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Mondstrahlen des Mahāmudrā · Mahamudra als Unterweisungstradition ist der Versuch, einen...

Date post: 18-Sep-2019
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Mondstrahlen des Mahāmudrā von Dakpo Tashi Namgyal Kurs 4 Abschrift der Unterweisungen von Lama Tilmann (Lhündrup) Ekayāna-Institut, Lenzkirch 11. bis 19. August 2018
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Page 1: Mondstrahlen des Mahāmudrā · Mahamudra als Unterweisungstradition ist der Versuch, einen möglichst direkten Weg aufzuzeigen. Und Und wenn der direkte Weg des sofortigen Loslassens

Mondstrahlen

des Mahāmudrā

von

Dakpo Tashi Namgyal

Kurs 4

Abschrift der Unterweisungen von

Lama Tilmann (Lhündrup)

Ekayāna-Institut, Lenzkirch

11. bis 19. August 2018

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.2

Inhalt Einleitung ................................................................................................................................... 5 Vorbereitungen zur stufenweisen Meditation des Mahamudra .................................................. 6

Allgemeine Unterweisungen zu den Stufen des Weges ........................................................ 6 Einen Lehrer, eine Lehrerin finden ................................................................................... 7 Feines unterscheidendes Verständnis entwickeln ............................................................. 9

Meditation ............................................................................................................. 12 Der schrittweise Weg ...................................................................................................... 13 Erstens: Reinigung .......................................................................................................... 13

Zweitens: Die zehn heilsamen Handlungen .................................................................... 14 Drittens: Die verschiedenen Sichtweisen ....................................................................... 15 Viertens: Die Tantra-Klassen .......................................................................................... 15

Vorbereitungen in der Kagyü-Mahāmudrā-Tradition .......................................................... 16 Schrittweiser und augenblicklicher Weg......................................................................... 16

Fragen .................................................................................................................... 18 Annäherung von Mahamudra und Tantrayāna ................................................................ 21

Ermächtigung .................................................................................................................. 21 Fragen .................................................................................................................... 23 Meditation ............................................................................................................. 23

Vorbereitende Übungen ....................................................................................................... 24

Die fünf besonderen vorbereitenden Übungen .................................................................... 24 1. Unbeständigkeit kontemplieren und andere Methoden, um Faulheit aufzulösen ....... 24

Die Freiheiten und Qualitäten eines kostbaren Menschenlebens kontemplieren ........... 24 Unbeständigkeit kontemplieren ...................................................................................... 25 Machtlosigkeit nach dem Tod kontemplieren ................................................................. 25

Handlungen und ihre Auswirkungen kontemplieren ...................................................... 26 Karma kontemplieren ..................................................................................................... 26

Den Existenzkreislauf kontemplieren ............................................................................. 27 Meditation ............................................................................................................. 28

Das Verhaftetsein aufgeben ............................................................................................. 28 2. Zuflucht und Bodhicitta hervorbringen, um Hindernisse zu vertreiben ..................... 31 Erklärungen zur Zuflucht ................................................................................................ 31 Die vier Edlen Wahrheiten .............................................................................................. 32

Der Nutzen der Zuflucht ................................................................................................. 33 Fragen .................................................................................................................... 34

Zusammenfassung der ersten zwei besonderen vorbereitenden Übungen ..................... 36 Bodhicitta ........................................................................................................................ 36 Mitgefühl als Quelle der befreienden Qualitäten ............................................................ 40

Weiterer Nutzen von Bodhicitta ...................................................................................... 43 Fragen .................................................................................................................... 44

3. Mandalas darbringen, um die Ansammlungen zu erwerben ....................................... 48

Ansammlung positiver Kraft .......................................................................................... 49 Ansammlung zeitlosen Gewahrseins .............................................................................. 50 Erklärungen zur Mandala Opferung ............................................................................... 53

Fragen .................................................................................................................... 56

4. Die Vajrasattva Meditation und Rezitation ................................................................. 59 Die vier Kräfte ................................................................................................................ 62 Die Kraft des gründlichen Verwerfens ............................................................................ 62

Die Kraft des Anwendens von Gegenmitteln ................................................................. 62 Die Kraft der Abkehr von Fehlverhalten ........................................................................ 64

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 3

Die Kraft des Rückhaltes ................................................................................................ 65

Rezitation ........................................................................................................................ 67 Fragen .................................................................................................................... 69

Die Geisteshaltung bei Dharmaunterweisungen ............................................................. 72 5. Guru-Yoga, um in den Segen hineinzufinden ............................................................. 72 Die Bedeutung des Segens .............................................................................................. 74 Die reine Gabe an den Guru ............................................................................................ 77 Vertrauen und Hingabe .................................................................................................... 78

Wie wir den Guru-Yoga praktizieren .............................................................................. 81 Fragen .................................................................................................................... 81

Voraussetzungen für die Mahamudra-Praxis .................................................................. 83 Sich einstellende Zeichen der Vorbereitenden Übungen ................................................. 84

Fragen .................................................................................................................... 88

Vorbereitungen zur Meditation ............................................................................................ 90

Als Vorbereitung ein klares Verständnis entwickeln ....................................................... 90

Fünf Prinzipien, die zur Befreiung führen ...................................................................... 90 Erstens: Das heilsame Verhalten gewöhnlicher Leute pflegen ....................................... 90 Zweitens: Die Sinnestore zügeln ..................................................................................... 91 Drittens: Mit Sorgfalt handeln ........................................................................................ 93

Viertens: Weiser Umgang mit Nahrung .......................................................................... 93 Meditation .............................................................................................................. 95

Fragen .................................................................................................................... 96 Fünftens: Sich bemühen, nicht von Sonnenuntergang bis -aufgang durchzuschlafen .... 97 Tagesablauf und Struktur der Meditationssitzungen ....................................................... 99

Meditationsübung auf den Atem .......................................................................... 102 Fortsetzung: Tagesablauf und Struktur der Meditationssitzungen ................................ 104

Fragen .................................................................................................................. 105 Integration der vorbereitenden Übungen in die tägliche Praxis .................................... 106

Die Hauptpraxis der stufenweisen Meditation des Mahamudra ............................................. 110 Verschiedene stufenweise Meditationen des Mahamudra ................................................. 110

Meditation ............................................................................................................ 113 Grundprinzipien zur Entwicklung von Geistesruhe ...................................................... 115

Meditation ............................................................................................................ 118 Erklärungen zu den einzelnen stufenweisen Meditationen ................................................ 119 Wie Schüler schrittweise ins Mahāmudrā eingeführt werden ........................................... 119

Einführung in Geistesruhe............................................................................................. 119 Erstens: Vorbereitungen für Geistesruhe ....................................................................... 119

Zweitens: Körperliches Verhalten, das meditative Sammlung fördert .......................... 120 Die Sieben-Punkte-Haltung .......................................................................................... 121

Fragen .................................................................................................................. 125 Meditation ............................................................................................................ 127

Drittens: Wie wir den Geist auf die Meditationsmethode ausrichten ........................... 129

Anmerkung zum Begriff der Sammlung ....................................................................... 133 Meditation ............................................................................................................ 134

Kleine Geschichte über Gendün Rinpoche ................................................................... 134 Viertens: Meditationsmethoden, die Geistesruhe ermöglichen ..................................... 135

Meditation auf eine äußere Stütze ohne Symbolik .............................................. 136 Anmerkungen zur vorangegangenen Meditation und zu den Stützen .......................... 137

Meditation auf eine innere Stütze mit Symbolik ................................................. 139

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.4

Ausführungen zu äußeren und inneren Meditationsstützen mit und ohne Symbolik ... 139

Meditation ........................................................................................................... 141 Fortsetzung Kommentar: Die eigentlichen Meditationsmethoden ............................... 142

Definition von Geistesruhe ........................................................................................... 145 Meditation ........................................................................................................... 145

Erläuterungen zur Meditation mit dem äußeren und inneren Atem .............................. 147 Fortsetzung Kommentar: Definition von Geistesruhe .................................................. 149 Meditationsmethoden mit Merkmalen aber ohne Stütze .............................................. 153

Meditation mit Atem ..................................................................................................... 153 Geistessammlung durch Zählen des Atems .................................................................. 153 Dem Atem folgen .......................................................................................................... 155 Den Geist sich setzenlassen .......................................................................................... 155 Untersuchen .................................................................................................................. 156

Übertragen des Verständnisses ...................................................................................... 158

Völlig reinigen von dualistischem Denken ................................................................... 159

Weiterführende Erklärungen zum Atem-Zählen ........................................................... 161 Geistessammlung durch Auffüllen des Atems .............................................................. 163

Neunfacher Reinigungsatem und Vasenatmung .................................................. 164 Meditation ........................................................................................................... 166

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EINLEITUNG

Ein ganz herzliches Willkommen. Es ist der vierte Kurs in der Serie der Übertragungen zu „Mondstrah-

len des Mahamudra“, einem Text aus dem 16. Jahrhundert, der uns in der Tiefe die Mahamudra-Unter-

weisungen zugänglich macht - wobei Mahamudra bedeutet: das natürliche Sein oder das Meditieren und

Aktiv-Sein in der völligen Gelöstheit des Geistes. Völlig gelöst bedeutet, sogar ohne die dualistische

Spannung von Subjekt und Objekt.

Darum geht es eigentlich: um den gesamten Weg des Erwachens und dabei speziell um den Ansatz, über

immer gelöstere Praxis in immer gelösteres Sein zu finden. Man nennt das auch die Übertragung zum

Wesentlichen, zu dem, worum es eigentlich im Dharma geht.

Man könnte das Wesentliche vielleicht auch ohne alle Worte verstehen. Das wäre auch möglich. Es ist

nicht notwendig, so viele Worte zu machen, weil es ja ohnehin die Natur unseres eigenen Geistes ist.

Wir machen aber viele Worte. Wir werden vierzehn solche Kurse haben, um diesen einen Text ausführ-

lich Wort für Wort durchzugehen. Worte sind dabei eigentlich nur Methode, also Brücken des Verständ-

nisses, um das zu kommunizieren, was die Erfahrung des einfachen Seins ist. Manchmal geht es um

Methoden an Hand von Meditationstechniken, die uns helfen können, ins natürliche Sein hinein zu fin-

den.

Es geht von A-Z in dieser Mahamudra-Übertragung immer nur darum, in dieses einfache Sein hinein zu

finden. „Einfach“ bedeutet: ohne irgendwelche Verstrickungen, ohne dualistische Projektionen von Sub-

jekt-Objekt, ohne unnötige Kommentare. Erwachtes Sein einfach so, darum geht es. Es ist also nicht das

einfache Sein, in dem wir einfach unseren Impulsen folgen. Es ist das einfache Sein der Erwachten.

Mahamudra als Unterweisungstradition ist der Versuch, einen möglichst direkten Weg aufzuzeigen. Und

wenn der direkte Weg des sofortigen Loslassens nicht möglich ist, werden auch Methoden angeboten,

um dies stufenweise, schrittweise zu ermöglichen.

Dieser Kommentar ist für die Leute geschrieben, bei denen es nicht einfach so aufgrund einiger weniger

Worte und Hinweise geht und unser Geist sich öffnet und wir in diesem zeitlosen, non-dualen Ge-

wahrsein sind. Für alle anderen wie uns braucht es mehr Worte und Erklärungen, um Zweifel auszuräu-

men, Sichtweisen aufzulösen, die hinderlich sind, um zu hilfreicheren Sichtweisen zu kommen und dann

allmählich loszulassen in das Sein, in dem es gar keine Sichtweise mehr gibt, weil es gar keine Trennung

mehr zum Erleben gibt.

In diesem Unterfangen, das sich über sieben Jahre fortsetzen wird, sind wir im vierten Kurs angekom-

men.

Wir haben drei Kurse hinter uns, von denen die ersten beiden den allgemeinen Dharma-Unterweisungen

zur Meditation gewidmet waren. Die ersten beiden Kurse waren die grundlegenden Erklärungen zu

Geistesruhe und Intuitiver Einsicht, wie man sie auch in anderen buddhistischen Schulen finden kann -

und zum Teil auch in anderen Dharma-Traditionen in der Welt.

Im dritten Kurs haben wir eine Einführung ins Mahamudra bekommen, in der es viel um die Essenz

ging, das Übertragen der Essenz sowie viele Klärungen. Was ist das eigentlich für ein Weg? Ist es ein

Weg, wo man tantrische Praktiken machen muss? Nein, muss man nicht. Man muss nicht unbedingt

Vajrayana praktizieren, also Visualisation von Gottheiten, Mantra usw. Auch das sind nur Hilfsmittel,

um ins Mahamudra hineinzufinden.

Mahamudra kann eigentlich von jedem praktiziert werden, aber es ist leichter unter bestimmten Voraus-

setzungen. Das wurde uns im letzten Kurs beschrieben als erste allgemeine Einführung ins Mahamudra.

Jetzt im vierten Kurs wird es spezifischer. Wir werden diese Woche einen Teil der Zeit mit den Vorbe-

reitenden Übungen zubringen, die den Geist für eine Praxis im natürlichen Sein vorbereiten, und wir

werden die ersten Meditationsmethoden für die stille Meditation erklärt bekommen.

Es wird weitergehen im Kurs Fünf mit weiteren Unterweisungen zur Geistesruhe ohne große Stütze,

dann die Praxis der Intuitiven Einsicht - das Entwickeln von wirklicher transformierender Erkenntnis -

und danach geht es immer weiter in die Mahamudra-Praxis hinein.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.6 Das baut alles aufeinander auf. Was jetzt diesen Kurs angeht, ist es auch möglich, frisch einzusteigen

und mitzumachen. Aber die vielen von euch, die jetzt dazugekommen sind - und da wende ich mich vor

allen Dingen auch an unsere französischen Freunde - möchte ich doch bitten zu versuchen, die Kurse

nachzuarbeiten, also nachzuhören, was vorher unterrichtet wurde, damit ihr auch eine komplette Über-

tragung habt. Das Gleiche gilt auch für die Deutschsprachigen, die jetzt dazugekommen sind. Alles steht

euch als Abschriften und Audios zur Verfügung. Wer also Interesse hat einzusteigen, möge sich die

Arbeit machen, alles komplett nachzuarbeiten, nachzuhören. Diese Möglichkeit besteht und euer Ver-

ständnis wird besser fundiert, tiefer sein. Aber es ist möglich, jetzt den Kurs einfach so mitzumachen.

Ich werde versuchen, die Dinge wieder so zu erklären, dass sie allgemein verständlich sind - also bei

hohem Interesse allgemein verständlich.

VORBEREITUNGEN ZUR STUFENWEISEN MEDITATION DES MA-

HAMUDRA

Allgemeine Unterweisungen zu den Stufen des Weges

Der Titel zu diesem zweiten Teil der Mahamudra-spezifischen Unterweisungen heißt:

Vorbereitungen zur stufenweisen Meditation des Mahamudra

Es ist für Menschen wie wir, die schrittweise, allmählich in das natürliche Sein hineinfinden. Das be-

deutet stufenweise Meditation. Denn Mahamudra ist eigentlich keine Praxis in Stufen, sondern ist der

offene, natürliche Geisteszustand, frei von der Illusion eines Jemand, eines Ich, das etwas anderes wahr-

nimmt. Aber für alle anderen ist es ein stufenweiser Weg.

Allgemeine Unterweisungen zu den Stufen des Weges

Für jene, die der Leiden des Daseinskreislaufs überdrüssig sind und nach Befreiung suchen, indem

sie sich den kostbaren Lehren des Buddhas zuwenden, sei eine schrittweise Herangehensweise an

die Praxis des edlen Dharma vorgestellt.

Kleine Frage an jeden von uns: sind wir, seid ihr der Leiden des Daseinskreislaufs überdrüssig? Wenn

ihr die Nase voll habt, seid ihr richtig hier. Wenn ihr noch nicht die Nase voll habt, seid ihr vielleicht

nicht ganz richtig hier.

Aber was ist Daseinskreislauf? Vielleicht sollte ich das Wort auch noch erklären. Es ist nicht nur der

Kreislauf der Existenzen, sondern es ist unser Hamsterrad, in dem wir ständig in denselben Mustern

unterwegs sind und immer wieder aufgrund von Verlangen in Enttäuschungen landen, aufgrund von

Ängsten uns verspannen, aufgrund von Abneigungen in Ärger und Wut kommen. Die Muster, das nennt

man Daseinskreislauf.

Ein Kreislauf des Werdens, in dem wir immer wieder zu dem werden, der wir eigentlich nicht sein

wollen. Das nennt man samsarischer Daseinskreislauf. Dieses Gefühl, trotz aller Anstrengungen immer

wieder dasselbe zu wiederholen. Die Definition davon ist, dass dies der Kreislauf der Ich-Bezogenheit

ist.

Solange wir unsere spirituelle Praxis, unsere Meditationspraxis, unseren Glauben, unsere Arbeit, unsere

Beziehungen aus der Perspektive der Ich-Bezogenheit angehen - ich will das und das will ich nicht, ich

mag das und das mag ich nicht -, werden sich all die Muster der Ich-Bezogenheit wiederholen, egal

wieviel wir spirituell praktizieren. Denn die Perspektive, die Geisteshaltung, mit der wir da hineingehen,

ist immer noch dieselbe. Wir machen unsere spirituelle Praxis mit derselben Geisteshaltung wie alles

andere auch. Dann brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, wenn dasselbe dabei herauskommt.

Das nennt man Daseinskreislauf. Es ist der Kreislauf unserer eigenen Hoffnungen und Befürchtungen,

der Kreislauf, wie unsere Suche nach Glück immer wieder zu neuen Erfahrungen von Leid führt. Etwas

höchst Bedauerliches.

Eigentlich sind wir höchst motiviert, frei zu werden, wissen nicht wie und sind dabei etwas unbeholfen.

Das würde dazu führen, dass wir immer wieder ungefähr dieselben Erfahrungen machen, grundlegend

immer wieder in den Erfahrungen von unnötigem Leid landen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 7

Wenn wir also die Nase voll davon haben und nach Befreiung suchen - und uns in dieser Suche den

kostbaren Lehren des Buddhas zuwenden, dann, sagt Dakpo Tashi Namgyal, der Autor dieses Werkes,

sei uns jetzt ein stufenweiser Weg vorgestellt.

Einen Lehrer, eine Lehrerin finden

Zunächst sollten sie - solche Praktizierenden - einen voll qualifizierten spirituellen Freund - oder

Meister - finden, denn er ist die Wurzel des Weges.

Ob Frau oder Mann, es geht um kompetente Lehrer/-innen, Meister/-innen, die uns aus eigener Erfah-

rung den Weg der Befreiung zeigen können.

Wenn ich in den Bergen eine schwierige Tour vorhabe, suche ich mir jemanden, der die Tour schon

gemacht hat und ein kundiger Bergführer ist - nicht nur jemanden, der gut Karte lesen kann. Das ist mit

„kundigem Führer“ auch im Spirituellen gemeint: jemand, der den Weg schon gegangen ist und wirklich

das Erwachen aus eigener Erfahrung kennt. Nicht nur jemand, der der Texte kundig ist, sozusagen ein

guter Kartenleser.

Dakpo Tashi Namgyal ist so jemand und wird von allen Meistern, die zu seiner Zeit gelebt haben und

nach ihm lebten, empfohlen als solch ein kundiger Wegführer, und es tut uns gut, uns mit seinen Worten

zu befassen. Es braucht ebenso jetzt lebende Lehrer und Lehrerinnen, die uns zumindest einiges voraus

sind, sodass sie uns in den für uns anstehenden Schritten führen können.

Nachdem sie ihn (oder sie) - den Lehrer/die Lehrerin - sorgfältig geprüft haben, werden sie ihm/ihr

folgen, indem sie - so wie es gelehrt wird - das heilsame Verhalten üben, das die Grundlage ist, die

alle Qualitäten hervorbringt.

Es ist ganz wichtig, dass ihr diese Stufe nicht überspringt: das Prüfen der Lehrer. Das ist ganz wichtig.

Deshalb ist es für mich als Lehrer wichtig, Situationen zu schaffen, in denen man den Dharma mitei-

nander teilen kann und noch keine Verpflichtungen eingeht; wo man einfach mal checken kann - und

das auch über mehrere Jahre. Man braucht sich nicht gleich mit Haut und Haaren einzulassen und ein

Vertrauen zu erzeugen, das noch gar keine Basis hat.

Vertrauen zwischen Schülern und Lehrern entsteht aufgrund von Erfahrung, dass der wiederholte Kon-

takt wirklich hilfreich ist, wir die Erfahrung machen, dass das, was dieser Mensch mir sagt, mein Leben

auf eine gute Weise beeinflusst - und das immer wieder. Und ich das Gefühl habe, dass diese Lehrerin,

dieser Lehrer ein echtes, ein inspirierendes Vorbild ist.

