sich, nach demZeugnisse namhafter Zoologen, nicht rascher als andere in Europa– , und die Dienerschaft, unbelohnt für Treue und Anhänglichkeit,zerstreute sich, anderweitige Unterkommen zu suchen.

Der Betrübteste, der Niedergeschlagenste war unser Iwan. Zudem Schmerz über den Verlust wahrhaft und kindlich geliebterWohltäter gesellte sich bei ihm noch der abergläubische, durchkeinen Vernunftgrund auszurottende Wahn: er habe durch sei-nen an heiligen Tieren begangenen Frevel die Strafe des Himmelsüber das ganze Haus herabgerufen; denn, meinte er: »Lieschenhätte unmöglich den Tauben die Köpfe abreißen können, wenner nicht aus nur ihm bekanntem Zufluchtsorte die frommen Vö-gel herabgeholt und dem grausamen Tode überliefert hätte.« DerAufenthalt in dieser Stadt ward ihm durch solche Gewissensbisseverleidet. In jeder Taube, die er fliegen sah, erblickte er einen Bru-der, eine Schwester der Gemordeten: in allen seine Ankläger. Gernwäre er nach der kältern Heimat zurückgekehrt, trotz dem schonerfolgten Ableben seiner Mutter, hätte ihn nicht sein Kutscher-herz an die Pferde gefesselt, die, nach Isaaks Austritt aus dieserZeitlichkeit, an die Stelle der früheren, untauglich gewordenen

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angekauft worden, die er, Iwan, eingefahren und mit denen er so-zusagen in Fleisch und Blut verwachsen war. Auch sie mußten ja,als zur Erbschaftsmasse gehörig, »zu Gelde gemacht werden«, under lauerte nur darauf, ob sich nicht vielleicht ein Käufer fände, dersich mit ihnen von Riga entfernen und ihn mit in den Kauf neh-men wolle. Es traf sich so glücklich, daß diese beiden Wünschein Erfüllung gingen. Ein aus Moskau und Petersburg angelangterWeinreisender, welcher »in Rheinwein und Champagner machte«,beabsichtigte, eine kleine Geschäftsreise bis nach Warschau zu un-ternehmen und sich zu dieser, weil unterwegs an bequemer Beför-derung häufig Mangel, mit eigenem Fuhrwerk auszurüsten. Ihmgefielen die tüchtigen Rosse und deren blauäugiger, melancholi-scher Lenker. Zu mäßigem Preise erstand er die ersteren auf derLizitation1 und wurde mit letzterem bald einig. Iwan verließ dieStadt, »wo er so viel gelitten«, freilich gern; doch als er ihren Mau-ern den Rücken kehrte, gedachte er nur des Guten, welches guteMenschen ihm erwiesen, und flehete Gottes Segen herab über dieedlen Bewohner von Riga.

Wir haben es nur noch mit seinem Lebenslaufe zu tun und ver-säumen folglich am Schlusse unserer einfachen Erzählung keineZeit, denselben möglichst schnell zum Ende, oder vielmehr zumersehnten Ziele, zu führen. Deshalb halten wir uns unterwegsnicht auf und begleiten den Weinkaufmann und dessen Kutschernur flüchtig über Wilna, Grodno, Bialystok – an welchen Ortenüberall »gute Geschäfte gemacht« und mehr Bouteillen »echtenChampagners« bestellt worden, als die ganze Champagne (die»lausige« mit eingerechnet) in guten Jahren erzeugt – bis nachWarschau, allwo er sich vor Kundschaften gar keinen Rat wuß-te und eine Ernte um die andere losschlug von Weinhügeln, dieniemals existierten und erst auf neue vulkanische Umwälzungenharren, um sich aus dem Kalkboden zu erheben. Doch das istden Käufern ziemlich gleichviel, wofern nur sämtliche Korkstöpselmit der gehörig eingebrannten »Firma« versehen sind und tüchtigknallen. Mundus vult decipi, ergo . . . 2

1Versteigerung.2(lat.) Die Welt will betrogen sein, also . . .

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Wenn der Brotherr gute Geschäfte macht und nicht gerade einKnauser ist, was Weinreiter selten sind, so geht es auch dem Die-ner gut; es heißt dann: leben und leben lassen. Iwan hatte sichüber nichts zu beschweren, zeigte in allem den besten Willen undfand sich auch in und um Warschau trotz aller Irrfahrten, die dazu machen waren, sehr bald zurecht. Eines Tages, bei schreck-lichem Wetter, wo die abgelegeneren Gassen der ausgedehntenStadt verödet schienen, kamen sie, sein Herr und er, in der of-fenen Droschke den menschenleeren Weg einhergefahren, beidenicht sehr geneigt, sich länger als durchaus notwendig im Frei-en aufzuhalten, und eilten aus der Vorstadt ihrem Gasthause zu.So weit ihr Auge durch den Regenschnee reichte, erblickten sienur einen Menschen sich bewegen, der ihnen entgegenkam undeigensinnigerweise die Mitte der breiten, schlecht gepflastertenGasse behaupten zu wollen schien. In einem alten grauen Manteleingehüllt, das Gesicht im heraufgeschlagenen Kragen versteckt,sah er nichts Besonderem ähnlich, und Iwans Kutscherehre fandsich schon im voraus beleidigt bei dem Gedanken, es sei möglich,daß dieser Fußgänger den kühnen Anspruch hege, ein Fuhrwerksolle ihm ausweichen. Mit jedem Schritte vorwärts steigerte sichdieser Argwohn und bestärkte Iwans Entschluß, solch unerhörterForderung nicht nachzugeben. Schon waren sie dicht voreinander,da rief der Weinhändler mit ängstlichem Tone: »Um Gottes willen,biege aus; es ist der Oberpolizeimeister!« Doch schon war es zuspät: ein Rad hatte bereits den Mantel des Generals ergriffen undder Träger desselben sich nur dadurch auf den Füßen erhalten,daß er ihn fahren ließ wie weiland Josef bei der Frau Staatsmini-sterin von Potiphar. Iwan sprang vom Bocke herab und warf sichdem Wütenden zu Füßen, während sein Herr, unbekümmert umdes Unglücklichen Schicksal und nur sich selbst bedenkend, dieZügel ergriff und davonjagte.

»Winowat, Winowat!«1 wiederholte Iwan, der in der tiefstenKotlache, dicht bei einem zerbrochenen Bretterzaune, vor demGeneral auf den Knien lag. Dieser jedoch hörte nicht auf sein Fle-hen; er zog den Säbel und führte damit einen heftigen Hieb nach

1Ich bin schuldig, ich flehe um Gnade!

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dem Frevler, der sich unterfangen hatte, ihn nicht zu kennen; ihn,welchen ganz Warschau kannte. Die Schärfe des Säbels pfiff durchdie Luft, Iwan duckte sich vor dem schneidenden Tone, zog sichtiefer an den morschen Plankensaum zurück und fand Zeit, durcheine Öffnung gänzlich zu verschwinden, indes der vor Zorn schäu-mende Offizier sich vergeblich bemühete, die tief ins weiche Holzgedrungene Waffe wieder frei zu machen. Als es ihm endlich ge-lang, war auch schon sein Zorn verraucht. General Abramowitschgalt für einen Beamten von unerbittlicher Härte und soll dies ge-wesen sein in allen Fällen, wo politische Färbung vorherrschte.Sonst aber ist er, wie man ihm nachrühmt, nur jähzornig, niemalsrachesüchtig gewesen. Er lachte über seine eigenen Anstrengun-gen, den Stahl aus der Wunde zu bringen, die er dem alten Brettegehauen, klaubte seinen in den Schmutz gewühlten Mantel ruhigvom Boden auf, ging pfeifend seines Pfades weiter – Gott mag wis-sen, welchen wichtigen, entscheidungsvollen Gang! – und dachtenicht mehr daran, den armen »Iswoschik«1 verfolgen zu lassen.

Hätte dieser von so großmütiger Verzeihung die leiseste Ah-nung gehabt, er würde nicht so furchtbar ausgerissen sein. Lief erdoch wie damals, da er vom Schimmel des Pristaffs gejagt durchSchnee und Wald floh. Nur daß hier Gärten, Zäune, Mauern, Häu-ser der Flucht sehr bald ein Ziel setzten! Erschöpft und trostlos fieler in die Hütte eines Juden, die neben und an den Hintergebäudeneines herrschaftlichen Palastes hing, wie ein von Lehm und Stra-ßenkot geknetetes Schwalbennest am Fenstersimse eines Marmor-saales. Die Familie war auf Schacher aus, nur der alte Vater hütetedaheim; ein schöner Greis, ruhig, ernst, lebensklug, gleich vielenpolnischen Juden in reiferen Jahren. Er ließ sich, als der Flücht-ling erst wieder zu Atem gekommen war, das Ereignis erzählen,wiegte langsam das weise Haupt und sprach: »Mächtig schlimm;Ihr seid ein Mensch, ein verlorener; Gott soll schützen!«

»Werd ich totgeschlagen?« fragte, schon in sein Schicksal erge-ben, der sanfte Iwan.

1Fuhrmann, Kutscher.

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»Sie werden nicht schlagen tot einen jungen starken Kerl, waskann werden gebraucht an’n Kaukasus! Sie schicken Euch hin an’nKaukasus; weiter nichts!«

»Und bin ich nicht zu retten?« fragte Iwan weiter.»Ist er verrückt in seinem Kopfe? Will er sein gerettet und ist

ein armer Bursche? Gott soll schützen! Gerettet werden könnennur die Reichen!«

»Ganz arm bin ich nicht«, erwiderte Iwan; hörst du, Väterchen,in diesem Ledersäckel klingt es . . . «

»Das sind Dukaten; den Klang erkenn ich! Bist du ein Räuber?Hast du gemordet?« Und der alte Jude wendete sich mit unver-kennbarem Entsetzen von Iwan ab.

Dieser, tiefergriffen durch eine solche Mahnung an sein frühe-res Schicksal, fühlte das unabweisliche Bedürfnis, sich vor demGreise zu rechtfertigen. Er erzählte demselben, was wir wissen,und schloß den Bericht mit genauen Berechnungen, wie er aufdie tadelloseste Art zu seinem kleinen goldenen Schatze gekom-men sei.