Dafür sollten wir uns Zeit nehmen. Zeit nehmen bedeutet einfach, dass wir immer wieder hingehen, den

Kontakt suchen, wir ganz wach sind und aufmerksam und schauen, ob die Worte der Lehrer mit ihrem

Verhalten übereinstimmen und ob dies gute und inspirierende Auswirkungen auf uns selbst hat. Da kann

man noch sehr ins Detail gehen, worauf man achten sollte, wenn man Lehrer prüft.

Aber auch die Lehrer prüfen die Schüler. Es ist wichtig, dass jemand tatsächlich umsetzt, was an Rat

angeboten wird. Wenn keine Umsetzung stattfindet, ist die Unterweisung fruchtlos. Das wäre echt

schade. So jemand braucht gar nicht wieder zu kommen, wenn sich das immer wiederholt. Es gibt auch

mal Phasen im Leben, in denen man nicht in der Lage ist, das äußerlich umzusetzen. Aber innerlich

kann die Arbeit mit dem Dharma in jeder Situation stattfinden.

Die Schüler/-innen bringen in diese Beziehung ein: die aufrichtige Bereitschaft, den Dharma, die Un-

terweisungen zu testen, zu schauen, was das bringt - und die Erfahrungen zu berichten und eventuell

weitere Hilfestellungen zu bekommen. Das fällt den Lehrern auf: ja, da ist ein aufrichtiges Anwenden

der erhaltenen Unterweisungen, da findet ein Feinjustieren statt. Im Laufe der Jahre ist man immer ver-

trauter, immer enger am Ball, bis es klar ist, dass da eine echte, verlässliche Arbeitsbeziehung ist.

Ich komme zurück auf das Beispiel mit dem Bergführer. Wenn Bergführer Leute zum ersten Mal sehen,

machen sie nicht gleich die schwierigste Tour mit ihnen. Sie schauen erstmal, wie verlässlich diese

Menschen sind, denn in den Bergen ist jeder auf jeden angewiesen, man muss sich vertrauen können.

Es gibt Menschen, die nicht die nötigen Qualitäten mitbringen, um auf eine riskante Bergtour zu gehen,

bei der es den ganzen Menschen braucht. Sie sind mit dem Geist immer woanders, haben anderes im

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.8 Kopf und sind vielleicht im Zweifelsfall nicht bereit, ihre Interessen zurückzustellen, um sich um die

ganze Gruppe zu kümmern. So testet ein Berg- oder Expeditionsführer seine Mitglieder, die mit ihm auf

solche Unternehmen gehen.

So ist es auch im Dharma. Die Enge und Nähe zu einem Lehrer, einer Lehrerin ist eine wechselseitige

Angelegenheit. Beide bringen sich voll ein. Im Idealfall findet eine Begegnung der Herzen statt, wo man

weiß: ja, man kann sich vertrauen. Dann geht die Arbeit gut weiter.

Es ist also keinesfalls eine Entscheidung: das ist jetzt mein Lehrer. Solch eine Entscheidung gab es bei

Gendün Rinpoche zum Beispiel nie. Er hat immer nur gelacht. Wenn jemand kam und sagte: „Kannst

du mein Lehrer sein?“, sagte er: „Klar kann ich dein Lehrer sein, daran mangelt es nicht. Kannst du

Schüler sein? Das wird sich daran zeigen, ob du wiederkommst und angewendet hast, was du in den

ersten Begegnungen gezeigt bekommen hast.“ Dann macht es Sinn weiterzugehen. Wir sind ganz natür-

lich gemeinsam unterwegs. Da wird nie der Punkt kommen, an dem man sagt: „Und jetzt bin ich dein

Lehrer“. Das hat Gendün Rinpoche nie gesagt. Er war einfach da, er stand zur Verfügung, und wir waren

seine Schüler. Dann geht man den Weg und wendet ihn an - und andere gehen zu anderen Lehrern und

finden dort das, was sie suchen. Das ist das Geschenk der großen Auswahl.

Das ist sehr hilfreich, und solange wir keinen äußeren Lehrer gefunden haben, können wir den Lehrer

der Texte nehmen. Wir können erstmal mit verlässlichen und gut erklärten Texten anfangen und können

da schon eine Menge lernen.

Wie ihr in dem letzten Satz lesen könnt, geht es darum, das heilsame Verhalten zu üben, das die Grund-

lage ist, alle Qualitäten hervorzubringen.

Der Schlüsselpunkt für heilsames Verhalten ist Respekt. Respekt für einen selbst, dieses kostbare Men-

schendasein schützen, nähren, nutzen, und Respekt für jedes andere Lebewesen, für seine Gefühle, für

sein Streben nach Glück. Respekt auch davor, dass alle anderen Lebewesen auch Angst vor Leid haben

und Schmerz erfahren und wir ihnen keinen solchen Schmerz hinzufügen, sondern sie unterstützen, so

glücklich und so frei wie möglich zu werden.

Dieses Verhalten, wo wir alle in ihrem natürlichen Streben nach Glück sehen und sie darin unterstützen,

ihnen kein Leid zufügen, keine Hindernisse in den Weg legen, das ist heilsames Verhalten. Mit dieser

Grundhaltung zeigen sich all die Qualitäten, die unserem Geist innewohnen. Also eine umfassende Ethik

des gegenseitigen Respektes. Eine Ethik, jeden in seinem Streben nach Glück und Freiheit zu unterstüt-

zen und kein Leid zuzufügen.

Und dieses „jede“ ist riesig - es bezieht auch die Tiere mit ein, auch die Insekten. Es ist die Grundlage

des Respektes für alle Lebewesen, selbst für die, die wir nicht direkt sehen können, von denen wir nur

ab und zu mal was hören. Das ist die gemeinsame Basis für Dharmalehrer, Dharmaschüler.

Wobei Dharmalehrer auch Dharmaschüler sind. Ich bin zwar jetzt Dharmalehrer, aber eigentlich bin ich

ein Praktizierender des Dharma. Ich bin nicht Lehrer, ich bin eigentlich Praktizierender, und ich teile

nur etwas mit euch, was ich gelernt und erfahren habe. Aber mein Weg geht auch weiter. Wie der Boden,

auf dem wir hier alle sind. Dieser Boden ist das heilsame Verhalten, ist der Respekt für alle Lebewesen,

man kann auch sagen, die Liebe für alle Lebewesen. Das ist der Boden, auf dem wir uns bewegen und

den wir nie verlassen sollten. Sonst findet keine Entwicklung heilsamer Qualitäten statt.

Auf dieser Basis werden sie die allgemeinen Lehren des Siegreichen studieren - ein anderes Wort

für Buddha -, wobei sie sich besonders den Kadampa-Lehren zum schrittweisen Weg der drei Arten

von Praktizierenden widmen - ein unfehlbarer Weg, der uns ermöglicht, den edlen Dharma auf-

zunehmen und verhindert, sich von ihm abzuwenden.

Der schrittweise Weg der Kadampas ist eine Übertragungslinie aus Indien, die über Atisha nach Indien

gekommen ist. Es ist eigentlich sozusagen ein pädagogisch sehr intelligenter Ansatz, auch innerhalb des

schrittweisen Weges noch nach der Befähigung zu differenzieren, die Menschen für die Praxis mitbrin-

gen. Da gibt es die extrem Hochqualifizierten, die alles gleich verstehen, es gibt die durchschnittlich

oder mittelmäßig Befähigten und dann gibt es die, die echt Mühe haben.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 9

Ich habe natürlich zu Anfang, als ich diese Unterweisungen bekommen habe, immer gedacht: vielleicht

gehöre ich ja doch zu den Hochbefähigten - und mit der Zeit musste ich mich immer nach unten korri-

gieren und merkte: mir tun die Unterweisungen für die gering Befähigten besonders gut. Diese werden

uns hier vorwiegend gegeben. Selbst um die umzusetzen, braucht es schon unsere ganze Kraft, unseren

ganzen Elan.

Feines unterscheidendes Verständnis entwickeln

Dabei reicht es nicht, nur einmal die theoretische Bedeutung des Gehörten ein wenig zu verstehen,

sondern es empfiehlt sich, es immer wieder zu kontemplieren, bis ein feines Verständnis entsteht,

durch das sich unser Haften an den Erfahrungen dieses Lebens in der Tiefe auflöst, wodurch die

außerordentliche Geisteshaltung geboren wird, in den folgenden Leben das wahrhaft Gute zu ver-

wirklichen.

Ich gehe den Satz nochmal Abschnitt für Abschnitt durch:

Es reicht nicht, nur einmal die theoretische Bedeutung ein wenig zu verstehen: das bedeutet, es reicht

nicht, nur einmal einen solchen Kurs zu besuchen und das intellektuell ganz gut drauf zu haben, sodass

man abends darüber diskutieren kann. Das reicht nicht. Was es braucht ist, diese wesentlichen Unter-

weisungen immer wieder zu kontemplieren, also sich immer wieder zu vergegenwärtigen und anzuwen-

den, bis ein feines Verständnis entsteht.

Jetzt kommt das Kriterium für feines Verständnis. Feines Verständnis kann man daran erkennen, dass

sich unser Haften an den Erfahrungen dieses Lebens in der Tiefe auflöst. Das können wir jetzt sofort auf

uns selbst anwenden. Ist das schon der Fall? Was ist denn mit Haften an den Erfahrungen dieses Lebens

gemeint?

Gehen wir von außen nach innen vor. Wenn ich noch mit den Erfahrungen dieses Lebens kämpfe und

nicht im Reinen bin mit dem, was mir widerfährt: Krankheit, Kritik, Verlassenwerden, Armut. Was auch

immer es gerade ist - oder auch nur, dass ein Zug zu spät kommt. Wenn ich damit noch kämpfe, bin ich

weit entfernt davon, das Haften an den Erfahrungen dieses Lebens aufgegeben zu haben.

Weiter nach innen: wenn ich an den angenehmen Erfahrungen dieses Lebens festhalte und sie verlängern

möchte und subtil manipulierend mit meinem Leben umgehe, um solche Erfahrungen wieder zu erzeu-

gen, dann habe ich auch noch nicht das Haften an den Erfahrungen dieses Lebens aufgegeben. Wenn

etwas Angenehmes zu Ende ist oder sich nicht wiederholt, und ich dann Leid erfahre, leide, traurig bin,

wie bei einem Entzug von etwas Schönem - ist es noch nicht dieses feine Verständnis.

Was mit feinem Verständnis hier gemeint ist, geht richtig weit. Das ist das feine Verständnis der nicht

fassbaren Natur aller Erfahrungen. Darüber haben wir in den letzten Kursen schon sehr viel gesprochen.

Was immer im Geist durch die sechs Sinnestore auftaucht - wir haben fünf äußere Sinne, nämlich das

Sehen, Riechen, Schmecken, Hören und Fühlen mit dem Körper, und wir haben den Geistessinn oder

mentalen Sinn - was immer da auftaucht, wird Erfahrungen oder Erscheinungen genannt.

Bei all diesen Erfahrungen gewahr zu sein, dass sie nicht fassbar sind, wir sie durch nichts in der Welt

aufhalten oder verlängern können: das ist ein feines Verständnis. Das nennt man die nicht fassbare oder

leere Natur der Erfahrungen.

Wenn dieses feine Verständnis der Natur aller Erfahrungen entsteht, dann entsteht die außerordentliche

Geisteshaltung - ein anderer Name für den Geist des Erwachens, für Bodhicitta -, bei der man nicht mehr

an sich selbst denkt und nicht mehr in der Illusion verweilt, dass es um mich als Zentrum der Welt geht.

Sondern wo man in diesem und den folgenden Leben das wahrhaft Gute verwirklicht. Das wahrhaft

Gute ist hier ein anderer Ausdruck für das Erwachen - und zwar das vollkommene Erwachen von sich

selbst und allen anderen.

Dieser erste Abschnitt hier ist eine ziemliche Ansage. Darum geht es im Mahamudra, genau das war die

Beschreibung. Wir haben jetzt in einem Absatz schon alles kurz angesprochen: dass es Lehrer/-innen

braucht, es eine Basis des heilsamen Verhaltens braucht. Aufgrund dieser Basis dann die Unterweisun-

gen nicht nur intellektuell zu verstehen, sondern uns so tief zu Gemüte zu führen, dass es zu tiefen

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.10 Einsichten kommt, zu diesem feinen Verständnis. Dieses feine Verständnis ruft in uns die außerordent-

liche Geisteshaltung hervor, wo unser ganzes Wesen sich auf das wahrhaft Gute ausrichtet. Da war alles

schon drin, und es wäre euch vielleicht so nicht aufgefallen, wenn ihr den Text allein gelesen hättet. Da

muss man manchmal ein bisschen darauf aufmerksam gemacht werden.

Wenn wir aufmerksam das Verhalten derer untersuchen, die sich etwas auf ihre Dharmapraxis

einbilden, sehen wir, dass sie für einige ein Hobby ist, für andere ein Lebensunterhalt und für

manche ein Diskussionsthema oder etwas, mit dem sie sich schmücken.

Checken wir gerade mal uns selbst. Sind wir jetzt hier, weil es für uns ein Hobby ist? Sitze ich als Lehrer

hier, weil ich mein Geld damit verdienen kann, ist es ein Lebensunterhalt? Gibt es mir guten Stoff für

Diskussionen und mein Hauptanliegen ist, intellektuell besser diskutieren zu können? Ihr wisst, etwas,

worüber man diskutiert, ist einem nicht so nahe. Über etwas, was einem ganz nahe ist, will man nicht

diskutieren. Das will man leben und das ist was anderes. Was war das Vierte? Ja, ein Schmuck, wenn

man sich das hübsche Mäntelchen umzieht von „Ich bin ein spirituell Praktizierender“. Das ist schick,

das schmückende Mäntelchen der Dharmapraxis gehört mit dazu. All das kann es nicht sein.

Wer versteht, dass dies keinen Nutzen für zukünftige Leben bringt oder sogar schadet, der wird

versuchen, sich auf die dem Dharma gebührende Weise der Meditation und Verwirklichung zu-

zuwenden - also so zu meditieren, dass wirklich innerste Transformation die Folge ist.

Nagarjuna sagt: „Weisheit entfaltet sich durch Hören und Studieren, sowie durch Kontemplieren.

Wenn wir diese vortrefflich mit Meditation verbinden, werden sie zur Quelle unübertrefflicher

Verwirklichung.“

Wahrscheinlich versteht ihr das Zitat auch ohne Kommentar. Es geht um Weisheit. Weisheit ist hier

Seins-Erkenntnis und wird kultiviert durch die drei Schritte der Praxis: den Dharma hören oder studie-

ren, lesen, ihn dann kontemplierend auf uns selbst anwenden, mit uns selbst und unseren Lebenserfah-

rungen testen und dann in die nicht-begriffliche Meditation gehen. Das tiefe Kontemplieren führt zu

Aha-Erlebnissen, zu einem gewissen Verständnis, wo sich der Geist in dieses nicht-begriffliche Sein

öffnet. Wenn wir das so machen, dann werden die drei Aspekte der Praxis zur Quelle unübertrefflicher

Verwirklichung.

Abhidharma-Schatzkammer: „Studiere und kontempliere mit heilsamem Verhalten und verbinde

dies vortrefflich mit Meditation.“

Studium, Kontemplation auf der Basis von heilsamem Verhalten, wie unser Boden, unser Parkett, und

das mit Meditation verbinden.

Kamalashila sagt in Stufen der Meditation, Band I:

„Bringe zunächst die aus dem Studieren - Hören - entstehende Weisheit hervor, die den Sinn aller

Lehren tief erfasst. Das machen wir jetzt hier, gerade im Moment studieren wir. Wir werden auch

miteinander meditieren und kontemplieren. Mit der aus dem Kontemplieren entstehenden Weisheit

- wenn ich das auf mich anwende - unterscheide dann die vorläufige von der endgültigen Bedeutung.

Was ist vorläufig und was ist endgültig? Ich nehme ein Beispiel aus der Ethik. Da ist der erste Grundsatz:

„Du sollst nicht töten“, keinem Lebewesen das Leben nehmen, auch nicht Tieren, Insekten. Das ist ein

Dharma-Grundsatz, aber ist vorläufige Bedeutung. Es ist vorläufig, aber sehr hilfreich, weil im Normal-

fall das Töten, wenn man Tiere oder Menschen umbringt, immer mit einer Verengung des eigenen Her-

zens einhergeht - fast immer, wir kommen nämlich gleich auf die Ausnahmen zu sprechen - und dem

anderen Leid zufügt. Deswegen macht es Sinn, dies einfach mal als Regel in den Raum zu stellen.

Dann gibt es aber schon die Ausnahmen. Da kann es auch sein, dass man aus einem ganz offenen Herzen

jemandem dabei hilft, sich aktiv die Spritze zu setzen, oder aktive Euthanasie vornimmt, zum Beispiel

unseren geliebten Hund mit schwerstem Krebs und immensem Leid durch eine Spritze umzubringen

und dem Leben und dem Leid ein Ende zu setzen. Dabei verschließt sich unser Herz nicht und es muss

auch nicht sein, dass das bei unserem Haustier der Fall ist.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 11

Das ist schon die erste große Ausnahme, wo man nicht mehr sagen kann, es ist einfach ein Verhalten,

das dem Weg des Erwachens zuwider strebt. Schon ist der vorläufige Dharma-Satz „Du sollst nie tö-

ten“ wieder relativiert.

Dann gehen wir jetzt mit einem großen Sprung ins Letztendliche. Da müssen wir uns fragen: wer stirbt

eigentlich? Gibt es da jemanden, der geboren wird, jemanden, der stirbt? Wie ist das eigentlich? Sind

es nicht eher, wenn man es genauer versucht zu beschreiben, Geisteskräfte, die da wirken? Und wenn

so eine starke Kraft reinkommt, die diesen Geistesstrom von seinem Körper trennt, dass das unter Um-

ständen ungünstige Auswirkungen auf die weitere Entwicklung dieses Geistesstromes hat? Geht es nicht

eigentlich darum?

Ist denn da überhaupt ein Jemand oder sind es nicht einfach in Wirklichkeit dynamische Prozesse? Und

im Normalfall bedeutet Töten, dass im eigenen Geistesstrom und im Geistesstrom des anderen sehr

starke, ungünstige Einwirkungen gesetzt werden. Das ist aber nicht unbedingt immer der Fall. Es können

auch mal günstige Auswirkungen ausgelöst werden, wenn man sich selbst und anderen ermöglicht, aus

dem Leben zu scheiden.

Es ist nicht per se immer so. Je subtiler man hinschaut, desto mehr merkt man, dass es ganz feine Pro-

zesse sind, es keine allgemein gültige Regel gibt und sowieso die Worte, mit denen man das beschreibt,

nie das treffen, was beschrieben werden soll. Damit kommt man in die Richtung von endgültiger oder

letztendlicher Bedeutung.

So ist es zum Beispiel auch, dass der gesamte Dharma der Worte, also alles, was ich jetzt sage und sagen

werde in diesen acht Tagen, und obwohl wir uns so nah ans Eigentliche heranrobben, wie es nur geht -

es eigentlich immer nur vorläufig ist. Denn Worte können nicht das beschreiben, worum es wirklich

geht. Worte haben immer etwas Vorläufiges, sie haben immer den Aspekt, hinzuweisen auf etwas, ohne

es wirklich berühren oder erfahrbar machen zu können.

Diese Weisheit braucht es auf dem Dharma-Weg. Deswegen sagt Kamalashila, dass wir die Weisheit

brauchen, das Vorläufige vom Letztendlichen zu unterscheiden.

Mit diesem feinen unterscheidenden Verständnis meditiere dann nur den wahren Sinn und nicht

den scheinbaren. Verkehrtes Meditieren wird keine Zweifel klären und kein wahres Verständnis

bringen. Solch ein sinnloses Meditieren ähnelt den Nicht-Buddhisten.“

Da geht es um andere Traditionen, in denen meditiert wird, um sich wohlzufühlen oder um ins Nicht-

Denken zu finden, aber ohne Verständnis hervorzubringen. Das ist für uns sehr, sehr wichtig. Einfach

nur meditieren, weil es dazugehört, weil man schließlich als Buddhist meditiert oder weil man überhaupt

als spiritueller Mensch meditiert, das bringt nicht unbedingt etwas.

Es muss schon auf eine Art meditiert werden, dass dieses Verständnis immer feiner wird, wir immer

mehr spüren, was der wahre Sinn eigentlich ist, was die Natur des Seins, die Natur des Geistes eigentlich

wirklich ist. Das wirkt befreiend. Alles andere ist nur eine kleine Verschnaufpause.