Befriedigt lauschte der Jude: »Wenn es sich verhält, wie dusprichst – und ich glaube deinen Worten – , so kann dir werdengeholfen, als du willst setzen daran dein Gold und setzen Zutrau-en in mich. Wieviel hast du Dukaten? Gib her, ich muß zählen dieDukaten.«

Es fanden sich einige über ein Viertelhundert.»Es ist nicht viel, aber es muß ausreichen. Hör zu, was kann

geschehen für dich. Wir können dich schaffen über die Grenze.Ausgeliefert wirst du nicht, wenn du bist nur ein Deserteur undnicht wirst verfolgt als Verbrecher. Ob du kannst erwerben drü-ben dein Brot, ist deine Sache. Besser schmecken tut es gewiß alsam Kaukasus. Besinn dich nicht lange; was soll geschehen, mußgeschehen bald. Glaubst du, ich will dich betrügen, dann sack eindein Gold und verlasse mein Häuschen.«

Statt aller Antwort schob Iwan die Dukaten hin. Dann rief eraus: »Lieber will ich betteln im fremden Lande als an den Kauka-sus gehen.«

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Sobald der Jude die Goldstücke eingestrichen, belebte sich seinAntlitz, und er ging rasch ans Werk. Binnen weniger Minuten warIwan in einen schmucken polnischen Juden umgewandelt; vomrussischen Kutscher blieb keine Spur. Dann wurde er unterrich-tet, wie er sich bei möglichen Gefahren zu benehmen habe. Wäh-rend dieses Unterrichts kehrten zwei Söhne des Juden heim. Mitdiesen pflog der Vater Rat; beide zeigten sich eifrig und anstel-lig; der Greis segnete sie mit dem Segen Abrahams. Kaum brachdie Nacht herein, als sich Iwan, in Gesellschaft der zwei Män-ner, auf der Landstraße nach Plock befand. Wie er, von Fleckenzu Flecken, von Dorf zu Dorf, immer neuen Führern anvertraut,diese Stadt glücklich umging; wie er unangefochten über Kalischhinaus kam; wie er endlich, einer eingeschmuggelten Ware gleich,bei Nacht und Nebel endlich über die Grenze geliefert wurde, oh-ne daß einer der hundert Schritte davon biwakierenden Kosakensein Pferd in Bewegung setzte . . . das gehört unter die unerforsch-ten Geheimnisse löblicher Judenschaft, welche überhaupt das Un-mögliche möglich macht, und gewiß zu den billigsten Preisen.

Das Wetter war schön, der Himmel rein, April hatte sich ausge-tobt, der Mai sang in den Wäldern. Iwan fühlte sich frei, sicher vorder Knute, sicher vor dem Kaukasus! Aber was nun? Ohne einenPfennig in der Tasche, im zerlumpten Gewande eines polnischenBetteljuden stand er da, mitten im Grünen; ärmer als die Finken,die auf den Bäumen schmetterten, verlassener als sie, die schonihre Nester gebaut. Er lieh willig sein Ohr den Liebesliedern derkleinen bunten Sänger, und es wurde ihm weich ums Herz. Er liefins neue Land hinein, bis er nicht mehr laufen konnte vor Durstund Hunger. Er benagte mühsam das harte Stückchen Schwarz-brot, welches ihm der letzte seiner Führer noch zugesteckt, undmußte bei dieser mageren Nahrung unwillkürlich an – Lieschendenken, an all die fetten Bissen, die sie ihm vorgesetzt, und über-haupt an alles Gute, was ihm zuteil geworden im SingwaldschenHause. Und da weinte er recht herzhaft in den maigrünen Früh-ling hinein, doch wahrlich nicht bloß aus Hunger, sondern auchaus aufrichtiger Dankbarkeit; weinte um sein Mütterlein, um sei-nen alten Lehrer Isaak, um die beste Herrschaft und endlich dann

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auch um sich selbst, der da als Judenjunge im preußischen Waldstand, ohne zu wissen, wie er sich aus einer dunklen Larve wiederin einen rechtgläubigen christlichen Russen entpuppen und wie esihm überhaupt ergehen werde. Ein fernes Rollen, welches dochnicht wie himmlischer Donner klang, vielmehr ziemlich hölzernund irdisch rumpelte, nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch,bis er endlich die Überzeugung gewann, daß es Kegel sein müß-ten, die von einer Kugel zu Boden geworfen würden; und dadurchgelangte er zu dem sicheren Schlusse, dieser Wald berge in seinemSchatten irgendein kühles Plätzchen, wo Menschen zu fröhlichemSpiele versammelt wären. Geschehen mußte es nun doch einmal,daß er sein Glück bei Fremden als Fremder versuchte, und dafolgte er also in Gottes Namen dem Schalle des friedlichen Kugel-spieles.

Ein dickbäuchiger Spießbürger aus dem nahgelegenen Städt-chen hatte eben geschoben und stand, durch des Kegeljungenheitern Ruf: »Acht um den König!« in heitre Stimmung versetzt,siegreich da. Jetzt gewahrte dieser hinter dem halboffenen Ku-gelfange den unerwarteten Ankömmling und rief staunend: »Wo,Teufel, kommt die Vogelscheuche her?«

Die Bezeichnung war treffend. Iwan im polnischen Judenkittelhätte, in die Schoten gestellt, seine Wirkung nicht verfehlen kön-nen auf alles, was Sperling heißt. Bei näherer Betrachtung zeigtesich der ehrsamen Kegelgesellschaft nun wohl die Wahrheit, undder Überläufer wurde sehr bald für das erkannt, was er wirklichsein wollte und was zu jener Zeit, wo noch kein Kartell wegenAuslieferung zwischen beiden Reichen erneuert worden, zu denAlltäglichkeiten gehörte. Glücklicherweise hatte Iwan unter demverschlissenen Kittel seine Kutscherkleidung behalten können. Dieersehnte Häutung durfte also vor sich gehen, und es schlüpfte ausder Puppe des Juden ein ganz leidlicher, wenn auch nicht mehr imfrischesten Farbenstaub prangender nordischer Falter hervor, demsämtliche Stammgäste der Bierkneipe zur »Alten Kiefer« mit ge-füllten Gläsern gastlich entgegentreten; den sie, als er sein letztesAbenteuer in schlechtem Deutsch, doch mit dem Akzent der Wahr-heit verkündete, jubelnd über die wunderbar gelungene Flucht

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beglückwünschten. Die Teilnahme für ihn, der mit gerührtem undrührendem Erstaunen seine treuherzigen blauen Augen auf sowohlwollende »Prussaki« richtete – er hatte sie sich als halbe Men-schenfresser vorgestellt! – , ging ins Unglaubliche; denn man ließdie Kegel unangefochten, hörte nur auf den Russen, und sogar derKegeljunge machte auf der Wand der langen Bahn einen kühnenRitt, der ihn bis in den Bereich Iwanscher Rede trug. Es wäre al-les ganz vortrefflich gegangen; auch an einstweiliger Unterkunftwürde es dem Flüchtling nicht gemangelt haben, da sich mehrereKleinbürger ihn bei sich aufzunehmen erboten und sich förmlichum ihn stritten, wenn nicht mitten unter diese gastfreundlicheStreitigkeiten das Gesetz in Gestalt eines Gendarmen auf gewal-tigem Pferde geritten wäre. Bär, einer der Kreisgendarmen beimlandrätlichen Amte, ein gedienter, graubärtiger, mit dem Ehren-kreuz geschmückter, von tiefer Stirnnarbe gezierter Reitersmann,der seinem Namen wenig Ehre machte, denn er brummte nur undtrug ein weiches Herz unter seinem Orden, fand sich, heute nichtgern gesehen wie sonst immer, bei der »Alten Kiefer« ein und er-klärte feierlich, daß er vor allen Dingen diesen ungebetenen Gastnach der Kreisstadt zu geleiten habe.

Alsobald entstand allgemeiner Widerspruch: »Nein, Bruder-herz«, hieß es, »nicht zum Sekretär; der kennt nichts als seineVorschriften und macht keine Ausnahmen. Für diesen unglückli-chen Jungen aber gehört sich’s, eine Ausnahme zu machen. Da-zu ist unser Landrat nötig. Der wird schon etwas ausfinden, wasdem gelbhaarigen Russen zugute kommt, und wird Erbarmen ha-ben mit ihm, ohne daß es in der Gesetzsammlung vorgeschriebensteht.«

»Himmelsackerment«, brummte der Bär in seinem tiefstenGrundbaß, »wißt ihr nicht, daß der gestrenge Herr Landrat aufvier Wochen Urlaub genommen und sich von allen Amtgeschäf-ten entbunden haben, um sich ein bißchen zu erholen und oben-ein die Reparatur an ihrem Wohnhause in Schmollwitz gehörig zubeaufsichtigen? Soll ich ihm etwa seine Ruhe stören und ihn mit

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einer so kitzligen Geschichte belästigen? ›Bär‹, würde er mich an-schnauzen, ›Sie sind verrückt! Lassen Sie mich ungeschoren.‹ Ichhör ihn schon!«

»Zugegeben«, sagte der Dicke, der vorhin »acht um den König«geschoben, »zugegeben, daß er dich anschnauzt. Aber das kommthäufig vor, und du bist niemals zu faul, ihn wieder anzuschnau-zen. Das weiß der ganze Kreis. Zwei Eiserne Kreuze nehmen sichso was gegeneinander heraus und bleiben doch gute Freunde. EinEhrenmann wie unser Landrat hört zuletzt doch auf einen Ehren-mann wie Bruder Bär. Stell ihm die Sache vor, laß den Russen sei-ne Geschichte erzählen, und wenn dir’s am Ende aller Enden derbrave Herr nicht dank weiß und wenn er für diesen Iwan nichtSorge trägt, so will ich die Kegelkugel hier verschlucken wie eineversilberte Pille, ohne einmal kalt nachzutrinken.«

»Tu’s, Bruder Bär«, schrie die Versammlung; »steige wieder aufdein Dromedar, lasse den Russen als Affen neben dir laufen undvermeide unserm Landrat, die Kegelstammgesellschaft von der›Alten Kiefer‹ rechne auf seine Großmut und werde seine Gesund-heit ausbringen.«

Iwan begriff genau, um was es sich handle. Er sprach nichtdarein; er begnügte sich, den Gendarmen fragend anzusehen.

»Verfluchter Bengel«, murrte dieser, »soll ich seinetwegen einenUmweg von zwei Meilen reiten?«

»Aber bedenke, Bruder Bär«, fuhr der Dicke fort, »daß der un-glückliche Junge noch schlimmer dran ist, der von Warschau herhat laufen und jetzt noch neben dir wird herlaufen müssen.«

»Ich wollte, ich könnte laufen; das wär mir eine Erholung; mankriegt das ewige Reiten satt«, sagte Bär; »und nun vorwärts, De-serteur, sonst wird’s Nacht!« Dabei nahm er den Zügel des Pferdesan den Arm und winkte seinem Arrestanten, ihm zu folgen. Die-ser empfahl sich dankend den Kegelschiebern und gehorchte vollVertrauen in die Gutmütigkeit des Gendarmen.