Wir werden über dieses Thema die ganze Zeit sprechen. In der ganzen Übertragung geht es immer um

diesen Punkt. Fragt euch gerade mal, ob eure Meditation im Normalfall dem Erkennen, diesem tieferen,

feineren Verstehen, zuträglich ist. Öffnen wir uns - ich spreche wieder in der Wir-Form -, wenn wir

meditieren wirklich in das So-Sein, in die Essenz des Seins hinein? Oder bringen wir uns mehr oder

weniger bewusst auf Wolke Sieben, damit wir eine schöne, gute Meditation haben, es uns gut geht? Oder

machen wir einfach nur eine Pause, eine Form von Ausruhen?

Um diese Korrektur geht es mir. Deswegen habe ich gewählt, diese Übertragung zu geben. Denn das

müsst ihr mal zusammenrechnen, wie viele Tausende von Stunden da zusammenkommen, wenn man

ein Leben lang meditiert und eventuell gar nicht vorwärts kommt, gar nicht zu dieser tiefen Seins-Er-

kenntnis kommt.

Deswegen möchte ich euch anbieten, das genauer anzuschauen, um dann etwas intelligenter zu medi-

tieren, in der Tiefe forschend zu meditieren. Forschend in dem Sinne wie ein innerer Radar, der fühlt,

wo es lang geht, um immer authentischer zu werden, immer freier und tiefer zu verstehen: ja, so ist das.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.12 Und man braucht immer weniger zu tun, es wird immer natürlicher. Meditieren ist überhaupt keine

Anstrengung mehr, es kommt alles wie von innen heraus, es entfaltet sich von selbst.

Das war die Einführung.

Meditation

Das Wichtigste ist, dass euch nichts weh tut. Richtet euch so bequem ein, dass ihr eine halbe Stunde

sitzen oder auch liegen könnt.

Dabei spüren wir zunächst die körperlichen Empfindungen. Wir können einfach durch den ganzen Kör-

per wandern, von den Fußsohlen anfangend: Füße, Knöchel, Waden, Knie, Oberschenkel -

Becken, Unterbauch, unterer Teil des Rückens -

aufsteigend Oberkörper bis zu den Schultern, Arme und Hände -

und schließlich Hals, Nacken, Rückseite des Kopfes -

und all die feinen Partien an der Vorderseite des Kopfes: Lippen, Mundhöhle, Zunge, Wangen, Nase

außen und innen, Oberlippe, Bereich um die Augen, hinter den Augen, Stirn, bis hinauf zum Scheitel. -

-

Dann spüren wir nochmal den Körper als Ganzes, alle Empfindungen. - -

Wir nehmen das Hören dazu – und bei allem, was wir wahrnehmen, bleiben wir entspannt, kultivieren

eine offene Präsenz, ohne ins Reagieren zu gehen. - -

Wir nehmen auch das Sehen dazu, öffnen leicht die Augen, ohne etwas zu betrachten, - -

das Riechen und Schmecken, - -

öffnen uns für die inneren Prozesse, die geistigen Wahrnehmungen, Denken, Fühlen. - -

Überhaupt ist das Allerwichtigste, immer wieder in die Öffnung zu gehen. - -

Wenn wir so offen präsent sind, wird ganz offenkundig, wie alles, was entsteht, sich gleich wieder in die

nächste Erfahrung wandelt. - - -

Ich werde euch jetzt eine Weile in Stille meditieren lassen. Vielleicht achtet ihr immer wieder mal darauf,

wie alles von selbst entsteht und sich auch von selbst wieder auflöst – es da gar nichts zu tun gibt, außer

diesem natürlichen Prozess nicht in die Quere zu kommen durch unser Greifen, Kämpfen, Wollen und

Nicht-Wollen. Es geht darum, offen zu bleiben und fließen, geschehen zu lassen, im Erkennen der wah-

ren Natur der Erscheinungen. - - - - -

In den Mahamudra-Meditationen erinnern wir uns immer wieder daran, dass der Geist von selbst gewahr

ist. Das ist seine Natur, Bewusst-Sein. Da brauchen wir nichts zu tun. -

Das Futter für die Meditation erscheint auch von selbst: Erfahrungen. Sinneserfahrungen, Gedanken,

Gefühle erscheinen von selbst. Von selbst erscheinende Erfahrungen. Da brauchen wir auch nichts zu

tun. -

Auch befreien sie sich von selbst. Alles löst sich von selbst auf – wie Bilder in einem Spiegel oder wie

Zeichnungen in der Luft. Da brauchen wir auch nichts zu tun. -

Wenn wir die Erfahrungen festhalten wollen, schaffen wir das nicht – weil sie keine Substanz haben.

Wir können nicht an ihnen festhalten. Selbst wenn wir sie festhalten wollen, lösen sie sich in die nächste

Erfahrung auf. - -

Das Einzige, das bleibt, sind die natürlichen Qualitäten des Geistes – so wie er halt ist: dynamisch,

bewusst, klar, offen, ein Strom unaufhörlichen Erlebens, Erfahrens, Wahrnehmens, in dem sich alles von

selbst aufgrund seiner Natur ins Nächste wandelt. -

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 13

Gegen das zu kämpfen, was gerade ist, bringt nichts. Es macht höchstens ähnliche Erfahrungen stärker.

Wir können aber gestalten. Wir können mit dafür sorgen, dass das nächste Erleben etwas entspannter,

offener, vielleicht etwas liebevoller ist. Das ist das Gestalten im Strom des Erlebens. -

Um auf gute Weise zu gestalten, lernen wir zunächst, nicht mehr automatisch zu reagieren mit Anhaften

und Ablehnen. - -

Dadurch erfahren wir das Freisein von impulsiven Reaktionen. Darin liegt die Chance zu kreativem

Gestalten. - -

Der schrittweise Weg

Wir sind im deutschen Text unten auf S. 3.

Für alle, die nicht von Anfang an den tiefen Sinn üben können - weil sich unser Geist dafür noch

nicht wirklich auftut -, wäre es gut, sich schrittweise durch die Wege der drei Arten von Befähigung

leiten zu lassen, so als würden wir die Stufen einer Leiter erklimmen.

Das Beispiel hier ist: wenn du die Leiter auf den Kirschbaum hochgehen möchtest, benutzt du erst die

unterste Stufe, dann die zweite, dann die dritte, gehst allmählich und kommst auch oben an.

Das ist der einführende Satz dazu, dass es vorbereitende Übungen gibt, um uns ins Mahamudra

hineinzuführen, wir uns die Fähigkeit loszulassen auch schrittweise erarbeiten können, wenn wir nicht

zulassen können, dass sich unser Geist so weit ins non-duale Gewahrsein öffnet.

Das Kompendium der Verhaltenshinweise:

„Um Anfängern zu ermöglichen, in die wahre Bedeutung - in den eigentlichen Sinn -

hineinzufinden, erklärte der vollendete Buddha weise die Methoden eines schrittweisen

Vorgehens.“

Hevajra-Tantra: „Wie sollen die wenig befähigten, schwer zu schulenden Lebewesen angeleitet

werden? Der Buddha antwortete: Gib ihnen zuerst eine Methode der Reinigung und dann die

zehn Grundlagen der Schulung. Danach führe sie in die Lehren der Vaibhāsika ein, dann

Sautrāntika, dann Yogācāra, dann Mādhyamika. Nachdem sie dann alle Tantra-Klassen

kennengelernt haben, unterrichte sie in Hevajra. Wenn die Schüler sich dieser Praxis mit Hingabe

widmen, werden sie Erkenntnis erlangen und keine Zweifel mehr haben.“

So werden sie zunächst schrittweise in die verschiedenen Fahrzeuge eingeführt und dann auch

schrittweise in die Tantras.

Erstens: Reinigung In diesem Zitat vom Hevajra-Tantra steckt viel drin. Diese weniger Befähigten, schwer zu Schulenden:

ziehen wir uns den Pantoffel an; das sind, glaube ich, wir. Gib ihnen zunächst eine Methode der

Reinigung. Reinigung hört sich an, als ob wir ein Waschmittel verschrieben bekommen. Das ist aber

nicht gemeint. Unser Geist ist verunreinigt durch Selbstzweifel, durch ein mangelndes Bewusstsein

davon, wer wir wirklich sind. Das ist unser größtes Problem.

Aus dem mangelnden Kontakt mit dem, wie wir wirklich sind, entstehen all unsere überschießenden

emotionalen Reaktionen, angefangen mit Angst, dann Ärger, Ablehnung, Haben-Wollen, um Sicherheit

zu gewinnen. All das geschieht aufgrund eines mangelnden Gewahrseins für denjenigen, der wir

wirklich sind.

Wir halten uns für viel beschränkter als es in Wahrheit ist. Wir sprechen von Reinigungspraktiken, nicht

um uns in unseren Schuldgefühlen zu zementieren und zu sagen: du bist schlecht, du bist unrein, du

musst dich reinigen. Genau das Gegenteil ist der Fall.

Wir werden im Laufe der Woche die tantrische Reinigungspraxis mit dem Hundert-Silben-Mantra von

Vajrasattva, dem Buddha der Reinigung, kennenlernen. Eigentlich geht es in der Praxis darum, dass wir

alle Identifikation mit Schuldgefühlen, mit Dingen, die wir nicht gut gemacht haben, wo wir

unvollkommen gehandelt und gesprochen haben, all das verzweifelte innere Kämpfen mit unseren

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.14 Gedanken und Emotionen lassen, loslassen, aus der Identifikation herausgehen und den Segensstrom in

uns eintreten lassen, der uns daran erinnert, dass wir in der Tiefe vollkommen rein sind, immer schon

waren, egal wie verrückt wir uns verhalten haben. Verrückt heißt: nicht in unserer Mitte.

Zum Schluss lächelt Vajrasattva und sagt: Tochter, Sohn aus guter Familie, alles ist in Ordnung, du bist

wie ich. Und verschmilzt mit uns, sodass wir am Ende dieser Praxis in dem Gewahrsein ruhen können,

tatsächlich zur Familie aller Buddhas zu gehören.

Das ist Reinigung, das ist das Auflösen dieser Zweifel an unserer grundlegenden Buddha-Natur, an

unserer grundlegend erwachten Natur mit all den Qualitäten eines erwachten Wesens. Das trennt uns

von uns selbst.

In der einfachsten Form findet solch eine Reinigungspraxis bereits statt, wenn wir Zuflucht nehmen.

Damit meine ich das Ritual, wenn wir zum ersten Mal bewusst mit einem Gegenüber in die Zuflucht zu

Buddha, Dharma, Sangha hineingehen und als Teil dieser Zeremonie die Ermutigung erhalten: du kannst

erwachen. Es ist möglich. Damit du es glaubst und dich daran erinnern kannst, bekommst du einen

Namen, den Namen eines Buddhas. Den nimmst du mit, das ist dein Zufluchtsname. Dieser

Zufluchtsname erinnert dich immer daran, dein ganzes Leben, dass deine wahre Natur nicht diese

verschleierte Natur ist, sondern die erwachte Natur. Da fängt es schon an.

Diejenigen von euch, die die Pali-Schriften gelesen haben: der Pali-Kanon ist eine relativ komplette

Sammlung der Lehrreden Buddhas in einer alten Sprache, die zwar dem Sanskrit ähnelt, aber näher dran

ist an dem, was tatsächlich zur Zeit des Buddha gesprochen wurde. Fast jede der Lehrreden des Buddhas,

die da beschrieben werden, beginnt mit einer Frage. Irgendjemand kommt zum Buddha und stellt ihm

eine Frage über den Weg des Erwachens, und der Buddha antwortet und sagt, wie man den Weg des

Erwachens gehen kann.

In jeder dieser Lehrreden schwingt die Übertragung hindurch: du bist wie ich, du kannst genauso

erwachen wie ich. Manchmal sagt er es explizit und manchmal schwingt es einfach mit. Es ist eine

unglaubliche Ermutigung, egal ob Bauer oder Prinz, ob Kuhhirte oder Prostituierte. Alle bekommen

dieselbe Ermutigung. Niemand ist eine Ausnahme.

Die Frage ist nur, wie wir dahin kommen. Da hat der Buddha - das war das erste Zitat - weise Methoden

aufgezeigt für jeden dieser einzelnen Fragesteller, wie dieser Mensch mit seiner Frage, mit seinem

Anliegen den Weg finden kann.

Aus der Summe dieser Unterweisungen zusammen mit all den anderen Unterweisungen der Schüler des

Buddha, die selbst Lehrer wurden, ist allmählich dieses Wissen zusammengetragen worden, das man

heute einen schrittweisen Weg nennt und den wir uns jetzt anschauen wollen.

Zweitens: Die zehn heilsamen Handlungen „Gib ihnen zuerst eine Methode der Reinigung und dann die zehn Grundlagen der Schulung.“ Das sind

in diesem Falle die zehn heilsamen Handlungen. Leben zu respektieren. Freigiebig zu sein. Bestehende

Liebesbeziehungen zu respektieren, nicht einzudringen in Beziehungen. Aufrichtig zu sprechen,

verbindend, also versöhnlich zu sprechen, Leuten zu helfen, sich nicht zu entzweien, mit sanften,

einfühlsamen Worten zu sprechen. Und über Sinnvolles zu reden. Geistig darauf zu achten, sich nicht in

Ärger, Wut und Hass zu verstricken, sich nicht in Begierde, Verlangen und Suchtverhalten zu

verstricken, sondern statt Wut und Ärger Mitgefühl zu entwickeln, statt Begierde Liebe und

Freigebigkeit zu entwickeln und Gewahrsein zu kultivieren, statt sich in Täuschung und Unwissenheit

zu verstricken.

Das waren die zehn Grundlagen der Schulung. Das war etwas ausführlicher das, was ich gestern die

Basis, den Boden, auf dem wir alle sitzen, genannt habe. Das ist die Basis der Praxis. Das praktizieren

wir mit einem Gefühl, Buddhas zu sein. Diese Verhaltensweisen, die ich gerade aufgezählt habe, sind

die natürlichen Verhaltensweisen eines Buddhas.

Die buddhistische Ethik leitet sich nicht ab von einem Regelwerk, das vom Himmel gekommen ist,

sondern aus der Beobachtung des Verhaltens vollkommen befreiter Menschen. Wie handeln sie

eigentlich? Wie sind sie? Was kennzeichnet sie?

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 15

Sie sind alle voll Respekt, sie sind alle freigiebig, sie sagen die Wahrheit, sie sprechen unterstützende

Worte, ihr Geist ist frei von Ablehnen, Anhaften, mangelndem Gewahrsein – sie sind einfach so. Was

wir vielleicht als Verhaltensregeln aufnehmen, ist im Grunde eine Beschreibung dessen, wie wir uns

natürlicherweise verhalten, wenn wir frei sind von der Sorge um uns selbst und nicht mehr aus der Angst

heraus reagieren.

Drittens: Die verschiedenen Sichtweisen Auf dieser Grundlage werden die Praktizierenden eingeführt in die verschiedenen Sichtweisen der

buddhistischen Tradition, die hier Vaibhāsika, Sautrāntika und Yogācāra genannt werden. Dann noch

ins Mādhyamika - wobei Mādhyamika gar keine Sichtweise mehr ist. Die Sichtweisen, in die wir

eingeführt werden, befreien uns sukzessive von verkehrten Annahmen über die Wirklichkeit. Das

beschreibe ich jetzt nicht weiter im Detail, das brauchen wir nicht.

Aber schrittweise öffnet sich unser Verständnis dafür, wie das Leben wirklich ist, bis wir uns mit dem

Mādhyamika, dem Mittleren Weg, jenseits aller Sichtweisen befinden, gar keine Sichtweise mehr

aufrechterhalten, gar nichts mehr kultivieren, sondern in der Erfahrung des Seins sind, ohne noch

irgendeinen Standpunkt einzunehmen. Es gibt keinen Ich-Standpunkt mehr: ich sehe die Welt so, ich

halte das für wahr - sondern es ist, wie es ist, nachdem wir uns Schritt für Schritt die verschiedenen

Möglichkeiten angeschaut haben und gemerkt haben: eigentlich treffen Worte nicht so ganz, wie es

wirklich ist.

Bis unser Geist irgendwann in der Lage ist, einfach in diesem dynamischen Sein aufzugehen, ohne noch

irgendwelche Sichtweisen und Standpunkte formulieren zu müssen, also ohne Bezugspunkte zu sein. Das ist dann das vollkommene Erwachen.

Viertens: Die Tantra-Klassen Dies ist allerdings erstmal Sichtweise. Dann gibt es die verschiedenen Tantra-Klassen. Es gibt vier große

Stufen in der tantrischen Praxis, so wie sie im tibetischen Buddhismus dargestellt werden. Und hier, weil es gerade aus dem Hevajra-Tantra kommt, ist natürlich Hevajra die Krönung von allem. Wenn ihr

ein anderes Tantra lesen würdet, dann wäre Chakrasamvara die Krönung von allem, oder was auch

immer das Tantra ist. Es ist nicht so wörtlich zu nehmen, aber es findet auch da eine Entwicklung statt,

die ihr vielleicht ohne weiteres in euch erspüren könnt.

Im Kriya-Tantra, der ersten Stufe, sind die Buddhas, auf die wir meditieren, außerhalb von uns und wir

haben eine Haltung der Verehrung. Wir beten zu ihnen, wir bitten um Segen und ganz zum Schluss der

Praxis verschmilzt dieser Buddha mit uns. Nach all den Gebeten, Lobpreisungen, Opfergaben, die wir

darbringen und Reinigungspraktiken, ist es zum Schluss wie die Verschmelzung mit uns selbst. Zunächst

fällt es richtig schwer, den vollkommen reinen Buddha außerhalb von uns wirklich in uns hineinkommen

zu lassen, in unseren Geistesstrom, in unser Herz. Das sind die ersten kleinen Schritte, wirklich den

Buddha in uns zu entdecken.

In der vierten Stufe des Tantras, Anuttara-Yoga-Tantra, sind wir sofort in einem Moment Buddha, der

Yidam, in dem Fall jetzt Hevajra. Ohne Zögern. Wir haben überhaupt keine Hemmungen mehr, was

unsere Buddha-Natur angeht. Alle Selbstzweifel haben sich aufgelöst. Wir brauchen nur noch mit Hilfe

des Mantras und der Visualisation etwas Erinnerung daran, um in diesem Gewahrsein von uns selbst in

dieser völlig reinen Dimension zu bleiben.

Das ist die ganze Spanne. Dazwischen sind Zwischenstufen im Tantra. Zwischen dem noch zweifeln an

der Buddha-Natur, aber schon innen drin entdecken und der völligen Gewissheit: so ist es. Dazwischen

spannt sich die ganze tantrische Praxis.

Mahamudra-Praxis, weswegen wir hier jetzt zusammenkommen, macht genau das. Sie ist wie die

höchste Tantra-Klasse eine Praxis des Ruhens, des Verweilens im erwachten So-Sein. Da das so leicht,

so schnell nicht geht, gibt es einen stufenweisen Weg, den wir hier jetzt im Rahmen dieser Übertragung

fast ohne tantrische Mittel gehen. Wir werden uns nicht auf die Praxis mit Meditationsgottheiten

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.16 einlassen. Dafür braucht man sehr viel Zeit, muss in längere Retreats gehen, um es in der Tiefe

praktizieren zu können.

Wir gehen den Weg, wie er im letzten Kurs beschrieben wurde: Mahamudra ohne viel tantrische Praxis,

so wie Gampopa unterrichtet hat.

„Wenn die Schüler sich dieser Praxis mit Hingabe widmen, werden sie Erkenntnis erlangen und keine

Zweifel mehr haben“. Jetzt versteht ihr das Wort Zweifel noch besser. Zweifel sind Zweifel, was unsere

eigene Natur angeht, die Natur des eigenen Geistes und des Geistes aller Lebewesen.

Vorbereitungen in der Kagyü-Mahāmudrā-Tradition

Schrittweiser und augenblicklicher Weg

Vorbereitungen in der Kagyü-Mahāmudrā-Tradition

Mahamudra wird in drei der vier großen Schulen Tibets unterrichtet. In der vierten heißt diese sehr

ähnliche Übertragung Dzogchen. Ich bin in der Kagyü-Linie groß geworden bei Gendün Rinpoche. Aus

dieser Tradition gebe ich euch diese Übertragung.

Es gibt zwei Arten von Individuen, die den tiefgründigen Sinn praktizieren können. Da hoffen wir

doch sehr, dass wir zu einer der beiden dazugehören. Dabei ist es wichtig, den Schülern mit reinen

Fähigkeiten den tiefgründigen Weg augenblicklich zu lehren, wohingegen man Anfänger

schrittweise einführen muss.