Sie kamen glücklich vor Sonnenuntergang in Schmollwitz an.Es ist sogar behauptet worden, der bewaffnete Diener der Gerech-tigkeit habe den ermüdeten Iwan einige Strecken reiten lassen;

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doch da ihn das in Verdrüßlichkeiten mit seinem Brigadier ver-wickeln konnte, will ich es als ein unbegründetes Gerücht fallen-lassen. In den Schmollwitzer Herrenhof zogen sie ein, wie sichgebührt: der Reiter zu Rosse, der Ausreißer zu Fuße. Der Landratvon P. stand im Gespräche mit seinem Zimmermeister, welcher ge-rade Feierabend gemacht hatte. Wie er die Ankömmlinge sah, riefder Landrat ärgerlich: »Bär, sind Sie denn rein des Henkers? Wis-sen Sie denn nicht, daß ich vom Dienste dispensiert, daß ich aufUrlaub bin? Wollen Sie mir denn durchaus keine Ruhe gönnen?«

»Siehst du«, sprach Bär, indem er Iwan am Ohrläppchen zupf-te, »daß ich deinetwegen angeschnauzt werde? Jetzt sperre deinMaul auf und beiße dich selbst heraus, wenn du kannst.«

Iwan zeigte keine Furcht. Er begegnete dem strengen Blickedes Landrates mit offenem, festem Auge; denn in jenem Blicke lagso viel Edelmut, daß ein Naturkind ihn ahnen mußte. Er brachtesein Gesuch um Schutz deutlich genug vor und genügte dem anihn gerichteten Befehle, frei und ehrlich zu sein, zwar ein wenigradbrecherisch, was den Sprachbau betraf, aber doch vollkommenverständlich. Der Landrat gab sich keine Mühe, um zu verbergen,wie sehr des Erzählers Lebenslauf ihn ergreife; die Zimmerleute,ihren Meister voran, schlossen einen Halbkreis und regten sichnicht; droben, aus den Fenstern ihres jungfräulichen Stübchens,lehnte des Herren Tochter, Auguste, ihr wohlwollendes Antlitzund begleitete jede Wendung in Iwans Geschick mit ängstlichemoder freudigem Lächeln.

»Was meinst du, Gustchen, zu dem Burschen?« fragte der Vaterhinauf, als jener geendigt hatte und mit seiner Biographie bis inden Wirtschaftshof des Herrn Landrats von P. in Schmollwitz ge-raten war, welchen letzteren er kurzweg »den Oberpolizeimeistervon Preußen« titulierte, worüber die Zimmergesellen in lautes Ge-lächter ausbrachen und sogar Bär sich den grauen Schnurrbartstreichen mußte, um ein respektwidriges Grinsen zu verbergen.

»Was ich meine? Daß mein Vater sich des Menschen annehmenwird!«

»Kind«, erwiderte Herr von P., »was in aller Welt sollen wir mitihm anfangen?«

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Der Zimmermeister trat vor: »Gestrenger Landrat, wenn derKerl sonst Lust hat – stark ist er und geschickt scheint er auchzu sein . . . und wenn der gnädige Herr nichts dagegen hätten,oder die Regierung, ich möchte ihn schon als Burschen nehmen,auf meinen Zimmerplatz, und wohnen kann er bei mir auch; aufdas bissel Kost kommt es gleichfalls nicht an. Vielleicht machenwir einen tüchtigen Gesellen aus ihm. Es wär doch schade um dasjunge Blut, wenn es sollte eingesperrt werden und unter unsernSpitzbuben verderben oder gar zurückgeliefert über die Grenze. . . «

»Davon ist keine Rede, Meister Lahr; davon kann keine Redesein. Der Mensch gefällt mir; ich glaube an alles, was er uns er-zählte, wie abenteuerlich es klingen mag. Jedes Wort trug denStempel der Wahrheit. Von Ausliefern ist keine Rede. Doch dasübrige darf ich nicht allein bestimmen, muß mir erst Verhaltens-regeln einholen. Habe schon wegen anderer Flüchtlinge Verdrüß-lichkeiten gehabt. Fürs erste nehmt ihn mit Euch, wenn Ihr sogütig für ihn gesinnt seid. Das übrige wird sich finden.«

Gendarm Bär beurlaubte sich, und der Landrat dankte ihmfreundlich, daß er, dem Verbote zuwider, dennoch in Schmollwitzeingedrungen sei.

Die Zimmergesellen nahmen Iwan in ihre Mitte und sprachenihm tröstend zu, indem sie den Hof verließen.

Auguste aber schmeichelte dem geliebten Vater, dessen Lieb-ling sie war, und flüsterte: »Morgen fährt mein guter Papa nachder Hauptstadt, nicht wahr? Ich habe notwendigerweise einigeEinkäufe zu machen; unterdessen ich diese besorge, wartet meinVater beim Herrn Oberpräsidenten auf, setzt ihm diesen Fall aus-einander, bringt alles ins reine, und wenn wir nach Schmollwitzheimkehren, darf ich dem Zimmermeister Lahr die Bewilligungbringen, daß der arme Russe in seinem Hause bleibt! Nicht wahr,mein Vater?«

»Du bist nun schon einmal der gute Engel für alle, die in dei-ne Nähe kommen«, sagte der Vater und umschlang zärtlich seineTochter. »Es geschehe, wie du verlangst, Auguste!«