Das sind die beiden. Die eine Art Praktizierender hat einen so offenen Geist frei von Selbstzweifeln,

dass man ihnen direkt die Natur des Geistes aufzeigen kann. Das kann man übrigens auch bei den

anderen, nur kommt die Botschaft nicht an. Es hindert einen nichts daran, die Natur des Geistes

aufzuzeigen. Nur merkt man, die Person, die einem zuhört oder die mit einem so in die Meditation

geführt wird, kann nicht ganz folgen, der Geist öffnet sich nicht so. Da muss man schrittweise vorgehen. Wir gehen den schrittweisen Weg.

Die frühere und spätere Einführung für Anfänger warnt - es sind zwei Texte -:

„Entsprechend ihrer jeweiligen Befähigung wird man sich für den schrittweisen oder

augenblicklichen Weg entscheiden. Was für Praktizierende des schrittweisen Weges ein starkes

Heilmittel ist, ist starkes Gift für Praktizierende des augenblicklichen Weges, und was für

Praktizierende des augenblicklichen Weges ein starkes Heilmittel ist, ist ein Gift für

Praktizierende des schrittweisen Weges. Den Individuen mit bereits gereinigten Fähigkeiten lehre

den augenblicklichen Weg und jenen, deren karmische Befähigung noch in den Anfängen ist, zeige

den schrittweisen Weg.“

Ich werde euch mit Beispielen erklären, wieso das, was für den einen gut ist, für den anderen Gift ist.

Ich nehme als Beispiel den großen Yogi Milarepa, der vielen von euch bekannt ist, weil er vermutlich

der berühmteste Yogi Tibets ist. Wir könnten denken, dass er einer der Begnadeten war, die den

augenblicklichen Weg gehen konnten. Nein, war er nicht, er ist den schrittweisen Weg gegangen.

Als erstes traf er einen Lehrer der Nyingma-Tradition, also der Dzogchen-Tradition. Dieser lehrte sehr

eindrücklich, dass jeder der Schüler, die vor ihm saßen, eigentlich schon ein Buddha sei, es darum gehe,

sich zu öffnen und zuzulassen - und die Vollkommenheit des Seins zeige sich von selbst. Man solle bitte

jede Anstrengung unterlassen, nur nicht mit irgendeiner Anstrengung dazwischenkommen. Wenn man

das so praktiziere, sei man innerhalb einer Woche erleuchtet. Das trifft auch zu - für Praktizierende vom

augenblicklichen Typ.

Milarepa nahm sich das sehr zu Herzen und machte nicht die geringste Anstrengung. Er vertrödelte

seinen Tag - und nach einer Woche war von Erleuchtung nichts zu merken. Er hatte die Unterweisung

nicht so verstanden, wie sie gemeint war. Er war nicht in dieses klare Gewahrsein eingetaucht, das die

Dinge so sieht und erfährt, wie sie sind, sondern hatte mehr oder weniger geschlafen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 17

Zum Glück hatte dieser Nyingma-Lehrer am Ende der Woche nachts einen Traum, in dem er sah, dass

dieser junge Mann Milarepa nicht zu ihm als Schüler gehörte, sondern zu einem Meister namens Marpa.

Marpa Lotsawa, der Übersetzer Marpa. Und er schickte ihn gezielt zu Marpa.

Marpa sah, wen er da vor sich hatte, und ließ ihn arbeiten, lehrte ihn stufenweise den Weg, und

irgendwann war er bereit zu meditieren. Dann machte er mit großer Anstrengung jede Etappe des Weges

- und es mangelte ihm nicht mehr an Eifer und Anstrengung. Er ist den schrittweisen Weg gegangen,

genau den Weg, der hier beschrieben wird, und ist zum großen Yogi Milarepa geworden, der dann

Gampopas Lehrer war.

Gampopa war einer dieser begnadeten Schüler. Er hat zwar den schrittweisen Weg auch unterrichtet,

verbrachte aber nur insgesamt eineinhalb Jahre bei Milarepa, verwirklichte im Nu die Natur des Geistes

und konnte den Rest des Weges sogar allein gehen, ohne noch in Gegenwart Milarepas zu bleiben.

Wenn man jemanden wie Gampopa, der das Talent hat, die Dinge sofort zu verstehen, festnagelt auf

einen schrittweisen Weg und ihm sagt: jetzt zähle 100.000 Mantras und mache 100.000

Niederwerfungen und dann rezitierst du diesen Text und machst jeden Tag zwölf Stunden

Rezitationspraxis usw.: das wäre Gift für den Weg.

Statt den Geist weiter zu machen, macht es den Geist enger. Das ist nicht angemessen. Das würde ein

Haften an den äußeren Formen der Praxis kultivieren, statt diesem Schüler zu ermöglichen, direkt in die

offene Weite des Erwachens zu gehen.

Es ist so schön, dass es ein Wissen darum gibt, dass verschiedene Schüler Unterschiedliches brauchen.

Um das Ganze noch differenzierter darzustellen: bei jedem von uns braucht es die passende Mischung.

Die Methoden müssen stimmen, das Maß der Anstrengung, welches man aufbringt, muss zu einem

selbst passen, das Maß des Loslassens, des natürlich entspannten Praktizierens, muss zu uns passen.

Dass es für uns stimmt, erkennt man daran, dass der Geist weiter wird, klarer, das Herz aufgeht, Freude

einzieht, wir tief verstehen. Das sind die Hinweise darauf, dass die Praxis stimmt. Daran müssen wir

uns orientieren.

Wird der tiefgründige Weg des Eigentlichen [Mahāmudrā] als eigenständiger Ansatz betrachtet,

empfiehlt Meister Gampopa, ihn unabhängig von den Tantras zu lehren - wie wir das jetzt machen.

Dann, so sagt es, braucht es für seine Übertragung keine vorbereitende Ermächtigung - in eine

tantrische Praxis -, die zur Reifung [des Potentials der Schüler] beiträgt. Die Schüler richten sich

auf die Zuflucht in den Guru - die Übertragungslinie, die bis zum Guru geht - und die Drei Juwelen

aus, meditieren in Liebe, Mitgefühl und Bodhicitta, bringen Maṇḍalas an sie dar, bekennen alles

Schädliche vor ihnen, bringen durch Gebete stärkste Hingabe hervor und können nur auf dieser

Grundlage in die Natur des Geistes eingeführt werden.

Diese verschiedenen Schritte sind genau das, was wir in dieser Woche studieren und durchnehmen

werden. Deswegen erkläre ich sie jetzt nicht im Detail.

Jedoch sollten die höchst Befähigten des augenblicklichen Weges schon zu Beginn die Sicht suchen - also die unmittelbare Sicht der Natur des Seins -, um dann mündliche Unterweisungen zu erhalten,

den Geist in Meditation genau darin zu sammeln, so wie es heute - zur Zeit als der Autor diesen Text

schrieb - als „Mahāmudrā in Vier Silben“ gelehrt wird.

Dieser Ansatz „Mahamudra in Vier Silben“ - diese Sanskrit-Silben sind A Ma Na Si - und bedeutet

‚nicht vom Geist erzeugt‘, amanasikāra.

A steht dafür, direkt zur Basis der Geistes-Natur zu gehen. Ma bedeutet, den Geist darin verweilen zu

lassen. Na erinnert daran, ohne Abschweifen gewahr zu bleiben. Und Si weist darauf hin, den Geist

selbst als Weg zu nehmen. Eigentlich wurde dieses Wort genommen, um zu sagen: Erzeuge nichts im

Geist und erfahre direkt die nicht vom Geist erzeugte Natur des Geistes.

Dann wurden die Silben einzeln aufgelistet, so wie man das macht: man lässt in der Praxis alles andere

Greifen los und lässt das Gewahrsein dessen, wie es ist, in sich auftauchen. Man übt sich darin, sich

nicht irgendwo anders in dualistisches Greifen hineinziehen zu lassen, ohne Abschweifen gewahr zu

bleiben und so in jeder Situation den Geist selbst als Weg zu nehmen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.18 Das wäre die Praxis für diejenigen, die schon bei der Einführung in die Natur des Geistes diese

verstehen. Das hört sich auch für uns alle ganz wunderbar an, eigentlich möchten wir alle so

praktizieren. Irgendwie sind wir alle, fast alle, sehr inspiriert davon, ganz natürlich zu sein und der Geist

öffnet sich. Es mag sein, dass es hin und wieder auch mal passiert. Wenn wir aber den Zugang zu dieser

Dimension suchen und allein zuhause wiederfinden wollen, dann merken wir, dass es irgendwie nicht

klappt: so viele Gedanken, so viele Emotionen, unglaublich, was da los ist.

Dann brauchen wir Methoden, mittels derer wir schrittweise den Weg gehen können. Zum Beispiel den

Körper spüren, den Atem, die Empfindungen des Einatmens, des Ausatmens, ein bisschen stabilisieren,

und dann bemerken, dass diese Empfindungen des Ein- und Ausatmens sich ständig wandeln, immer

ein bisschen anders sind, was uns in eine Kontemplation der Vergänglichkeit, der Unbeständigkeit aller

Dinge führt.

Wir bemerken, dass das, was wir beim Atem beobachten, für alle Körperempfindungen gilt, für alle

sonstigen Sinneswahrnehmungen, für alle Gedanken. Wenn wir abgelenkt werden durch

Gedankenketten, kommen wir direkt wieder zum Atem zurück. Von da beginnt die Praxis immer wieder

neu: das Gewahr-werden der dynamischen Natur aller Erfahrungen. Dafür ist der Atem ideal.

Das nennt man Methode. Das ist eine Stütze, eine ganz einfache Stütze der Praxis, die jemand von dem

augenblicklichen Typ nicht nutzen würde. Er bräuchte sie nicht, es geht immer wieder um das direkte

sich-Öffnen.

Aber alle, die wie wir - nehme ich an - von den Gedankenketten fortgetragen werden, brauchen eine

Stütze.

Schüler von geringerer Befähigung, die für den schrittweisen Weg geeignet sind, werden zunächst

in Geistesruhe eingeführt - zum Beispiel mit dieser Atemmeditation -, dann in Intuitive Einsicht -

der erste Schritt dabei ist, die Vergänglichkeit, die Unbeständigkeit aller Dinge zu bemerken -, und dann

- wenn sie darin gut verankert sind - bekommen sie heutzutage - damals im 16. Jahrhundert - die

Unterweisungen zur Zugleich Entstehenden Einheit.

Dass alles, was im Geist auftaucht, gleichzeitig mit seinem Auftauchen keinerlei Substanz hat, leer ist,

Erscheinen und Leerheit eine untrennbare Einheit sind - auch dualistische Prozesse: ich will, ich will

nicht, ich nehme wahr - im gleichen Moment seines Erscheinens das erwachte Gewahrsein ist, dieselbe

Geistesnatur hat wie die Erscheinungen im Geiste eines Erwachten. Das nennt man zugleich entstehende

Einheit. Es ist ein Synonym für Mahamudra und bedeutet, dass zugleich mit unserer Verwirrung immer

auch das Erwachen da ist. Zugleich, immer. Egal, wie verwirrt wir sind, es ist genau in dem Moment

der Verwirrung auch die Erkenntnis der Natur des Geistes möglich.

Die Begründungen für dieses Vorgehen werden in Gampopas kostbaren Gesammelten Werken

gegeben, in seinen mündlichen Anweisungen und den „Antworten auf Fragen“ sowie in seinem

Dharma-Erbe, das in den Gesammelten Werken des segensreichen Pamo Drupa und des

ehrwürdigen Düsum Khyenpa zu finden ist.

Dieser Hinweis ist für die gelehrteren Leser dieses Textes. Damit sagt Dakpo Tashi Namgyal einfach:

was ich jetzt hier kurz zusammengefasst habe, findet ihr ausführlich in den Gesammelten Werken von

Gampopa und zweien seiner großen Schüler: Pamo Drupa und dem ersten Karmapa, Düsum Khyenpa. Dort ist alles genau beschrieben, was hier gemeint ist.

Fragen

Teilnehmer/-in: Nochmal zum Vier-Silben-Mahamudra: ist das das gleiche, was Kamalashila in seinem

Werk benutzt? Kannst du wiederholen, was du gesagt hast? Mir war das zu schnell.

Ja, das ist dasselbe. Das geht auf die Zeit noch vor Kamalashila zurück. Es ist der kürzeste und direkteste

Weg in eine Praxis der Natur des Geistes. Die Erklärungen der vier Silben habe ich in die Fußnote

geschrieben unten auf Seite 4. Was genau oder darüber hinaus interessiert dich daran?

Die Praxis.

Die Praxis habe ich gerade aus dem eigenen Erleben geschildert. Ich bin zwar auch vom schrittweisen

Typ, aber irgendwann kann man die dann auch. Die einfachste Form dieser Praxis ist: wir brauchen eine

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 19

klare Erfahrung des Erwachens, der Natur des Geistes. Das ist der Startpunkt. Für die anderen kommt

die Praxis nicht in Frage.

Wenn wir gerade in gewisser dualistischer Verwirrung sind, ist der erste Schritt, sich daran zu erinnern:

eigentlich geht es darum, in der non-dualen, offenen Dimension des Geistes zu ruhen. Dann springt wie

ein innerer Sensor, ein Wissen an darum, in welchem Bereich des Seins das zu finden ist, wo es sich am

leichtesten auftut.

Wir öffnen uns in diese Gewahrseins-Schau hinein. Dabei bleibt zunächst noch eine gewisse

Achtsamkeit, Wachheit aktiv, die die eigene Instabilität bemerkt und die kleinen Impulse, in ein

dualistisches Greifen zu gehen. Diese Impulse, ins Greifen zu gehen, werden entspannt. Wir nehmen sie

schon im Anfangsstadium ganz fein wahr, entspannen uns wieder. Damit kehrt Stabilität ein mit der

Gewissheit, dass man sowieso nie etwas anderes braucht, als den Geist mit seinen von selbst

entstehenden Erfahrungen, um in der Erfahrung des Erwachens immer weiter aufzugehen.

Das war jetzt wieder mit etwas anderen Worten die Beschreibung desselben.

Der Ausgangspunkt ist immer ein anderer?

Der Ausgangspunkt ist immer das Jetzt mit der jetzigen Verwirrung, und das sich-Erinnern daran, dass

es auch einfacher geht. Man ist absolut gewiss. Man hat es nur vergessen, dass es wirklich ohne dieses

Greifen geht, und dann erinnert man sich an dieses Sein ohne Festhalten und da öffnet sich dann schon

das Tor. Das ist der einfache, schnelle Weg.

Teilnehmer/-in: Du hast eben gesagt, dass wir hier den nicht-tantrischen schrittweisen Weg lernen, weil

wir für den tantrischen Weg lange Zurückziehungen machen müssten. An anderer Stelle hast du mir mal

persönlich gesagt, dass ich am besten schön weiter mein Ngöndro machen soll. Wie kriege ich das jetzt

zusammengepuzzelt?

Indem du ehrlicherweise zugibst, dass Ngöndro, diese Vorbereitenden Übungen, um die es diese Woche

gehen wird, noch nicht wirklich der tantrische Weg sind. Er wird nur gestreift, um ein bisschen was vom

Nutzen des tantrischen Weges zu haben. Mit Tantra-Klassen ist hier eine ganztägige Praxis dieser

Buddha Aspekte gemeint, wie in der ausführlichen Vajrayogini-, Chakrasamvara- oder Hevajra-Praxis

usw., wo man alle Zeit der Welt hat, in diesem Buddha-Gewahrsein anzukommen.

Das ist euch aufgrund der knappen Zeit nicht möglich, euch so intensiv darauf einzulassen. Trotzdem

hast du Nutzen davon, das Ngöndro zu machen. Das Ngöndro, diese Vorbereitenden Übungen, werden

hier noch nicht als volle tantrische Praxis gezählt, sondern nur aus der Sicht Gampopas als das

Minimum, was es braucht, um für das Mahamudra vorbereitet zu sein.

Ich werde versuchen, euch im Laufe der Woche aufzuzeigen, um welche Qualitäten es in diesen

einzelnen vorbereitenden Übungen geht. Dann könnt ihr selbst schauen, ob diese Qualitäten schon

ausreichend vorhanden sind oder ob es vielleicht für euch auch andere Wege gibt, diese zu entwickeln. Aber diese klassischen Methoden werde ich natürlich auch zumindest ein bisschen erklären.

Teilnehmer/-in: Du hast gesprochen von Menschen, die den schrittweisen Weg brauchen, und der Weg

ist eben auch ganz viel Praxis. Besteht diese Praxis nur aus Retreats oder kann es auch zum Beispiel in

Form von Therapie sein? Oder ist Therapie noch der Reinigung zuzuordnen? Könnte es sein, wenn man

diese Reinigung durchlaufen hat, dass man gar nicht mehr den schrittweisen Weg bevorzugt und Schnell-

Checker ist?

Ich verstehe die Frage. Ein guter Versuch, irgendwie doch noch in den augenblicklichen Weg

reinzukommen. Therapie, speziell Psychotherapie mit ihren vielen Unterformen, hilft unglaublich

aufzuräumen und bereitet den Weg, um überhaupt Geistesruhe und intuitive Einsicht mit Aussicht auf

Erfolg praktizieren zu können.

Solange wir noch nicht aufgeräumt haben, ist unser Geist so aufgewühlt und so beschäftigt mit den

inneren Anliegen, dass wir vielleicht partiell so eine Praxis machen können. Es ist durchaus möglich,

mit ungelösten intrapsychischen Dynamiken die Vorbereitenden Übungen zu machen und auch eine

gewisse Geistesruhe zu erlangen. Aber irgendwie steht uns im Weg, was wir noch an Knoten mit uns

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.20 tragen. Also egal wann auf dem Weg, kann ich sehr dazu raten, sich auch psychotherapeutische

Unterstützung zu nehmen.

Die hat mir auch jetzt vor kurzem noch sehr geholfen, meine eigenen verbleibenden Knoten zu lösen. Es gibt keinen Moment des Weges, wo man sie nicht in Anspruch nehmen sollte. Aber sie hat noch nie

die Wirkung gehabt, dass jemand aufgrund von Psychotherapie augenblicklich die Natur des Geistes

erkennen würde.

Diese Fähigkeit oder Möglichkeit, die Natur des Geistes direkt zu verstehen, wenn sie einem aufgezeigt

wird, ist gar nicht so stark abhängig davon, wie sehr man schon seine emotionalen Knoten aufgeräumt

hat. Das wird in dem Moment gar nicht so tangiert.

Sie entsteht dadurch, dass eine große Inspiration entsteht, wenn man den Dharma-Unterweisungen über

die Natur des Geistes zuhört. In dieser Inspiration entsteht aufgrund der Hingabe, der Öffnung ein

direktes Sehen und Verstehen, das nicht über den Verstand geht. Man taucht in die Schau der Natur des

Geistes, in die Erfahrung ein in Gegenwart des Lehrers und braucht dann Unterweisungen, wie man das

zuhause stabilisieren kann. Man kann dabei durchaus noch viele emotionale Knoten mit sich

herumtragen.

Um euch eine Idee zu geben: Gendün Rinpoche hat sehr viel unterrichtet. Unter den Hunderten und Tausenden von Leuten, die zu seinen Unterweisungen gekommen sind, waren hier und da mal einzelne,

die zu diesem augenblicklichen Typ gehörten.

Beim augenblicklichen Typ gibt es auch diejenigen, die instabil zum augenblicklichen Typ gehören: die

zwar die Natur des Geistes mal erfahren, aber wenn sie dann allein sind, nicht einmal mehr Geistesruhe

zur Verfügung haben, geschweige denn Einsicht - also zwar die Fähigkeit zu großer Öffnung, aber dann

große Mühe, das im Alltag stabilisiert zu bekommen. Das ist die häufigere Unterform des

augenblicklichen Typs. Wir nennen das den sprunghaften Typ: manchmal ganz große Einsicht und

manchmal tiefe Verzweiflung.

Der augenblickliche Typ in Reinform braucht nur ein kleines bisschen Hilfe, um sich in dieser

Erkenntnis zu stabilisieren. Das ist extrem selten. Man findet ihn selbst unter den sogenannten Tulkus

kaum, denjenigen, von denen es heißt, dass sie bewusste Wiedergeburten sind von jemandem, der im

vorhergehenden Leben schon stabile Erkenntnis hatte. Selbst die Tulkus gehören in diesem Leben nicht

unbedingt zum augenblicklichen Typus. Sie gehören meistens zu einem schnell fortschreitenden

schrittweisen Typ.

Nur um euch alle Illusionen zu nehmen, was das angeht.

Teilnehmer/-in: Frage zur Reinigung. So wie ich Psychotherapie erlebe, geht es darum zu bearbeiten:

was ist mir passiert, vielleicht wurde ich nicht gut behandelt in der Kindheit usw., und bei der

Vorbereitenden Übung Vajrasattva geht es um Kontemplieren und - ich habe nicht so viel Erfahrung -

meinem Verständnis nach eher darum, was habe ich gemacht, wo habe ich selbst unheilsam gehandelt.

Das ist richtig. Diese Unterscheidung ist schon mal sehr wichtig.

Ist es wie zwei verschiedene Vorgehensweisen, um die gleiche Art von Reinigung zu machen - oder ist

erst einmal in der Psychotherapie „was ist mir passiert“, dann kann ich besser auch das loslassen, was

ich gemacht habe. Wie stehen die in Relation zueinander?

Du könntest die beiden so in Wechselbeziehung stellen. Erinnert euch daran, wie ich euch das erklärt

habe. Das kann nämlich die Psychotherapie gar nicht leisten. Es geht darum, das Vertrauen in die eigene

Buddha-Natur zu finden. Das ist nicht normaler Teil der Psychotherapie, es geht weit darüber hinaus. Deswegen geht das, was wir Reinigen und Auflösen der Selbstzweifel nennen, weit über die Arbeit an

dem schwankenden Selbstbewusstsein in der Psychotherapie hinaus. Es ist ein Vertrauen finden in die

urgesunde, heile Geistesnatur. Wir haben versucht, in der Essentiellen Psychotherapie dieses Element

hineinzunehmen. Es spielt dort eine Rolle, aber sprengt normalerweise den Rahmen der klassischen

Psychotherapie.

Was hier mit Reinigung gemeint ist, ist sehr viel mehr als ein Aufräumen der emotionalen Konflikte.

Egal ob man das aus der Perspektive macht ‚was ist mir widerfahren‘ und ‚was hätte ich eigentlich

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 21

gebraucht damals‘ und ‚wie habe ich gehandelt und wie kann ich besser handeln‘. Es geht weit über das

hinaus.

Die eigentliche Vorbereitung ist, mit unserer Sperre, unserem Zweifel aufzuräumen: ich bin nicht in der

Lage zu erwachen, mich und den Buddha trennt ein fundamentaler Unterschied. Was für ein Irrtum. Das

ist nicht wirklich das Anliegen der Psychotherapie.

Annäherung von Mahamudra und Tantrayāna

Später haben die Halter der Praxislinie die Lehren des Mahāmudrā den Praktiken des Tantra

angenähert.

Da wurde nach Gampopa wieder eine stärkere Annäherung der Praxisströme des Tantrayāna, auch

Vajrayana genannt, und des Mahamudra vorgenommen. Dadurch entstanden die berühmten fünf Schritte

des Mahamudra. Der Lehrer, der das vor allen Dingen gelehrt hat, war Pamo Drupa, ein naher Schüler

Gampopas.

Zunächst entwickeln wir Bodhicitta, den Geist des Erwachens. Dann praktizieren wir eine Yidam-

Gottheit, also eine Meditationsgottheit, das ist tantrische Praxis. Dann richten wir uns dabei auf den

Guru und die Übertragungslinie aus, treten in den Segen ein, verschmelzen mit dem Guru und üben die

Mahamudra-Meditation des natürlichen Verweilens, wo wir keinerlei Vorstellungen mehr erzeugen.

Und schließlich Widmung.

Auch der Einführung in die zugleich entstehende Einheit oder in die Vier Silben sollten vier

Vorbereitungen vorangehen, um Meditation hervorzubringen - selbst wenn wir direkt eingeführt

werden könnten, sollten wir Folgendes kontemplieren -: der Zyklus der Kontemplationen über

Unbeständigkeit - Vergänglichkeit, Wandel -, die Meditation-Rezitation von Vajrasattva - diese

Hundert-Silben-Reinigungspraxis - das Darbringen von Maṇḍalas und der Guru Yoga.

Diese Praktiken hält Dakpo Tashi Namgyal für absolut essentiell, ohne diese kommt man praktisch gar

nicht aus. Zuflucht und Bodhicitta setzt er dabei einfach voraus, die werden gar nicht erwähnt.

Ermächtigung Da diese Praktiken mit tantrischen Elementen vermischt sind, müssen die Schüler zuerst eine

ausführliche oder kurze zur Reifung bringende Ermächtigung erhalten - also eine Einführung

durch einen Vajra-Meister.

Essentielle Sphäre des Mahāmudrā sagt:

„Ohne Ermächtigung keine Verwirklichung, so wie Reiben von Sand kein Öl gibt.“

So steht das zwar hier, aber wir müssen fairerweise sagen: es haben doch sehr viele Menschen auf diesem

Erdball schon Verwirklichung erlangt, ohne eine tantrische Ermächtigung erhalten zu haben. So ganz

kann das nicht stimmen, was hier steht. Schließlich ist der tantrische Buddhismus eine Spätentwicklung

im Buddhismus und in all den Jahrhunderten zuvor gab es auch schon verwirklichte Praktizierende. Deshalb nehmt diesen Werbespot nicht allzu ernst. Es geht auch ohne.

Vielleicht ist es etwas einfacher, wenn man auf die richtige Art mit tantrischen Mitteln praktiziert. Aber

tatsächlich haben schon sehr viele Praktizierende Verwirklichung und vollkommene Verwirklichung

erlangt, ohne solch einen Prozess mit tantrischen Methoden durchlaufen zu haben. All die nahen Schüler

des Buddhas, von denen wir wissen, haben keine solchen Prozesse durchlaufen.

Jetzt kommt die Erklärung dafür. Eigentlich ist das Verweilen in der Nähe eines vollkommen erwachten

Meisters in sich bereits ein tantrischer Prozess. Stellt euch vor, ihr wärt Schülerinnen, Schüler in der

unmittelbaren Nähe des Buddha gewesen oder eines anderen Meisters oder einer Meisterin, der oder die

euch total inspiriert.

Dieser Meister lebt in der totalen Gewissheit, dass du und ich, wir alle dieselben Geistesqualitäten haben

wie er oder sie, und wir sind ständig in diesem Feld der Gewissheit, dieser Ausstrahlung, wo um den

Buddha herum gar kein Zweifel besteht, dass jeder erwachen kann wie er selbst.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.22 Da der Buddha oder diese/r erwachte Meister/in vollkommen frei von Schleiern ist, ist jede Interaktion

mit ihm ein Spiegel für unsere eigene Neurose, für unsere eigene schwankende Natur, für unsere

Anhaftung, unsere Ablehnung.

Es kommt zu einem höchst dynamischen Prozess in einem Feld, wo die Gewissheit ist, dass jeder

erwachen kann und wo ständig das gespiegelt wird, was uns daran hindert, ohne dass jemand dies

beabsichtigt - weil der Meister, die Meisterin natürlich nicht auf unsere Neurose einsteigt. Das Ganze

getragen von einem Geist totaler Hingabe und Öffnung.

Das trugen die Schüler des Buddha in sich: völlige Öffnung, Hingabe. Die brauchten nicht extra noch

Guru-Yoga zu praktizieren. Sie haben das Beispiel des Buddhas in sich aufgenommen als ein Bild von

dem, wie sie selbst sind. Sie haben seine Worte aufgenommen als das, worauf es zu kontemplieren gilt.

Da brauchte es nicht extra noch Yidam-Praxis und Guru-Yoga usw. Das war und ist auch immer noch,

wenn solche inspirierenden Meister da sind, ein automatisch stattfindender Prozess.

Die tantrischen Praktiken bilden diesen Prozess im Rahmen einer Meditation auf uns selbst als Yidam,

als Buddha-Aspekt ab. Die ganze tantrische Praxis ist ein Nachempfinden, ein Erleben des Seins in

Gegenwart des Buddha, wo wir keinerlei Trennung mehr aufrechterhalten.

Diejenigen von euch, die tiefer in der Praxis sind, wissen, da gibt es die Vor-uns-Visualisation, das ist,

als ob wir vor dem Buddha sitzen würden, dann gibt es die Selbst-Visualisation, dann gibt es das

Verschmelzen der beiden. Das sind die Prozesse, die in einer echten Lehrer-Schüler-Beziehung ohnehin

stattfinden. Wenn wir das so verstehen, können wir sagen: jetzt verstehe ich. Ermächtigung, das ist

genau das, was damals stattgefunden hat, oder was auch bei Zen-Meistern mit ihren Zen-Schülern

stattfindet.

Es findet eine Übertragung des Vertrauens statt: du kannst genauso erwachen wie ich, zweifle nicht. Gehe in das Sein hinein, gehe in das direkte Erleben hinein. Das ist Ermächtigung im tieferen Sinne des

Wortes, nicht das Ritual der Ermächtigung, sondern dass dieses Vertrauen überspringt: tatsächlich, es ist

möglich, ich kann erwachen, kein Zweifel. Wenn diese Gewissheit entsteht, dann hat Ermächtigung

stattgefunden.

Schädelschale der Buddhas: „Auch wenn sonst alles komplett ist, gibt eine Laute ohne Saiten

keinen Klang. Genauso gibt es ohne Ermächtigung keine Verwirklichung von Mantras und

meditativer Versenkung - Samadhi -.

Jetzt übersetzt das Wort Ermächtigung so, wie ich es erklärt habe. Genauso gibt es ohne volles Vertrauen

in die eigene Buddha-Natur keine Verwirklichung von mantrischer Praxis und meditativer Versenkung.

So macht es mehr Sinn für euch.

Der Geist darf nicht im Geringsten von Selbstzweifeln aufgewühlt sein. Er braucht dieses Ruhen in der

Gewissheit: es ist alles da, was es braucht zum Erwachen, es fehlt nichts. Dieser Geist braucht nicht

anders zu sein. So wie er ist, in seiner wahren Natur – das ist es. Da nähern wir uns dem eigentlichen

Sinn dieser Erklärungen.

In der Lehrtradition aber, wo es nur um Mahāmudrā geht, wie bei Meister Gampopa, braucht es

keine zur Reifung bringenden Ermächtigungen - weil Gampopa genau diesen Punkt gelehrt hat, den

ich euch jetzt in meinen Worten erklärt habe. Die Schüler praktizieren dann die von Gampopa

empfohlenen Vorbereitungen, ohne Vajrasattva-Praxis, ohne Selbstvisualisation als Gottheit und

ohne den als - Buddha - Vajradhara visualisierten Meister um Ermächtigung zu bitten.

Manche fragen sich, ob das Zählen der Atemzyklen, die Atemübungen und dergleichen

Anweisungen zum Entwickeln geistiger Ruhe nicht auch tantrischen Ursprungs sind. Doch das ist

nicht der Fall; Sammlung mit dem Atem, Atem-Zählen und viele ähnliche Praktiken werden

bereits in den Sutras als Mittel zum Beruhigen des Geistes gelehrt.

Um die Verwirklichung zu fördern, sind aber heutzutage Mahāmudrā-Meditation und

Mantrayāna eng verbunden und tantrische Praktiken sind auch Teil der Vorbereitungen. In

diesem Fall ist eine vorangehende zur Reifung bringende Ermächtigung obligatorisch und eine

ausführliche oder kurze Ermächtigung zu einer Meditationsgottheit aus einem Tantra mit

kontinuierlicher Segenslinie wie Cakrasaṃvara in Vereinigung ist nötig.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 23

Wer tantrische Praktiken üben möchte, soll sich darum kümmern, die entsprechende formelle

Ermächtigung zu erhalten.

Fragen Teilnehmer/-in: Du hast über völlige Hingabe zum Lehrer gesprochen. Ist völlige Hingabe möglich mit

wenig Selbstvertrauen? Das eine hängt doch vom anderen ab. Kann ich Hingabe zum Lehrer überhaupt

haben, wenn ich mir meiner selbst noch gar nicht bewusst bin?

Schwaches Selbstbewusstsein führt normalerweise zu einer emotionalen Form von Hingabe, die nicht

sehr förderlich ist für Seinserkenntnis, weil dann ganz viele Projektionen stattfinden: der Lehrer/die

Lehrerin als der/die Retter/in. Vieles, was gar nicht förderlich ist dafür, sich diesem Bewusstsein zu

öffnen, dass alles gut ist und bereits da ist, und ich gar nichts vom anderen brauche. Ich brauche nicht

noch irgendetwas Spezielles zu bekommen, damit dieser Geist in Ordnung ist. Da stimme ich dir schon

mal zu.

Dann gibt es aber bei Menschen, die emotional unaufgeräumt sind und noch nicht so ein stabiles

Selbstvertrauen oder Selbstbewusstsein haben, Momente von völlig unneurotischem Offensein, wo

Öffnung geschieht unabhängig von den sonstigen Mustern. Auch da kann es authentische Hingabe gebe,

streckenweise, momentweise. Es kann mal passieren, dass der Geist des Zuhörenden und des

Unterrichtenden eins werden - also in dieselbe Dimension eintauchen. Das ist nicht ausgeschlossen.

Was du richtig erkannt hast: es ist nicht zwingend, dass es einem den Zugang zu einer direkten Erfahrung

des So-seins verbauen würde.

Tatsächlich ist es so, dass eine authentische Hingabe immer leichter der Fall ist, je mehr wir in uns ruhen,

je mehr wir schon zu uns selbst gefunden haben, zu einem gesunden Selbstbewusstsein. Dann ist auch

unsere Hingabe gesund. Dann ist es keine blinde Hingabe, kein blinder Glauben voller Übertragungen.

Insgesamt geht es in diese Richtung, zu einem gesunden Selbstbewusstsein zu finden, in dem wir uns

öffnen können, ohne die Angst zu haben, uns dabei zu verlieren. Es geht nicht darum, sich zu verlieren,

sondern nur, sich zu vergessen. Das ist ein Unterschied.

Wie sind deine Worte zum Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen?

Ich würde mich da an denjenigen anpassen, mit dem ich spreche. Ich kann sie nicht deutlich voneinander

abgrenzen, ich müsste in die Worte etwas hinein interpretieren und würde sie vielleicht überladen mit

Bedeutung.

Selbstvertrauen ist mir als Wort näher, weil es um das Vertrauen geht, dass dieser Geistesstrom erwachen

kann.

Mit Selbstbewusstsein verbinden wir ein gesundes Selbstbewusstsein, ähnlich wie gesundes

Selbstvertrauen. Ich würde damit verbinden: sich bewusst zu sein, was alles in diesem Geistesstrom los

ist. Aber Worte kann man so und so definieren.

Ihr wundert euch vielleicht, dass ich überhaupt Worte wie Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein

benutze, wo es doch gar kein Ich oder Selbst gibt. Wir sprechen ja ständig von Nicht-Selbst, Anatman. Damit ist aber nur gemeint, dass es kein stabiles, bleibendes persönliches Selbst gibt, sondern dass es

ein dynamischer Prozess ist. In diesem Sinne, als dynamisches Selbst, kann man auch von einem wahren

Selbst sprechen, wenn dieses dynamische Selbst, dieser Geistesstrom, von aller Identifikation befreit

ist. Dann zeigen sich die Qualitäten von uns selbst als Erwachte. Das ist das wahre Selbst.

Das waren jetzt ein paar Brückenschläge über die Sprache.

Meditation

Lasst den Körper entspannt - und lasst auch den Geist in Ruhe. Lasst den Geist so weit werden wie den

Himmelsraum - oder wie eine riesengroße Weide, auf der die Pferde galoppieren können. - - -

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.24

Vorbereitende Übungen

Die fünf besonderen vorbereitenden Übungen

1. Unbeständigkeit kontemplieren und andere Methoden, um Faulheit auf-

zulösen

Vorbereitende Übungen

Die fünf besonderen vorbereitenden Übungen

1. Unbeständigkeit kontemplieren und andere Methoden, um Faulheit aufzulösen - also Methoden,

um uns zu motivieren.

Die Praktizierenden bringen den starken Wunsch nach der Befreiung hervor, um die es eigentlich

geht, indem sie in allen Einzelheiten kontemplieren,

- wie schwer die Freiheiten und Qualitäten [eines kostbaren Menschenlebens] zu finden sind,

die es ermöglichen, das große Anliegen zu verwirklichen,

- wie schnell die Unbeständigkeit das Leben ändert,

- wie machtlos wir nach dem Tod sind,

- wie sich dann heilsame und schädliche Handlungen spezifisch und unvermeidbar auswirken,

- welch unterschiedliche Erfahrungen die drei Arten Handlungen [heilsame, schädliche und

nicht weiter definierte - sogenannte neutrale Handlungen -] bewirken und

- wie dadurch die Leiden der sechs Arten Lebewesen - also die Lebewesen in den sechs Daseins-

bereichen - und die Freuden des Existenzkreislaufes entstehen, die alle denselben Nachteil [der

Unfreiheit] aufweisen.

Das ist eine Menge Stoff. Das ist grundlegender Dharma, den einige von euch schon viele Male gehört

haben. Wenn ich ein klassischer, alter tibetischer Lehrer wäre, würde ich von den acht Tagen, die wir

insgesamt haben, bestimmt sechs Tage mit diesen Themen verbringen - und dann ein bisschen Ma-

hamudra unterrichten. Das mache ich nicht, aber ein bisschen muss ich euch das erklären, denn nicht

alle von euch haben es schon so viele Male gehört.

Ich gebe euch jetzt einige essentielle Unterweisungen zu jedem dieser Punkte. Es gibt viele Dharma-

Bücher, in denen ihr das ausführlich nachlesen könnt.

Die Freiheiten und Qualitäten eines kostbaren Menschenlebens kontemp-

lieren

Der erste Punkt heißt: die Freiheiten und Qualitäten eines kostbaren Menschendaseins kontemplieren.

Da geht es vor allen Dingen darum, dass wir das, was wir jetzt haben, nicht für selbstverständlich halten.

Lasst uns kurz reflektieren: wie viele Leute in diesem wunderbaren Lenzkirch haben die Motivation und

die Bedingungen, um einen intensiven spirituellen Weg zu gehen, einen Weg, der wirklich zur Befreiung

führt? Und wir sind in einem exquisiten Schwarzwaldstädtchen im reichen Deutschland, mit viel Zeit,

aber selbst hier - oder geht nach Freiburg, geht in eure Städte, geht nach Straßburg, Colmar.

Wie viele Menschen haben all die Bedingungen, unter denen sie sich mit einem Weg des Erwachens

tief befassen können? Sie könnten es, aber oft fehlt es ihnen an Interesse, an Vertrauen. Obwohl das

Internet alles bietet, surfen sie im Internet und in den Fernsehkanälen ganz woanders herum als dort, wo

es Dharma, befreienden Dharma zu finden gibt. Ganz zu schweigen von Anwendung in der Praxis.

Wenn ihr über den Planeten schaut, die Kontinente anschaut: wie viele Gegenden sind von Problemen

heimgesucht? Hunger, auch Durst, Bürgerkriege, Kriege, unsichere soziale politische Verhältnisse, die

es einem schwer machen, sich innerlich frei zu fühlen und die Zeit zu haben, sich solch einem spirituel-

len Weg zu widmen. Es sind Milliarden auf diesem Planeten, die nicht diese Bedingungen haben.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 25

Unter den Milliarden, die sie eigentlich hätten, sind die meisten mit etwas anderem beschäftigt. Schaut

einfach in die eigenen Familien. Das Leben rinnt vorbei. Zu denken, wir könnten dieses Menschenleben

schnell nochmal haben, diesen Menschenkörper ablegen und den nächsten Menschenkörper einfach an-

nehmen - das ist ein bisschen blauäugig. Wenn wir diese Chance jetzt nicht genutzt haben, getrödelt

haben oder sogar sehr viel Negativität aufgehäuft haben: was garantiert uns, dass wir die Chance noch-

mal bekommen?

Darüber gilt es nachzudenken, denn wenn uns im Nachtodzustand Muster beschäftigen, die von Angst

geprägt sind, von starker Ich-Bezogenheit, Ärger, Begierde usw., dann sausen wir in diese Bereiche ab.

Das gibt keine so wunderbare Wiedergeburt, wo alle Bedingungen dafür zusammenkommen.

Die Kontemplation besteht darin, jetzt gerade wertzuschätzen, dankbar zu sein dafür, welche Freiheiten

wir gerade haben, welche Qualitäten in unserem Leben sind - mit der Entscheidung, diese dann auch

sofort zu nutzen.

Unbeständigkeit kontemplieren

Punkt zwei: schnell ändert Unbeständigkeit unser Leben. Einige, die gern am Kurs teilgenommen hätten,

können nicht da sein wegen Krankheit. Schnell kann man auch seinen Beruf verlieren. Oder die Familie

stürzt in eine Krise und man muss sich kümmern. Einige sind nicht da, weil ihnen gerade Zeit fehlt. Sie

müssen sich unbedingt um ihre Eltern kümmern. Und sicherlich sind auch einige gestorben. Das alles

geht sehr schnell, sehr schnell.