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Der Sommer war kaum vergangen, da galt »der Russe« – denndiesen Beinamen behielt er im Dorfe wie in der Umgegend rings-herum – für einen der tüchtigsten Arbeiter auf Meister Lahrs Bau-plätzen. Fleißiger, unverdrossener, geschickter, anstelliger hatteman niemals einen Lehrling gesehen; er beschämte manchen Ge-sellen, und seine Kühnheit flößte um so mehr Bewunderung ein,als sie mit seinem mädchenhaften Wesen im Widerspruche zu ste-hen schien. Alle Leute hatten ihn gern, beschenkten, bewirtetenihn, als ob die »Prussaki« sich verabredet hätten, ihm darzutun,was Gastrecht bei ihnen bedeute; und die Gesellen, seine zwei-undzwanzig Jahre, seine Lebenserfahrung anerkennend, behan-delten ihn gar nicht wie einen Lehrjungen, vielmehr wie ihres-gleichen. Meister Lahr unterließ an keinem Abende, wenn Iwanauf sein Bodenkämmerchen schlafen gegangen war, zur Frau undzur Tochter zu äußern: »Nicht einen Augenblick tu ich’s bereuen,daß ich den Russen ins Haus nahm.« – »Ich hab auch nichts ge-gen ihn« versicherte dann die Frau. »Und ich erst gar nicht!« setzteSusanne, die Tochter, hinzu.

Gab es im Herrenhause etwas zu zimmern, zu hämmern, zuflicken, zu basteln, war im Kuhstalle eine Latte anzuschlagen, eineRaufe herzustellen, ein Brett zu doppeln . . . gewiß schickte Fräu-lein Auguste nach dem Russen, damit ihm ein kleines Trinkgeldzugewendet werde. Und mit wahrer Seelenfreude hörte sie ihmdann zu, wenn er bei seiner Arbeit von Susannen redete und imlustigen Kauderwelsch, von lettischen und russischen Hilfswör-tern wimmelnd, offenbarte, wie warm er Lahrs Tochter liebe –ohne zu ahnen, daß er dies tat.

Auch der Landrat wechselte gern ein Wort mit ihm und ließmanche gütige Verheißung laut werden, welche andeutete, daß esnur von seinem ferneren Betragen abhänge, sich hier eine sichereZukunft zu gründen.

Die Leinernte war heuer überraschend reichlich ausgefallenund hatte ausnahmsweise einen so großen Körnerertrag beimAusdreschen gegeben, daß der Landrat Überfluß besaß und einigeTonnen Samen zu verkaufen beabsichtigte. Um so mehr, da er, als

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umsichtiger Landwirt, die ganze Leinkultur wie eine umfangsrei-cheren Besitzungen nicht entsprechende (weil sie zu viele Händebei Behandlung des Flachses braucht) aufzugeben entschlossenwar und sich dafür dem in Mode kommenden Rips zuwendenwollte. Der Samen war sorgfältig gereiniget in vorhandene Fäs-ser gefüllt, und diese warteten nur auf die Hand des Böttichers,um geschlossen, mit noch einigen starken Reifen versehen, demKäufer nach der Hauptstadt geliefert zu werden. Da sich jedochkein Binder am Orte befand und die Verschickung eilte, so sollteder Zimmermann aushelfen, und natürlich ließ Fräulein Augusteden Russen herbeirufen, daß er sich auch hier als fingerfertigerTausendkünstler bewähre. Iwan stellte sich ohne Säumen ein undging lustig ans Werk. Der Landrat, mit dem gerechten Stolze desLandmannes, der die Produkte seiner Fluren liebt, ließ die glatten,vollen Körner, unter denen auch nicht ein Stäubchen Spreu oderUnkrautsamen sichtbar wurde, noch einmal durch seine Fingergleiten, ehe das letzte Tönnchen verschlagen wurde. Dann sagteer zu Iwan: ›Jetzt den Deckel darauf, mein Junge!«

Nach getaner Arbeit klopfte er ihm auf die Schulter, schenkteihm einige Groschen und entließ ihn huldreicher als je.

Desto auffälliger erschien es Augusten, daß beim Abendessen,wie das Gespräch auf den Russen kam, der Vater nur kalt undeinsilbig darauf einging und es sogleich wieder fallenließ. Dochsie war schon daran gewöhnt, den durch sein Amt Vielgeplagtenbisweilen verdrüßlich zu sehen, und dann schwieg sie, wie einevernünftige Tochter.

Als aber späterhin im Laufe des Winters jedesmal, wenn zufäl-lig Iwans Name genannt wurde, der Landrat ein finsteres Gesichtzeigte und einige Male ungeduldig ausrief: »Verschone mich mitdeinem Russen!«, da wurde es der Engelguten doch bedenklich,und sie wagte einen Sturm auf des Vaters Herz, damit sie heraus-bringe, was gegen ihren Schützling darin stecke. Und da ergabsich denn folgendes, was wir aus des Landrates eigenem Mundevernehmen wollen, wenn wir ihn sprechend einführen.

»Sieh, liebes Kind, die Russen stehen allgemein in dem Rufe,daß ihnen, was mein und dein gilt, nicht recht zu trauen sei, und