Eine von unseren engeren Vertrauten, eine junge Französin, liegt mit elf schwersten Rippenbrüchen und

gebrochener Hüfte nach einem furchtbaren Autounfall in Straßburg im Krankenhaus und kann nicht hier

sein. Sie ist gerade noch mit dem Leben davongekommen.

Machen wir uns das klar. Kostbar ist dieses Menschenleben, sehr wertvoll, alle Bedingungen sind ei-

gentlich da. Und schnell kann etwas passieren, dass es vorbei ist. Und sowieso dauert es nicht lange.

Von jetzt bis zum Tod dauert nicht so lange. Das sind hoffentlich noch Jahrzehnte für jeden von uns.

Du bist vielleicht unser Ältester, 83 ist ein gutes Alter. Du bist unser Seniorchef und hast die Jahre schon

gut genutzt, hast gut genutzte Jahrzehnte hinter dir, bist deswegen gut vorbereitet. Das ist wichtig.

Machtlosigkeit nach dem Tod kontemplieren

Dann können wir gelassen in den großen Übergang gehen. Denn wenn wir nicht gut vorbereitet sind

und unser Geist nach dem Tod im Zwischenzustand so herumgetrieben wird wie nachts in unseren Träu-

men, dann will das nichts Gutes verheißen. Wie viel Macht habt ihr nachts in euren Träumen? Wie

bewusst seid ihr? Bekommt ihr mit, dass ihr träumt? Könnt ihr die Träume lenken, könnt ihr euch be-

freien aus den Illusionen der Träume? Darauf kommt es an nach dem Tod: die Fähigkeit voll bewusst

zu werden, während der innere Zirkus abgeht. Sonst können wir nur hoffen, dass wir einen guten Traum

haben und hoffentlich in etwas Gutes hineingezogen werden.

Wer frei sein möchte nach dem Tod und Einfluss darauf haben möchte, was da passiert, braucht die

Fähigkeit, den eigenen Geist bewusst ausrichten zu können - so wie jetzt nachts beim Träumen. Wenn

wir diese Fähigkeit im Leben noch nicht haben, werden wir sie auch dann nicht haben, wenn Körper

und Geist getrennt sind. Der Traumzustand ist ganz ähnlich wie das, was wir erleben werden, wenn

Körper und Geist getrennt sind. Erst ist alles noch schön offen, dann beginnen sich die Sinneserfahrun-

gen wieder einzustellen von innen heraus - und das Ganze beschleunigt sich. In kurzer Zeit hat es die

Geschwindigkeit unseres Traumerlebens oder einer Psychose. Das könnt ihr euch auch so vorstellen.

Dann gilt es die Kraft zu haben, die Fähigkeit, klar zu sein. Dafür dient die Dharmapraxis. Sonst setzt

der karmische Autopilot ein. Der karmische Autopilot ist aber nicht programmiert von unserer Weisheit,

sondern von unseren karmischen Mustern.

Da, wo es lecker ist, da geht es lang, wo die Begierde ist, da geht es lang, wo die Angst ist, fangen wir

an zu rennen, wo uns was schief kommt, schräg kommt, werden wir ärgerlich… Das ist der karmische

Autopilot und der katapultiert uns in ziemlich große Verstrickungen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.26 Da können wir nicht hoffen, dass das alles so wunderbar läuft. Wenn wir dann den Reflex haben zu

beten, wenn es uns einfällt, in dem Moment zu beten, wandelt sich das Ganze. Das ist super. Das ist so,

wie wenn ihr im Traum anfangt zu beten und euch an den Dharma erinnert, Zuflucht nehmt und Mantras

praktiziert. Dann ändert sich der ganze Traum.

Alles ändert sich, alles öffnet sich, plötzlich ist es möglich, in reine Bereiche zu gehen, in Gewahrseins-

bereiche, wo uns das Herz aufgeht. Aber es braucht das Erinnern, das am Wesentlichen Dranbleiben-

Können. Und dafür braucht es ein Leben der Vorbereitung, dann können wir dessen sicher sein. Wer

nachts nicht mehr in Verwirrung und Verstrickung landet, wird auch im Bardo, im Zwischenzustand,

nicht in Verstrickungen landen. Der kann dessen sicher sein. Es ist derselbe Geistesstrom.

Handlungen und ihre Auswirkungen kontemplieren

Ansonsten werden wir ziemlich machtlos nach dem Tod, weil sich dann heilsame und schädliche Hand-

lungen ganz spezifisch und unvermeidbar auswirken.

Ihr erinnert euch vielleicht an den letzten Kurs. Handlungen bedeuten immer Handlungen mit Körper,

Rede und Geist, also denken, sprechen und körperliches Handeln. Ihr müsst immer wie innerlich notie-

ren oder auch äußerlich dazu schreiben, dass Handlung im Buddhismus vom Geist kommt. Wir handeln

zunächst durch unser Denken. Das Denken bestimmt das Sprechen und das Denken bestimmt, was wir

mit dem Körper machen.

Wie wir jetzt denken, bestimmt sehr spezifisch, sehr genau, wie wir nach dem Tod denken werden. Da

gibt es keine Überraschungen. Wenn unser Geist von Vertrauen und Liebe erfüllt ist und unser ganzes

Denken, Handeln und Fühlen in diese Richtung geht, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Wenn

wir aber ständig um uns selbst kreisen - mit dem großen Ich, Ich, Ich - dann wird das auch nach dem

Tod so sein.

Das ist ganz spezifisch einfach die Fortsetzung von dem, wie wir jetzt drauf sind. So wird es auch wei-

tergehen. Da haben wir jetzt hoffentlich noch ein paar Jahre, dass wir die inneren Muster weitergestalten

können, sodass immer mehr heilsame Kräfte in uns aktiv sind: Kräfte des Vertrauens, der Freude, der

Liebe, der Hingabe und so weiter - und halt auch der Weisheit, Einsicht, Erkenntnis.

Karma kontemplieren

Diese Kontemplation wird unterstützt dadurch, dass wir jetzt schon bemerken, wie verschieden sich eine

heilsame Geisteshaltung auswirkt, verglichen mit einer nicht heilsamen oder gar schädlichen. Denkt an

irgendeine Gruppensituation, eine Teambesprechung im Krankenhaus, in der Schule oder eine Dhar-

magruppen Organisationssitzung, etwas Herausforderndes.

Stellt euch vor, ihr habt euch vorher eingestimmt, alles ins Herz genommen. Ihr seid mit dieser Geistes-

haltung da, mit wohlwollenden heilsamen Gedanken. Es geht euch wirklich um eine positive Entwick-

lung der Gesamtsituation. Wie wirkt sich das auf euch selbst und eventuell den gesamten Gesprächsver-

lauf aus?

Und jetzt stellt euch dieselbe Situation vor und ihr geht hinein mit Sorge um das persönliche Wohlerge-

hen: ob man mich respektiert, ob man mir glaubt, was ich sage, ob mir jemand an den Karren fahren

will. Wie entwickelt sich das innerlich bei mir und wie entwickelt sich die Gesamtsituation?

Das nennt man Kontemplation über Karma. Die unterschiedlichen Auswirkungen heilsamer Geisteshal-

tungen, einer heilsamen Art zu sprechen, heilsamem körperlichen Verhalten im Vergleich zu Geistes-

haltungen, wo wir innerlich eng sind und die dazu führen, dass wir sogar solches Denken in uns erleben:

dem könnte ich an die Gurgel, dem könnte ich eine reinhauen. Wenn solche Gedanken in uns aktiv sind,

angstvolle Gedanken oder das normale Konkurrenzdenken - wenn man einfach nur besser sein will als

der andere, mehr verdienen will, unserer Unternehmen stärker und größer sein soll und man den anderen

flach machen will und zum marktbeherrschenden Unternehmen werden will usw. Wenn solche Motiva-

tionen aktiv sind in uns, wenn wir unseren Partner dominieren wollen anstatt in Harmonie sein, wenn

wir uns beweisen wollen… Wie das alles schiefgeht. Das macht riesige Unterschiede. Das Leben geht

so anders weiter. All das hat enorme Auswirkungen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 27

Es gibt Handlungen, die im Dharma als die nicht weiter definierten beschrieben werden, über die der

Buddha nicht weiter gesprochen hat. Das sind sogenannte neutrale Handlungen, also zum Beispiel auf

und ab gehen oder rumzappen auf dem Fernseher oder etwas scheinbar Neutrales tun, zum Beispiel ewig

lange Dauerläufe oder Radtouren oder so etwas, einfach Zeitvertreib.

Jetzt ist es mit dem Zeitvertreib nicht ganz so ungefährlich, denn wir haben nicht unbegrenzt Zeit. Wo

ist unser Geist eigentlich während des Zeitvertreibs, während wir relativ harmlose Filme gucken? Wenn

wir viel von unserer Zeit mit scheinbar neutralen Handlungen füllen, kommt am Ende heraus, dass wir

weniger aufmerksam, weniger gewahr, weniger präsent sind - also eigentlich die Unwissenheit nähren,

weil wir uns ablenken. Wir sind nicht voll da und ganz kostbare Zeit im Leben geht verloren.

Auch die scheinbar harmlosen Aktivitäten, mit denen ich gut einen Tag oder zumindest meinen Feier-

abend füllen kann, haben also Auswirkungen - nicht so direkt, weil sie keine großen Konsequenzen

haben, wir haben einfach einen langen Abend rumgeplappert. Wir haben den Abend gefüllt und ein

Bierchen dabei getrunken. Es war ganz nett. Aber eigentlich haben wir, ohne es zu merken, kostbare

Zeit verloren und mangelndes Gewahrsein hat Einzug gehalten. Wir waren nicht richtig präsent, nicht

mit dem Herzen voll da.

Deswegen passt bei den scheinbar harmlosen neutralen Handlungen auf, über die nichts weiter im

Dharma zu lesen ist, weil man sie nicht klassifizieren kann als heilsam oder nicht heilsam. Unterm Strich

sind sie zumindest wertvolle Zeit, die mit irgendwas verplempert wird, und vermutlich führen sie dazu,

dass wir etwas weniger präsent sind.

Ein Dharmapraktizierender würde darauf achten, immer in heilsamen Geisteszuständen zu sein, rund

um die Uhr. Heilsam bedeutet, dass es gut tut. Heilsam bedeutet nicht, dass es anstrengend ist. Es tut

gut. Heilsam ist das, wo wir richtig Lust darauf haben - wenn wir es dann entdecken, wie heilsam es ist.

Heilsam ist das, was - wie ein/-e Teilnehmer/-in sagt - das Herz öffnet, den Geist weitet, die Emotionen

befreit, zur Lösung bringt, Erkenntnisse, Verstehen fördert, Mitgefühl und Liebe fördert. Das ist heil-

sam.

Also gibt es keinen Grund, eine Aversion gegen das Heilsame zu haben. Doch scheinen wir nicht immer

ganz motiviert zu sein und ein bisschen Aversion haben wir auch manchmal. Schaut da genau hin, was

ihr da miteinander verquickt. Vielleicht ist dieses heilsame Sein immer noch vermischt mit einer alten

Kirchenmoral oder mit dem gut-sein-Müssen zuhause oder gut-sein Müssen in der Schule - und es ist

noch nicht zu einem eigenen Bedürfnis geworden, den Geist in heilsamen Geisteszuständen zu haben.

Aber tatsächlich gibt es nichts Besseres. Den Geist in heilsamen Geisteszuständen zu haben, ist viel

besser, als den Geist in neutralen Geisteszuständen zu haben und völlig entgegengesetzt dazu, den Geist

in Ich-bezogenen Geistesständen verweilen zu lassen, wo wir mit Hoffnung und Furcht, uns selbst be-

treffend, beschäftigt sind.

Den Existenzkreislauf kontemplieren

Jetzt können wir verstehen, wie die verschiedenen Lebewesen zu dem geworden sind und zu dem wer-

den, was sie sind. Wir beginnen zu verstehen, welche Wirkkräfte am Werk sind, die dazu führen, dass

die einen immer glücklicher werden und die anderen immer unglücklicher, dass sich jene immer mehr

in Ärger, Angst und Paranoia verstricken und die anderen im Suchtverhalten landen und die nächsten in

Depression.

Wir beginnen zu verstehen, wie es möglich ist, dass die einen immer mehr verstehen, im Herzen offen

sind und aufblühen. Das kommt nicht von ungefähr, dass jemand aufblüht und ganz in seine Qualitäten

hineinfindet. Das hängt damit zusammen, wohin dieser jemand seinen Geist, seine Aufmerksamkeit

richtet. Wo der Geist verweilt, das wird genährt.

Unterm Strich bedeutet die Karmalehre eigentlich nur: wir werden zu dem, wo unser Geist verweilt.

So einfach ist das. Deswegen sagte der Buddha: wer Karma versteht, kann Karma als Zuflucht nehmen.

Karma ist geradezu unsere Zuflucht. Wir können im weisen Verständnis der Ursachen und Wirkungen

unser Leben und unsere zukünftigen Leben gestalten. Wir haben es jetzt in der Hand. Wir müssen nur

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.28 immer darauf achten, wo unser Geist verweilt, wo unsere Aufmerksamkeit ist, was uns beschäftigt. Das

ist, was dann die Kraft entwickelt und mit der Zeit unseren Charakter formt, unser Handeln, unsere

Ausstrahlung, unser Sein in dieser Welt - und natürlich auch nach diesem Leben.

Das Verständnis, welches in diesen sechs Punkten angesprochen wird, ist die Grundlage dafür, dass wir

mit Aussicht auf gute Früchte den Dharma praktizieren können. Das braucht es.

Diese Gedanken sind der Einstieg in jeden Tag der Dharmapraxis. Ich kontempliere diese Gedanken

jeden Tag seit über drei Jahrzehnten, es sind schon fast vier. Formell bin ich mit diesen Gedanken erst

im Alter von 22 in Berührung gekommen, aber seither sind sie meine täglichen Begleiter. Und ich

möchte sie nicht missen.

Sie tief zu erfassen und die Wahrheit darin zu verstehen, gibt die Kraft, den Geist ins Heilsame auszu-

richten. Ich lege euch das ans Herz, diese Gedanken an den Anfang eines jeden Tages zu stellen. Zu

Anfang klingt das nach viel Arbeit, aber eigentlich ist es mit ein wenig Gewöhnung eine schnelle Erin-

nerung an das Wesentliche. Wenn ihr mal Zeit habt, ein Retreat zu machen, könnt ihr euch diese Ge-

danken, diese Kontemplationen als Hauptpraxis für euer Retreat nehmen und immer wieder vertiefen,

verschiedene Meister zu diesem Thema lesen, kontemplieren, bis sie sich ganz in euch verankert haben,

bis sie völlig klar geworden sind.

Dann wird es euch nicht an Motivation mangeln für die Praxis, die wird selbstverständlich sein.

Meditation

Also wir meditieren mal so, als säßen wir in der Hitze des brasilianischen Urwalds in unerträglicher

Schwüle und fänden trotzdem die Entspannung. Wir haben den großen Vorteil, dass hier keine Moskitos

sind. Das ist wenigstens etwas, was wir genießen können.

Wir haben einen Geist, das Gewahrsein. Wir sind dieses Gewahrsein, wir sind sowieso nichts anderes

als das: kontinuierliches gewahres Sein - und es ist aus sich selbst heraus gewahr. Da braucht niemand

etwas zu tun. Es ist die Natur des Geistes, bewusst zu sein. - - -

Ganz von selbst setzt sich das Erleben fort. Wir brauchen uns nie darum zu kümmern, auch im nächsten

Moment, in der nächsten Situation bewusst zu sein. Es setzt sich einfach von selbst fort. - - -

Wir brauchen uns nie darum zu kümmern, dass das jetzige Erleben verschwindet. Es löst sich von selbst

ins nächste Erleben hinein auf. - - -

Wir sind also arbeitslos, wir haben nichts zu tun. - - -

Das Verhaftetsein aufgeben

Wir sind unten auf Seite 5.

Der dadurch entstehende starke Wunsch nach Befreiung ist die Wurzel der Dharmapraxis - diese

Inspiration: genau, da geht es lang, das ist die Wurzel der Dharmapraxis - und ist von allem das Aller-

wichtigste.

Vielleicht mache ich einen Fehler, dass ich nicht sechs Tage darüber spreche. Wenn ihr weise seid,

übergeht ihr diesen Punkt nicht und nehmt euch die Zeit, das tiefer zu studieren. Dakpo Tashi Namgyal

setzt voraus, dass alle Leser dieses Werkes diese Grundlagen bereits für sich geklärt haben. Er erwähnt

sie nur im Überblick, weil andere Bücher das schon längst bestens beschrieben haben.

Das Verhaftetsein aufzugeben entspricht, wie es heißt, den „Füßen der Meditation“,

Ohne Füße kann man nicht gehen. Füße, Basis, das, was uns überhaupt ermöglicht zu meditieren ist,

stets unser Festhalten, unser Verhaftet sein zu lockern. Woran haften wir am meisten? Das sind die

angenehmen Erfahrungen und vor allen Dingen unsere Vorstellungen darüber, wie es zu sein hat. Das

gilt es zu lockern.

Es ist völlig egal, ob ihr reich oder arm seid, ob ihr euch schminkt oder nicht schminkt - all das ist mit

verhaftet sein gar nicht gemeint. Verhaftet sein ist, was im Geist passiert, wenn wir uns mal nicht

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 29

schminken oder wenn wir kein Geld haben. Wenn man mit etwas aufhört, merkt man, ob man gut damit

zu Recht kommt oder ob man schon abhängig geworden ist. Der Weg der Befreiung ist ein Weg des

Freiwerdens in vielen kleinen Situationen. Jeder auftauchende Gedanke ist eine Einladung, anzuhaften.

Wunderbar. Darüber können wir nachdenken, damit können wir kämpfen, daran können wir einen Film

hängen. Jeder auftauchende geistige Impuls, auch jede auftauchende Sinneserfahrung, können wir als

eine Einladung betrachten, in großes offenes Gewahrsein zu gehen.

Genau das zu üben, das Verhaftetsein an dem, was auftaucht, loszulassen - daraus besteht eigentlich

Meditation. Ohne diesen grundlegenden Wunsch findet keine echte Meditation statt, nicht die Medita-

tion, von der die Buddhisten sprechen. Das ist die Meditation, die zur Befreiung führt. Es geht nicht um

eine Meditation, die in nette Geisteszustände führt. Es geht um ein Freiwerden. Da ist das wirklich die

Grundlage.

und wird auch „Meister der Meditation genannt. Dies einmal - zum Beispiel jetzt gerade - intellek-

tuell zu verstehen, reicht nicht aus. Zuerst entsteht dieses Verständnis in der Meditation und dann

geht es darum, die drei - Begierde, Hass und Dummheit - wirklich zu überwinden. Wir sehen, dass

diese Muster des Haben-Wollens, Nicht-Haben-Wollens und Lass-mich-doch-in-Ruhe omnipräsent

sind. Es geht in der Meditation darum, in jedem dieser Bereiche Gewahrsein zu bringen.

Ansonsten werden wir vom Verlangen nach Sinnesvergnügen, Anerkennung und dergleichen da-

vongetragen. Das bedeutet: Verlangen nach all dem, was in der Welt so wichtig ist. Anerkennung be-

deutet Ansehen, Lobpreis, bedeutet aber auch Gewinn, Gewinnmaximierung, Verdienst, mehr Ver-

dienst, Sieg im Wettkampf und so weiter. All das, das Verlangen nach diesen Erfahrungen wird uns

davontragen, wenn wir nicht mit den tieferen geistigen Mustern aufräumen, indem wir sie entspannen.

Das Verhaftetsein nicht wirklich aufgegeben zu haben, ist der eigentliche Grund, warum vollkom-

men befreite Verwirklichte so selten sind. Ich würde mir den Satz jetzt dreimal unterstreichen.

Wir können das auch umformulieren: …warum ich noch nicht vollkommen verwirklicht bin. Darum

geht es.

Bitte fallt jetzt nicht in das Denken, dass es um die äußeren Dinge geht, an denen wir nicht anhaften

dürfen. Es ist ziemlich irrelevant, was uns äußerlich umgibt. Innerlich, wie sehr wir an unseren Gedan-

ken, an unseren Vorstellungen haften, an den Gefühlen, die auftauchen, den emotionalen Reaktionen:

das ist das Entscheidende.