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ich selbst habe noch aus den Kriegsjahren manche unangenehmeErinnerung daran bewahrt. Diese bemühete ich mich zu verges-sen, als ich deinem Wunsche und deiner Bitte gemäß für Iwantätig war. Ich hielt den Burschen wirklich für dankbar und treu;darum kränkt es mich jetzt doppelt, mich auch in ihm getäuschtzu haben. Er ist ein Dieb und hat mich auf sehr empfindliche Wei-se bestohlen. Wär es Geld oder irgendein zu ersetzender Gegen-stand, den er mir genommen, so wollt ich gar nicht davon reden.Doch er entwendete mir den Ring, den deine selige Mutter trugund den ich ihr vom Finger zog, ehe die begraben wurde; eineneinfachen goldenen Reif mit einem großen Diamanten, wie duweißt. Ich legte diesen, als wir beide mit dem Iwan auf der Tennestanden, wie ich in dem Leinsamen wühlen und mich von des-sen Reinheit überzeugen wollte, ehe die Fässer geschlossen wur-den, auf einen Balken und vergaß, ihn gleich wieder anzustecken.Kaum war der Bursche fort, so fiel es mir ein; ich ging zurück,noch hatte außer ihm und uns niemand sonst die Scheune betre-ten – der Ring war verschwunden. Wär es ein Hiesiger, der dieunverschämte Tat verübte, ich würde sogleich Anstalten getrof-fen und das Kleinod gewiß noch zu rechter Zeit gefunden haben.Bei ihm aber, wo auch der leiseste Argwohn, nur angedeutet, sei-ne ganze Existenz zerstören muß, machte ich mir ein Gewissendaraus – und schwieg. Ich will auch schweigen, bis er sich – unddas wird, fürchte ich, nicht ausbleiben – eines zweiten Diebstahlsschuldig macht. Ein Herz kann ich natürlich nicht mehr zu ihmhaben; das wirst du begreiflich finden.«

Auguste erwiderte traurig: »Bist du auch gewiß, Vater, daß dudich nicht etwa irrst? Mir ist so, und ich wollte darauf schwören,ich hätte, als du zum letzten Male durch die Leinsaat fuhrst, denStein an deiner Hand zwischen den Körnern blicken sehen.«

Der Landrat sagte nur: »Desto besser, mein gutes Kind. Wohlihm, wenn er unschuldig wäre; doch mein Vertrauen hat er nuneinmal verloren.’

Und dabei blieb es. Ohne daß der Vater, noch weniger die Toch-ter, irgendeinem menschlichen Wesen auch nur eine Silbe diesesVerdachtes mitteilten, schwebte derselbe dennoch wie eine graue

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Nebelwolke über Iwans Haupte. Seine Hausgenossen, seine Ar-beitsgenossen, das ganze Dorf, alle, die ihn kannten, fühlten, daßes nicht mehr mit ihm stand wie sonst. Niemand vermochte sichRechenschaft von diesem Wechsel zu geben; er selbst am wenig-sten, den er am schmerzlichsten traf, den er tief darniederdrück-te. Es gab Stunden, wo er sich wieder im Kerker zu Riga wähnte;Träume, wo er vor Durst verschmachten glaubte! Und wußte dochnicht warum!

Susanne Lahr, des Zimmermeisters hübsches Kind, war die ein-zige, die sich gegen ihn durchaus nicht veränderte; deren lieben-des Vertrauen nicht beunruhigt wurde von der bangen Schwüleum ihn her. Sie glich in ihrer Art Othellos Desdemona und derRusse in seiner Art dem Mohren von Venedig – versteht sich: oh-ne Anlagen zur Eifersucht. Sie ließ sich zum neunundneunzigstenMale die Geschichte seiner Leiden vorerzählen und wurde nichtsatt, zum hundertsten Male darum zu bitten. Sie liebte ihn, weiler Gefahr bestanden, er liebte sie um ihres Mitleids willen – undwohl auch nebenbei, weil sie ein allerliebstes, reinliches, munte-res Suschen war.

Ihr Anblick blieb ihm Licht, blieb ihm Sonne im Dunkel seinerneuen Prüfung.

Und es ward wiederum Sommer – Iwan trat in sein vierund-zwanzigstes Lebensjahr, aber auch der Sommer brachte diesmalnichts Gutes. Ein regnichter, naßkalter Sommer. Die Saaten ersof-fen, die Ernten mißrieten. Auch in Schmollwitz. Alle Landwirtein der Umgegend klagten; nur Augustens Vater nicht. »Es müssenauch schlechte Jahre kommen!« sagte dieser gefaßt. Auguste hat-te diese Fassung nicht. Sie jammerte laut, daß auch ihre Leinwirt-schaft zugrunde gegangen sei. Denn ihrer Obhut waren die so-genannten »Deputatbeete« anvertraut, auf denen das Hofgesindesamt allen alten Witwen und Auszüglerinnen die Leibwäsche unddas Bettzeug künftiger Jahre pflegen, jäten, erziehen, raufen, dör-ren, dann in Flachs verwandeln, zu Garn spinnen, zu Leinwandverweben sollten und welche deshalb von der großen, durch denRips veranlaßten ökonomischen Umwälzung unberührt gebliebenwaren. Auch diese Ernte war gänzlich zu Wasser geworden, und

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so erbärmlich stand es damit, daß nicht einmal die fürs nächsteJahr nötige Aussaat erschwungen werden konnte. Da blieb denndem Landrat nichts übrig, als ein Tönnchen Leinsamen zu ver-schreiben, was ihm lächerlich vorkam, weil er im vorigen Jahrseinen Überfluß als unnütz verkauft hatte. Doch, wie er sich inalles zu finden verstand, erwiderte er Augustens Klagen mit demTrostspruche: »Die Handelsleute wollen auch leben!« und bestell-te bei einem für diese Artikel bestens berufenen Kaufmann in derHauptstadt eine Tonne echter rigaischer Leinsaat, welche bekannt-lich für die vorzüglichste gilt. Die Ankunft derselben wurde sei-tens des Kaufmannes spätestens bis Neujahr verheißen, und sietraf pünktlich ein; seltsam genug an demselben Tage, wo der Zim-merlehrbursche, dessen Schicksale in Riga uns beschäftigst ha-ben, zum Gesellen gemacht und freigesprochen wurde. Es warfür unsern Iwan kein Festtag, denn er verstrich unter dem düsternSchatten herrschaftlicher, wenn auch nicht ausgesprochener, dochallgemein geahnter Ungunst. Meister Lahr, seines lieben SuschensEmpfindungen im väterlichen Herzen nachempfindend, faßte denEntschluß, zum Landrate zu gehen und dreist von der Leber wegmit ihm zu sprechen: Iwan habe im verflossenen Sommer seinVierundzwanzigstes zurückgelegt, sei zu ihrer Kirche übergetre-ten, sei nun frei, ein tüchtiger Geselle; nichts Böses könne ihmnachgesagt werden; Suschen hänge an ihm, er an ihr . . . und wasdenn der gnädige Landrat wider ihn habe, daß er ihn ungnädigansehe und aus seiner Huld verstoße?