Wir können äußerlich so ein wunderbarer Dharma-Praktizierender sein - so wie ich all die Jahre mit

meiner Dharmarobe als buddhistischer Mönch. Aber was innerlich abläuft, kann niemand sehen. Es

sieht äußerlich alles ganz gut aus, aber innerlich? Wie weit noch dieses Verhaftetsein an der eigenen

Bedeutung aktiv ist und Begierde, Hass und Dummheit: das ist eigentlich das worauf es ankommt.

So sagt auch Tilopa:

„Oh weh, verstehe bestens die weltlichen Dharmas, nichts ist beständig, alles ist traumgleich und

illusorisch und wie illusorische Traumbilder ohne wirkliche Existenz - also ohne bleibende Existenz

-. Deshalb entwickle Überdruss, gib weltliche Aktivitäten auf und durchtrenne in Hinblick auf

Begleiter und Orte alle Fesseln der Anhaftung und Abneigung. Meditiere allein in dichten Wäl-

dern und Bergeinsiedeleien.

Die weltlichen Dharmas habe ich eben erklärt: unser Reagieren auf Lob und Tadel, Gewinn und Verlust,

Anerkennung und Schmach und Glück und unglückliche Umstände. Das eine haben zu wollen, das an-

dere vermeiden zu wollen ist endlos.

Und befreit nicht. Schau hin: Ruhm, Gewinn, Lob, Ansehen, das alles ist nicht beständig, genauso wie

ihr Gegenteil nicht beständig ist. Alles, was uns umgibt, unser Besitz, die Menschen, die wir mögen:

nichts wird uns auf Dauer begleiten. Alles ist sowieso jetzt schon im Wandel - und irgendwann werden

wir ohnehin davon getrennt sein.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.30 Die inneren Erfahrungen kommen und sind auch gleich schon wieder gegangen. Sie sind auch nicht

festzuhalten. Es ist wie ein Traum, es ist traumgleich, es ist illusorisch. Wir erleben sie ganz klar, ganz

deutlich - und können sie nicht fassen. Es ist ihre illusorische oder traumgleiche Natur.

Weshalb also jage ich all dem hinterher? Warum kümmere ich mich mit solcher Intensität um das, was

keinen Bestand hat? Wie wäre es, wenn ich meine Energie auf das ausrichtete, was mich über den Tod

hinaus begleitet?

Die Qualitäten des Geistesstroms, die Natur des Geistes, begleiten mich. Wieweit innere Freiheit ent-

standen ist bei diesen tiefen Mustern der Ich-Bezogenheit begleitet mich. Das macht Sinn.

Eine Möglichkeit, sich gute Bedingungen zu schaffen ist, zu sagen: ich habe die Nase voll mit dieser

Art zu funktionieren, wie das in der Welt von mir verlangt wird. Ich lebe ein bescheidenes Leben. Ich

reduziere mich aufs Minimum und ich gehe dahin, wo das Leben am einfachsten ist. Das waren früher

die Bergeinsiedeleien - oder hier sagt Tilopa, man baut sich eine Hütte im dichten Wald, wo einen nie-

mand stört, und widmet sich der tiefen inneren Praxis.

Heutzutage ist das ganz Alleinsein in irgendwelchen Höhlen oder Bergeinsiedeleien nicht sehr zu emp-

fehlen, weil die wenigsten von uns schon so im Dharma angekommen sind, schon so weit sind, dass sie

nicht mehr die Ansprache von anderen brauchen.

Wenn wir jetzt allein irgendwohin gingen mit dem bisschen Dharma, den wir verstanden haben, würden

wir uns in den eigenen Mustern bewegen. Es wäre sehr wahrscheinlich, dass wir nicht Befreiung erlan-

gen würden, obwohl wir schon ein bisschen Dharma gehört haben. Denn unser Verständnis des Dharma

ist durchmischt mit unseren eigenen Bedürfnissen und Ängsten. Das führt zu Missverständnissen.

Deswegen ist das Wichtigste, in der Nähe eines kompetenten Lehrers oder einer kompetenten Lehrerin

zu praktizieren. Das ist noch wichtiger, als irgendwo in einer Höhle zu sein. Wo wir praktizieren, wäre

es gut, wenn andere um uns herum auch denselben Weg gehen, also eine kleine Gemeinschaft, eine

Sangha, die sich gegenseitig unterstützt, aber auch Spiegel füreinander ist - wo wir uns nicht mit unseren

Emotionen immer in unserem eigenen Sumpf aufhalten, sondern von den anderen auch konfrontiert

werden und aufmerksam gemacht werden.

Eine kleine Praxis-Sangha ist extrem hilfreich. Das schwebte Gendün Rinpoche vor: Praktizierende, die

ihr ganzes Leben praktizieren wollen. Es ist klar, sie haben diesen Überdruss, was die weltlichen Be-

lange angeht, und sie helfen sich gegenseitig mit Hilfe von kompetenten Lehrern. Das wäre ideale Be-

dingung für Praxis.

Deswegen hat Lama Gendün selbst den begabtesten Meditierenden abgeraten, irgendwo allein in Höh-

len zu gehen. Ihr wisst, in den Pyrenäen gibt es noch Höhlen, die man besiedeln könnte, es gibt noch

welche, die man nutzen könnte. Man kann sich auch irgendwo im Wald allein eine Hütte bauen und es

irgendwie hinkriegen, dass man dort versorgt wird. Aber es ist ziemlich sicher, dass man nicht aus seinen

Mustern herausfindet, wenn man sich so auch der Konfrontation durch zwischenmenschliche Begeg-

nungen entzieht.

Das wäre also der erste wichtige Punkt. Die erste Vorbereitung ist, durch tiefe Kontemplation zu dem

Punkt zu kommen, dass wir bereit sind, dass wir den Wunsch haben auszusteigen. Für diesen Ausstieg

müssen wir nicht aus unserem Leben aussteigen als Mutter, Vater, Partner, Partnerin. Sondern es geht

darum, aus den Mustern aussteigen zu wollen, aus dem, was wirklich Leid erzeugt. Es ist nicht unser

Partner, der Leid erzeugt oder unsere Partnerin.

Es sind unsere Reaktionen, die das Leid erzeugen. Es findet in unserem eigenen Geist statt. Da hilft es

gar nichts, die Partner zu wechseln. Das kommt wieder. Wir müssen schon mit unserem eigenen Geist

arbeiten. Wir brauchen auch nicht unbedingt zusammen zu bleiben, wir können es mit jemand anderen

probieren. Aber die Arbeit mit unserem eigenen Geist nimmt uns niemand ab, denn der begleitet uns

überall hin. Da müssen wir entschieden sein.

Dann kommt der nächste Schritt.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 31

2. Zuflucht und Bodhicitta hervorbringen, um Hindernisse zu vertreiben

2. Zuflucht und Bodhicitta hervorbringen, um Hindernisse zu vertreiben - oder aufzulösen

Aus Furcht vor den Leiden Samsaras - also des Kreislaufes des Verstrickseins - von ganzem Herzen

Befreiung zu suchen und sich in die Zuflucht zu den kostbaren [drei] Juwelen zu begeben, ist die

wichtigste Wurzel des edlen Dharma. So heißt es in einem Sutra:

„Wenn jemand Zuflucht in Buddha, Dharma und Sangha nimmt und dann mit Weisheit die vier

Wahrheiten der Edlen - vom Leid, Ursprung des Leides, völligen Ende des Leides und achtfachen

Pfad der Edlen, der in die Freude jenseits von Leid führt - zu seiner Sicht macht, dann ist das die

höchste Zuflucht. Sich auf diese Zuflucht stützend, wird er Befreiung von allem Leid finden.“

Erklärungen zur Zuflucht

Ich gehe das nochmal durch, denn es möchten einige zum ersten Mal ihre formelle Zuflucht nehmen.

Zuflucht ist eine seltsame Übersetzung. Die alten Sprachen sprechen davon, sich eine sichere Ausrich-

tung zu geben, sich an einen sicheren inneren Ort zu begeben. Das wurde mit Refuge, Zuflucht übersetzt.

Das hat sich eingebürgert. Das hört sich ein bisschen so an, als wenn man vor etwas davonrennt und

sich wie unter dem Tisch irgendwo versteckt, seine Zuflucht nimmt, an einem sicheren Ort.

Diese Assoziation ist nicht vollkommen falsch, aber auch nicht vollkommen richtig - denn sich klar

auszurichten, ist nicht ein sich-Verstecken, sondern ein sich-Öffnen in klare Ausrichtung hinein.

Ich öffne mich für das Erwachen und gebe mir eine klare Ausrichtung, einen Impuls, in diesem Leben

alles dafür einzusetzen, ins Erwachen zu gehen. Das ist Buddha. Bodhi heißt Erwachen und Buddha ist

der Erwachte. Eigentlich ist das Erwachen in uns, der Buddha ist in uns. Wir geben uns eine Ausrich-

tung, zu uns selbst zu finden.

Dharma ist, sich zu öffnen für die befreiende Weisheit, die durch die Jahrhunderte an uns weitergegeben

wird. Zweieinhalb Jahrtausende können wir es schon zurückverfolgen, wahrscheinlich hat es sogar vor-

her angefangen.

Wir öffnen uns für den Dharma der Übertragung, also für die Lehren zum Weg der Befreiung und des

Erwachens und finden den Dharma in uns. Das ist der Weg: in jeder Situation im Dharma zu bleiben,

also in Erkenntnis dessen, was gut tut und wie es eigentlich ist. Damit kommt der Dharma in uns zum

Vorschein. Das nennt man den Dharma der Verwirklichung.

Sich auf die Sangha auszurichten bedeutet, innerlich klar zu kriegen, auf welche Menschen wir uns

wirklich verlassen können auf dem Weg des Erwachens. Wer ist denn so kompetent, wer ist denn selbst

auch so klar ausgerichtet, dass uns dieser Mensch eine echte Hilfe sein kann auf dem Weg des Erwa-

chens? Wir brauchen kompetente Führer und Begleiter.

Da fallen ganz viele Menschen weg. Die meisten kennen den Weg des Erwachens nicht. Was als Sangha

übrigbleibt, als wirklich verlässliche Sangha, sind die, die uns schon ein gutes Stück Weg voraus sind.

Am besten solche, die bereits eine klare Erkenntnis der Natur des Geistes haben. Und noch besser wäre

es, jemand vollkommen Erwachten zu finden. Das wäre super.

Das sind verlässliche Begleiter in diesem schwierigen Unterfangen, sich aus all seinen Mustern des

Verstrickseins zu befreien. Solche Leute brauchen wir. Das sind die echten Meister und Meisterinnen.

Dann gibt es die Sangha gut motivierter Menschen, so wie wir hier im Saal, die wir aber alle noch

ziemlich verwirrt sind. Wir können uns zwar unterstützen, aber eine richtige Zuflucht können wir einan-

der vielleicht noch nicht sein, weil wir noch nicht klar sehen.

Diese Art Sangha ist zwar auch schon gut - gut, so eine Gemeinschaft zu haben, kleine Gemeinschaften,

große Gemeinschaften - aber wir müssen ein bisschen Abstriche machen. Wir sind noch nicht polierte

Juwelen. Wir sind noch Rohjuwelen, Rohdiamanten. Man sieht noch nicht so ganz, was sich mal zeigen

wird. Nur wenn man den Blick dafür hat, sieht man, was aus diesen Rohdiamanten später werden kann:

der zukünftige Buddha. Aber noch ist viel Verwirrung mit im Spiel.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.32 Buddha: sich Ausrichten aufs Erwachen. Dharma: die Hilfe in Anspruch nehmen, die uns durch die

Übertragung entgegenkommt, und immer mehr zu einem Verständnis der Natur des Seins finden.

Sangha: das sind die, die uns wirklich dabei unterstützen können.

Ihr merkt, es ist nicht ein sich-Verstecken, sondern diese klare Ausrichtung gibt richtig Kraft. Es ist eine

kraftvolle Ausrichtung für dieses Leben.

Die vier Edlen Wahrheiten

…dann mit Weisheit die vier Wahrheiten praktizieren, zu unserer Sicht machen.

Ihr habt von den vier Wahrheiten der Edlen schon gehört. Das war die erste große Unterweisung, wie

es heißt, die der Buddha gegeben hat, und die er immer wiederholt hat.

Es ist eine Tatsache, dass wir so, wie wir unterwegs sind, sehr viel Leid erfahren: offenkundiges Leid,

Leid, weil sich das Angenehme verändert und wir daran festhalten und Leid aufgrund unserer unbe-

wussten Ich-Bezogenheit. Das ist eine Tatsache.

Der Ursprung von all dem, der Ursprung des Leides ist, dass wir schon lange so funktionieren, wir diese

Muster kultiviert haben. Die kommen nicht von ungefähr, sie sind nicht plötzlich so geworden. Wir sind

mit unserer geistigen Ausrichtung in diesem Leben und in früheren Leben ungeschickt umgegangen.

Wir haben uns verstrickt.

Diese Verstrickung in dualistische Sichtweisen, Ich-bezogene Sichtweisen, also verdunkelnde Emotio-

nen und so weiter, ist die Ursache dafür, dass wir jetzt so viel Stress erleben, soviel Leid. Das könnte

anders sein. Das ist die dritte Wahrheit.

Tatsächlich gibt es die Möglichkeit: es gibt Menschen, die frei sind. Es gibt das Erwachen. Es ist tat-

sächlich möglich, zu erwachen. Es ist so. Es gibt genug, die zu uns davon sprechen und die uns lebendige

Vorbildner sind. Das geht durch die Jahrhunderte. Es gibt viele Berichte. Und auch heutzutage gibt es

Menschen, die erwacht sind.

Diese Erwachten haben einen Weg aufgezeigt, den achtfachen Weg, den alle Erwachten gehen. Den

können wir auch gehen, ich gehe jetzt nicht ins Detail, darum geht es jetzt nicht. Ich kann zusammen-

fassen:

Auf der Basis des heilsamen Verhaltens entwickeln wir Geistesruhe und Einsicht so weit, bis auf Grund

der Einsicht tiefgreifendes Erwachen, Befreiung stattfindet. Das ist in Kürze zusammengefasst der Weg.

Dieser Weg steht uns offen, den können wir praktizieren.

Das ist die höchste Zuflucht. Tatsächlich ist jetzt, am Ende dieses Satzes, die Zuflucht nicht mehr Bud-

dha, Dharma und Sangha, sondern: die vier Wahrheiten tief zu integrieren und zu praktizieren.

In dem Sutra sagt der Buddha: die eigentliche Zuflucht ist, dass du wirklich das tust, was du verstehst.

Wenn du das umsetzt, was du erkennst: das ist deine Zuflucht. Ihr könnt den Satz nochmal aufmerksam

durchlesen.

Zuerst nehmen wir Zuflucht in Buddha, Dharma und Sangha und dann machen wir mit der Weisheit die

vier Wahrheiten der Edlen zu unserer Sicht: dann ist das die höchste Zuflucht.

Was uns tatsächlich hilft ist, dass wir in jeder Situation unseren Geist ausrichten im Wissen darum: wie

der Stress, das Leid entstanden ist, es gibt eine Alternative und wir nutzen diese Alternative, wir gehen

diesen Weg, in diesen viel gelösteren Geisteszustand hineinzufinden - der jetzt in dieser Situation mög-

lich ist.

Das ist die eigentliche Zuflucht. Also keine äußere Zuflucht, die uns etwas erleichtert. Die äußere Zu-

flucht ist eine Orientierung, aber letztlich ist die Zuflucht das Umsetzen unserer Einsichten.

Hier komme ich zu einem meiner Lieblingsthemen: Wie lange dauert es, bis wir erwachen? Das ist die

Zeit, die es braucht, um unsere Einsichten umzusetzen. Wer nachlässig ist und zwar viel versteht, aber

nichts umsetzt, wird nie im Erwachen ankommen. Wenn wir heute das umsetzen, was wir heute verste-

hen, dann geht es ganz schnell.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 33

Das haben wir selbst in der Hand. Das kann niemand für uns machen. Wenn wir nicht das umsetzen,

was wir heute verstehen, dann können wir hoffen, dass wir es morgen noch tun, dass morgen die Einsicht

vielleicht mehr Kraft hat als heute. Aber ich sage euch: nichts hat mehr Kraft als frische Einsichten.

Deswegen setzt sie um, lebt sie, wartet nicht auf später. Sagt nicht, ja, das ist gut und schön, das mache

ich Ende des Jahres - oder irgendwann, wenn ich mal groß bin. Nicht warten.

Ein schneller Weg ist der Weg, wo wir die Weisheit unserer eigenen Erkenntnis zu unserer täglichen

Praxis machen. Ihr wisst, dass dann dieser Saal leer wäre, denn ihr habt schon so viel erkannt, so viel

verstanden. Wenn ihr das alles umsetzen würdet, wolltet ihr lange nicht wiederkommen. Ein Dharmaleh-

rer lebt also davon, dass die Leute nicht das umsetzen, was sie schon kapiert haben. Aber das ist keine

schöne Sache. Es ist besser, ihr setzt das um.

Das geht so weit, dass die großen Meister ärgerlich wurden, wenn ihre Retreatler, die irgendwo in Ber-

geinsiedeleien als Gruppe praktizierten, meinten, plötzlich beim Karmapa auftauchen zu müssen, weil

dieser große Unterweisungen gäbe.

Da gibt es Geschichten, wie Meister richtig ärgerlich werden und sagen: "Was, jetzt kommt ihr schon

wieder den Dharma hören, ihr wart doch gerade in der Praxis. Zurück mit euch, ihr braucht nicht mehr

Worte, ihr müsst einfach das umsetzen, was ihr kapiert habt. Es ist schon alles da, schon alles gesagt

worden, bleibt in der Praxis, geht nicht woanders hin. Selbst, wenn es euer geliebter Lehrer ist: bleibt

lieber in der Praxis.“

Wendet das an. Immer wieder dasselbe zu hören, macht es auch nicht besser, wenn ihr es einmal ver-

standen habt. So ist das, so war auch Lama Gendün mit uns. Er hat uns gescholten, wenn wir meinten,

wir müssten ihm nachreisen - und vernachlässigten dabei unsere Praxis.

Der Nutzen der Zuflucht

Zum Nutzen der Zufluchtnahme sagt die Zusammenfassung der Befreienden Weisheit:

„Wenn die positiven Kräfte, die entstehen, indem man sich in die Zuflucht begibt, eine Form hät-

ten, wären die drei Daseinsbereiche zu klein als Behälter - also das gesamte Universum mit allen

Daseinsbereichen wäre zu klein -; sie sind wie der Wasserschatz eines riesigen Ozeans, den man

nicht einschätzen kann, wenn man ihn nur in der Hand hält.“

Klartext für uns, die wir diese Art Sprache nicht so kennen: die positive Kraft, die durch solch eine eben

beschriebene klare Ausrichtung entsteht, ist unschätzbar groß. Sie transformiert das ganze Leben. Wenn

man diese klare Ausrichtung lebt, wird kein Lebensbereich davon verschont. Jeder Lebensbereich wird

davon durchdrungen. Es sind unermessliche Auswirkungen: für sich selbst und für die anderen, mit

denen man in Kontakt kommt. Das lässt sich gar nicht kalkulieren.

Manche Menschen haben das so intensiv gelebt, dass man noch tausend, zweitausend, sogar dreitausend

Jahre später von ihnen spricht. Das sind Wellen der Aktivität, die davon ausgehen und noch Generatio-

nen nach uns erfassen.

Dakpo Tashi Namgyal schreibt:

Der Nutzen der Zuflucht ist unvorstellbar, doch kann er in acht Punkten zusammengefasst wer-

den: Wir werden zu jemandem auf dem „inneren Weg“ der Buddhas - jemand, der innerlich an sich

arbeitet -, wir werden zur Basis für alle Gelübde - für all die Versprechen, die wir eingehen können

auf dem Weg des Erwachens -, die Schleier früher begangener schädlicher Handlungen - das heißt

Ich-bezogene Handlungen - lösen sich auf - wir werden unverschleiert, unser Geist wird frei -, eine

äußerst starke positive Kraft wird aufgebaut, wir fallen nicht mehr in niedere Daseinsbereiche -

weil sich die Motoren der niederen Daseinsbereiche Begierde, Hass und Dumpfheit aufgelöst haben -,

menschliche Wesen und nichtmenschliche hindernde Kräfte können uns nicht schaden - weil wir

so verankert sind, weil wir so in dieser Geistesdimension aufgehen, dass die uns einfach nicht ins

Schwanken bringen -, all unsere Wünsche verwirklichen sich - der Geist selbst wird entdeckt als ein

wunscherfüllendes Juwel, und auch äußerlich gestalten sich die Situationen ganz harmonisch - und wir

erlangen schnell wahrhafte Vollkommenheit. Zusätzlich, so wird es erklärt, hat die Mahayana-

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.34 Zuflucht noch den Nutzen - also die Zuflucht im großen Fahrzeug, Übersetzung von Mahayana -, dass

wir nicht ohne Mittel sind [Buddhaschaft und aller Wohl verwirklichen] und davor geschützt

sind, in niedere Fahrzeuge - wo es nur um die eigene Befreiung geht - abzugleiten. So sollten wir uns

mit einem klaren Verständnis der Quellen der Zuflucht - Buddha, Dharma, Sangha -, der Dauer -

unbeschränkt -, der Motivation - zum Wohle aller Lebewesen - und der Zeremonie - das ist, sich

formell - in die Zuflucht begeben.