Nach langem Zögern fiel zuletzt doch das Wort der harten An-klage, wodurch Meister Lahr sehr betrübt wurde und sich schwei-gend zurückzog. Der redliche Arbeitsmann glaubte nicht an desRussen Schuld. Aber ihm stellte sich auch kein Mittel dar, denBeschuldigten zu reinigen; mindestens nicht in den Augen desje-nigen, ohne welchen an eine mit so vielen Schwierigkeiten ver-bundene Bewilligung zur Verheiratung des nur aus Nachsicht ge-duldeten Überläufers durchaus nicht zu hoffen war. Er empfahlden Liebenden Geduld – schwieg – und grämte sich mit ihnen.

Und es kam abermals ein Frühling.

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Die Lerchen stiegen singend empor und ermahnten den Land-mann, seine Sommersaaten zu bestellen. Auguste betrieb eifrigdie Bearbeitung der ihrer Obhut anvertrauten Leinbeete. Wie ineinem sorgfältig gepflegten Garten, so wohlbestellt durch Pflugund Egge, prangten die schmalen langstreifigen Deputatäcker.Dem Vogt in eigener Person wurde der »echte rigaische Leinsa-men« zur Aussaat überantwortet.

An einem schönen Tage ging der geübte Sämann zum Werke.Heimkehrende Strichvögel begleiteten sein Tun mit fröhlichen,Glück und Gedeihen versprechenden Liedern. Doch der Beete wa-ren viele, und des Vogts sichere Hand durfte nicht ruhen, solltevor Einbruch des Abends das letzte Körnchen in den Boden gelan-gen, grüner Auferstehung entgegenzuschlummern.

Die Zimmergesellen kehrten vom Bauplatze heim, wo sie imnächsten Dorfe gearbeitet hatten. Iwan schlich mit gesenktemHaupte hinter ihnen her, ohne um sich zu schauen; denn sie zo-gen beim Hofe vorüber, und der Landrat mit Augusten stand amoffenen Einfahrtstore, neben ihnen der Vogt. Iwan machte langeSchritte; im Schutze der Dämmerung hoffte er unbemerkt vor-überzukommen. Da hörte er sich angerufen. Es war des Gutsherrnkräftige, gebietende Stimme, die ihm näher zu treten befahl, under mußte gehorchen. Schon von weitem streckte ihm der Landratdie Hand entgegen: »Hieher, mein Junge, zu mir heran, daß ichdich rechtfertige, daß ich dir eine Ehrenerklärung gebe, daß ichdich vor meinen Leuten um Verzeihung bitte. Diesen Ring habeich vermißt, seitdem du auf der Tenne jene Fässer mit Leinsamenzur Verschickung fertig gemacht. Dich habe ich für den Dieb ge-halten. Meiner Tochter Einwendungen ließ ich nicht gelten, woll-te ihr nicht glauben, daß sie den Stein schon wieder an meinemFinger blitzen gesehen, als ich zum letzten Male mit der Hand inden Körnern wühlte. Unter diesem ungerechten Verdachte hastdu gelitten, ohne Schuld, ohne zu wissen wofür. Der Himmel istmit dir, Iwan. Mein Vogt fand in seiner Schürze, als er die letztenWürfe bei der Aussaat tun wollte, diesen Zeugen deiner Schuld-losigkeit. Nicht aus Riga ist die Sendung gekommen; der Kauf-mann hat mich betrogen; meiner eigenen Felder Ernte hat man

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mir als fremde wiederverkauft. Doch diese kleine Täuschung seigesegnet, wie tief sie mich auch beschämt. Sie gibt dir deine Ehrezurück; sie legt mir die heilige Verpflichtung auf, dir ein Vater zuwerden; für dich zu sorgen wie für einen Sohn. Wer keine Wunderglaubt, der vernehme diese merkwürdige Begebenheit und lernein dem, was er Zufall nennen wollte, ewige Fügungen verehren.Gehe, Iwan, gehe zu deinem Meister; sage ihm, was geschehen;stecke diesen Ring – meine unvergeßliche Gattin trug ihn – an Su-schens Hand, feiert eure Verlobung – und Auguste, meine Tochter,wird eure Brautjungfer sein.«

Am ersten Sonntage im Februar wurden aufgeboten als christ-lich Versprochene, so gesonnen sind in den Stand der heiligenEhe zu treten: »Iwan Riga, wohlehrsamer Zimmergeselle dahier,mit tugendbelobter Jungfrau Susanne Lahr, des wohlehrsamenZimmermeisters Lahr einziger Tochter. Gott gebe ihnen seinen Se-gen!«

Der Landrat und Auguste sagten: »Amen!« Und die ganze Ge-meinde stimmte voll Rührung ein.

Und sie sind glücklich.


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