Fragen

Teilnehmer/-in: Was bedeutet ein Juwel, das alle Wünsche erfüllt?

Es gab in der indischen Mythologie immer so etwas wie dieses wunscherfüllende Juwel. Das gibt es

auch in unseren Märchen und Sagen. Die Idee war: du findest ein Juwel und du brauchst nur etwas zu

sagen, etwas zu wünschen - und das manifestiert sich. Alle haben sich immer gewünscht, so etwas zu

finden.

Im Dharma wurde das Bild des wunscherfüllenden Juwels aufgegriffen, um zu sagen: das wunscherfül-

lende Juwel, nach dem ihr immer im Außen sucht, ist der eigene Geist. Wenn du ganz hineinfindest in

das, wie der Geist wirklich ist, erfüllen sich alle Wünsche. Du bist dann wunschlos glücklich, heißt das.

Es bedeutet nicht, dass äußerlich alle Wünsche in Erfüllung gehen.

Ihr wisst selbst, der Buddha hat einige Kriege verhindern können, andere Kriege nicht verhindern kön-

nen. Es sind nicht alle seine Wünsche in Erfüllung gegangen. Das gilt für alle Meister. Es gehen nicht

alle Wünsche in Erfüllung. Aber innerlich ist es als die Erfahrung des Erwachens ein nicht bedingtes

Glück, in dem man sich wunschlos glücklich fühlt, weil der Geist ganz offen, gelöst, ganz entspannt ist.

So ist es mit diesem wunscherfüllenden Juwel.

Deswegen hält Avalokiteshvara, Chenresig, so ein Juwel zwischen den beiden Händen vor dem Herzen.

Das ist eigentlich unser eigener Geist. Das ist das Eintauchen in die natürlichen erwachten Qualitäten

des Geistes durch die Praxis der vier unermesslichen Qualitäten: Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleich-

mut, was auch Weisheit bedeutet. So finden wir Zugang zum wunscherfüllenden Juwel.

Es ist nicht etwas Aktives, was wir tun müssen, sondern es ist etwas, das wir finden. Wir finden hinein

in die Dimension des Geistes, so wie er wirklich ist, wo all die Wünsche, dass noch etwas besser sein

müsste, gar nicht erst auftauchen - egal wie arm oder reich wir sind. Äußerlich kann man sicherlich

Wünsche machen, aber innerlich wird das Frieden genannt: Nirwana, Frieden, Erfüllung. Das wird im

Dzogchen große Vollkommenheit, große Vollendung genannt. Das ist dasselbe.

Teilnehmer/-in: Könntest du uns mehr erklären, was Umsetzung bedeutet? Wir haben es verstanden -

was bedeutet die Umsetzung?

Umsetzung bedeutet: jetzt, heute Abend, immer wenn ich es bemerke, den Geist wieder in etwas Heil-

sames auszurichten. Immer wenn ich merke, dass ich mich verheddere, ins gelöstere Sein finden. Etwas

tun, was mir in der Tiefe gut tut, was anderen auch in der Tiefe gut tut. Das konsequent tun.

Das war ein Beispiel von etwas, das ihr sicherlich heute verstanden habt: der Weg des Erwachens besteht

darin, den Geist immer in die größtmögliche Öffnung mit all den heilsamen Qualitäten zu bringen. Da

gehen wir in jeder Situation die Schritte. Es wäre schade, wenn zwischen dem Ende der Unterweisungen

heute, der Meditation heute und dem nächsten Morgen, wenn der Unterricht wieder anfängt, zwölf Stun-

den vergehen, ohne dass wir das gemacht haben. Das ist mangelnde Umsetzung.

Teilnehmer/-in: Verhedderung - wenn man sich verheddert, dann kommt bei mir Bedauern, bin nicht

zufrieden.

Ja, dann bist du unzufrieden mit dir selbst. Aus dem Bedauern schnell herausfinden, dass dir das Bedau-

ern die Kraft gibt, direkt jetzt den nächsten Moment heilsamer zu gestalten. Bedauern ist etwas Gutes,

wenn es uns die Kraft gibt, neu zu gestalten, kann aber auch einladen, in der Selbstkritik hängen zu

bleiben. Das wollen wir nicht, wir wollen es einfach nur als Kraft, als Impuls nutzen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 35

Es kann sein, dass einige von euch bedauern, wie ihr mit vielen Jahren eures Lebens umgegangen seid

und es vielleicht zu lange gebraucht hat, bis ihr jetzt an diesem Punkt seid. Es kann sein, dass einige von

euch jetzt ein Bedauern spüren. Nehmt das als einen Impuls, es schon heute Abend, jetzt sofort, anders

zu machen. Verliert keine Zeit mit dem Bedauern, sondern nehmt es als eine Kraft, jetzt zu gestalten.

Teilnehmer/-in: Wie ist es mit dem Verhaften und dem heilsamen Handeln? Das passt vielleicht zu der

Frage von vorher, denn heilsames Handeln heißt nicht unbedingt, dass man sich nicht daran verhaftet.

Du meinst, zum Beispiel jemandem was schenken und sich ein bisschen stolz fühlen oder gut fühlen,

weil man jetzt so etwas Tolles getan hat?

Genau - wie merkt man, ob man in dieser Richtung Fortschritte macht? Mir kommt es so vor: je mehr

ich praktiziere, desto deutlicher wird mir bewusst, dass ich oft denke: das war relativ selbstlos und ganz

viel Verhaftung dahinter ist. Worauf kann man schauen beim Handeln? Es bleibt nicht so viel übrig,

was ungefährlich ist.

Es gibt sicherlich viele Anzeichen. Aber worauf ich achte beim heilsamen Verhalten, Sprechen, Handeln

ist, möglichst entspannt zu sein, es möglichst natürlich zu machen. Anzeichen dafür, dass ich verstrickt

bin ist, wenn ich danach noch darüber nachdenke und wenn ich das Bedürfnis habe, es jemand zu er-

zählen. Auch das sind wieder Gelegenheiten, zu praktizieren.

Bitte höre nicht auf, heilsam zu handeln, weil immer nachträglich ein bisschen Stolz kommt, dass man

sich selbst ein bisschen Gutes getan hat. Das ist kein Grund, damit aufzuhören. Sondern es ist wichtig,

dann weiter zu praktizieren und in dem Moment, wo die Identifikation sich bemerkbar macht, sie auch

wieder zu durchschauen, zu sehen, dass das alles gar keine Substanz hat.

Grundlegend hilft mir etwas, was Gendün Rinpoche viele Male wiederholt hat: dass die heilsamen Qua-

litäten gar nichts mit dem Ich zu tun haben. Wenn es mir mal passiert, dass ich heilsam handle, dann

bestimmt nicht, weil das Ich so aktiv war. Man durchtrennt diese Zuschreibung, dass man meint, die

heilsamen Qualitäten, die sich jetzt gerade zeigen, hätten etwas mit dem Ich zu tun.

Tatsächlich zeigen sie sich immer mehr, je entspannter wir sind, je weniger das Ich in die Quere kommt.

Es hat mir sehr geholfen, das zu durchschauen: wenn ich mal Liebe empfinde oder Mitgefühl, dann

deshalb, weil da gerade kein Ich ist, das im Greifen ist und sich über den anderen stellt - sondern weil

es jetzt gerade fließen kann.

Wenn da spontane Freigebigkeit ist: ein Glück, dann ist das Ich gerade nicht im Weg gewesen. Die Ich-

Bezogenheit versucht sich das später einzuverleiben. Das können wir durchschauen. Dass ich zum Bei-

spiel jetzt hier sitzen, unterrichten und euch den Dharma erklären kann, hat nichts mit mir zu tun. Es ist

keine Qualität des Ich. Es ist das, was in jedem von uns zum Vorschein kommt, wenn wir es zulassen.

Plötzlich kann jeder aus der inneren Weisheit schöpfen und wie ein Buch reden.

Das ist keine Ich-Qualität. Das ist nicht etwas, was man sich auf seine Fahnen schreiben kann. Das hat

mir sehr geholfen, das tief zu durchschauen. Denn je heilsamer wir in der Welt unterwegs sind, desto

mehr Gutes passiert uns. Natürlich müssen wir dann darauf achten, dass das nicht wieder von der Ich-

Bezogenheit einverleibt wird. Da ist es gut, genau hinzuschauen, dass diese Qualitäten des Seins immer

mehr sich zeigen, je weniger Ich-Bezogenheit da ist. Das hilft mir sehr - und darauf würde ich auch

deine Aufmerksamkeit lenken.

Teilnehmer/-in: Worüber ich öfter stolpere, ist die Sichtweise der Furcht, also Furcht vor dem Leiden

von Samsara. Das wird sehr prägnant und dezidiert immer wieder erwähnt. Für mich selbst ist die

Furcht, die Angst, ein guter Ratgeber - und es ist für mich eine Art, ein bisschen eine Offenheit gegen-

über der Wirklichkeit des Leidens. Wieso operiert das Dharma mit der Furcht? Ich assoziiere es dann

sehr schnell - kulturbedingt - mit der christlichen Kirche, die sagt, wenn du das und das nicht machst,

kommst du in die Hölle ... Es ist eine Art Druckmittel. Ich frage mich, weil ich ja das alles sehr wertvoll

finde: braucht es das überhaupt, um diese Motivation zu erzeugen? Für mich ist es eher hinderlich.

Du beschreibst das sehr gut und tatsächlich gibt es in der Dharmaliteratur und bei den alten Lehrern so

etwas wie eine Pädagogik der Furcht. Das sind pädagogische Mittel, um Leute anzutreiben. Die Unter-

richtenden in Tibet hatten es fast nur mit Analphabeten zu tun. Die einzigen, die lesen und schreiben

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.36 konnten, waren die, die in den Klöstern lebten, und ein paar Handelsreisende. Die anderen waren ange-

wiesen auf die Unterweisungen, waren nicht speziell kultiviert und ziemlich derbe unterwegs. Die

brauchten offenbar relativ derbe Schreckensbilder, um so motiviert zu sein, das Töten sein zu lassen,

zum Beispiel.

Die Pädagogik der Furcht erweist sich auf die Dauer aber nicht als sehr hilfreich und ist für uns bestimmt

nicht der beste Weg. Deswegen ist für uns - glaube ich - eher eine Pädagogik der Freude angebracht,

dass wir merken, wie viel Freude entsteht, wie viel Offenheit, welche Qualitäten, und dass wir positiv

motiviert sind.

Schlussendlich bleibt ein Realismus. Es ist nicht nur Angstmache, was da beschrieben wird, sondern

tatsächlich sind die Konsequenzen von achtlosem Verhalten enorm, enorm viel Leid, das ist Realität -

und es ist gut, auch darüber zu sprechen. Eine Pädagogik der Freude darf nicht darüber hinweggehen,

was die Realitäten des Schreckens sind. Aber man braucht nicht ständig dabei zu verweilen.

Ich glaube da findet ein großer Wandel statt. Westliche Lehrer benutzen sehr viel weniger diese Päda-

gogik der Furcht und haben gelernt, anders die Motivation hervorzubringen.

Zusammenfassung der ersten zwei besonderen vorbereitenden Übungen

Zwei der vorbereitenden Übungen haben wir schon kennengelernt: die erste bestand aus dieser Serie

von Kontemplationen, die alle dazu beitragen, Kraft, Energie für die Praxis freizusetzen; zu sehen, wie

kostbar diese Situation ist, wie unbeständig, und was es braucht, um sich auf den großen Übergang, auf

den Tod vorzubereiten. Es geht darum, ganz im Heilsamen anzukommen, ganz in dem, was Herz und

Geist öffnet. Mit dieser Klarheit, Energie hat man die Kraft, die Verstrickungen loszulassen, also das

Beschäftigt-Sein mit so viel Überflüssigem hinter uns zu lassen.

In der zweiten vorbereitenden Übung geht es darum, wohin wir diese ganze Energie richten: Buddha,

Dharma, Sangha. Wir richten die Energie aus auf das Erwachen - im Grunde genommen aller Lebewe-

sen. Ein riesiger Begriff. Alle Lebewesen bedeutet immer die, die gerade in unserem Geist auftauchen,

denen wir begegnen, mit denen wir zu tun haben, die in unserem Geist präsent sind.

Erwachen bedeutet, völlig frei zu sein von allen Schleiern und alle innewohnenden Qualitäten freigesetzt

zu haben – das ist die Definition von Erwachen. Man weiß oft nicht, was mit Erwachen gemeint ist: also

alles, was den Geist verdunkelt und das Herz eng macht, ist aufgelöst. Man nennt das das Auflösen der

emotionalen Schleier und der kognitiven Schleier, der Verständnis-, Gewahrseins-Schleier.

Wenn das aufgelöst ist, zeigt sich, was ohnehin da ist. Das nennt man das völlige Entfalten der inne-

wohnenden Qualitäten oder das sich-Offenbaren der Buddha-Natur - ihr dürft es gern auch Christus-

Natur nennen - einfach die erwachte Natur. Wenn die Qualitäten ganz hervorkommen, dann ist klar,

dass wir im erwachten Wirken sind. Dann geht es nicht mehr um Meditation, sondern um Aktivität.

Erwachen bedeutet, ohne irgendwelche Hindernisse aktiv sein zu können. Dann geht es gar nicht mehr

um uns selbst, sondern wir sind aktiv für das Wohl aller, für die Situationen, in denen wir sind. Das

Wohl aller bezieht immer auch die Natur mit ein, also die Lebensbedingungen, unsere Umgebung: Pflan-

zen, Gewässer und natürlich alle, die da drin leben, die Sichtbaren und die Unsichtbaren. Erwachtes

Wirken ist immer in der ganzen Situation. Darauf richten wir uns aus.

Das waren die ersten beiden vorbereitenden Übungen: die Energie frei setzen für den Weg und dann

sich ausrichten auf das Erwachen. Dafür brauchen wir Unterstützung, Unterweisungen – Dharma und

Sangha, die Lehrer und Helfer auf dem Weg.

Bodhicitta

Wir sind auf Seite 6 des Wurzeltextes angelangt, wo es heißt:

Heutzutage - 16. Jahrhundert - meinen manche [Lehrer], die Stufe der Zufluchtnahme - also dieses

Sich-Ausrichtens auf Buddha, Dharma, Sangha - sei nur für Anfänger; sie spielen ihre Bedeutung

für die spätere Praxis herunter und üben sich nicht im Zufluchtsgelübde. Es fällt schwer, sie als

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 37

echte Praktizierende auf dem inneren Weg der Buddhas zu betrachten, da dies wirklich nicht

intelligent ist.

Es ist nicht wirklich intelligent oder überzeugend, die Ausrichtung aufs Erwachen aus der Praxis weg-

zulassen.

Auch für mich beginnt jeder Tag mit dieser klaren Ausrichtung: Buddha, Dharma, Sangha. So, wie wir

es gemeinsam machen, beginne ich morgens meine Praxis. Die Ausrichtung ist klar: den inneren Buddha

freizusetzen in mir und in allen Lebewesen mit Hilfe der Erkenntnis dessen, wie es ist: Dharma, und

mich zu stützen auf all das, was uns die erwachten Meister und Meisterinnen mit auf den Weg geben.

So einfach.

Für alle, die sich wünschen, die unübertreffliche Erleuchtung zu erlangen, ist das Hervorbringen

von Bodhicitta, dem Geist des Erwachens, das Tor ins große Fahrzeug. Die Wurzel des Weges ist

einzig und allein Bodhicitta.

Es gibt vielleicht einige hier im Raum, für die dieser Ausdruck Bodhicitta nun zum ersten Mal auftaucht.

Bodhi heißt Erwachen, citta wird meist mit Geist übersetzt, heißt aber auch Herz. Es ist der Herzensgeist

des Erwachens. Manchmal wird mit citta einfach das Herz gemeint. Im asiatischen Raum lokalisiert

man den Geist eher im Herzchakra. Damit ist also der Geist des Erwachens, der Geist aller Erwachten

gemeint.

Das ist ein Ausdruck, den wir auf mindestens zwei Ebenen verstehen sollten. Der Geist des Erwachens

als offenes Herz ist grenzenloses Mitgefühl, grenzenlose Liebe. Grenzenlos bedeutet ohne irgendeine

Grenze, da wird niemand ausgeschlossen. Ob es Terroristen sind, Diktatoren oder Folterer – niemand

wird ausgeschlossen. Alle werden von dieser Herzensöffnung erfasst, hineingenommen, und es entsteht

ein tiefes Verstehen dafür, wie man so oder so sein kann und leben kann.

Dieses tiefe Verstehen geht weiter in die zweite Ebene, wo das Verstehen so tief wird, dass es die Natur

des Seins versteht. Das nennt man das letztendliche Bodhicitta. Da ist der Geist des Erwachens identisch

mit dem zeitlosen Gewahrsein.

Der Geist der Erwachten ist in grenzenlosem Mitgefühl, Liebe, und Seins-Verständnis. All diese Zu-

sammenhänge, die wir hier erklären, werden nicht nur intellektuell verstanden, sondern es wird innerlich

gelebt.

Wenn man jetzt sagt, dass Bodhicitta die Wurzel oder das Tor des großen Fahrzeugs ist – lasst uns erst

die Begriffe großes und kleines Fahrzeug erklären. Das große Fahrzeug ist wie ein großes Schiff. Zum

kleinen Fahrzeug könnte man sagen, es ist wie ein Ruderboot, mit dem wir selber übersetzen über den

Strom von Samsara und ans andere Ufer möchten. Dabei möchten wir selbst sozusagen so schnell wie

möglich ins Trockene kommen, ans andere Ufer der Befreiung.

Das große Fahrzeug bedeutet, den Wunsch zu haben, so viele wie möglich mitnehmen zu können und,

wenn man schon am anderen Ufer war, nach Möglichkeit wieder zurück zu fahren mit dem großen

Schiff, um noch mehr zu holen.

Man spielt hier also den Fährmann: man nimmt welche mit, während man selbst rübergeht, rudert wieder

rüber, um andere zu holen - und unbegrenzt oft, nicht nur einmal. Solange, bis Samsara geleert ist, bis

es also niemanden mehr gibt, der unter dieser Verstrickung leidet. Solange also, bis sich niemand mehr

in diesem unnötigen Leiden aufhält.

Das nennt man grenzenloses Mitgefühl – es ist in Zeit und Anzahl der Lebewesen nicht begrenzt. Es ist

ein richtig großes Fahrzeug. Es ist gar nicht mehr anstrengend. Anstrengend ist es immer aus der Per-

spektive der Nicht-Erwachten, weil die aus dem Ich heraus Anstrengungen machen - und alles geht ein

bisschen mühsam, als ob Sand im Getriebe wäre oder wir auf der Bremse stünden. Dann wird mitfüh-

lendes Handeln als anstrengend erlebt und führt unter Umständen zum Burnout, denn die Kraft für diese

Art des Handelns wird aus dem „ich will“, „ich muss“, „ich sollte“ geholt. Da kommt sie her.

Erwachtes Handeln hingegen ist frei fließendes Handeln. Es ist überhaupt nicht anstrengend. Es ist an-

strengungsloses, absichtsloses und spontanes Wirken. Es fließt. Von daher ist es ganz natürlich, dass

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.38 aus der Perspektive des Erwachens, Bodhicitta einfach das Tollste und Natürlichste ist, was es überhaupt

gibt.

Wenn man nicht mehr mit sich selbst beschäftigt ist, kümmert man sich natürlich um alle anderen, alle

Situationen und Planeten, nicht nur um Planet Erde. Man kümmert sich um alle Orte, an denen es Leben

gibt, um alle Dimensionen, und sagt: Wo geht es lang, was kann man machen, wie geht es besser? Man

setzt keine Grenzen, wie lange das so sein wird. Wenn es nichts mehr zu tun gibt, dann feiern wir ein

großes Fest mit allen. Bis dahin holen wir weitere aus dem Kreislauf der Verstrickungen heraus. Das ist

Bodhicitta.

Als ich mit 22 Jahren zum ersten Mal über Bodhicitta hörte, hat das mein Leben verändert. Es war

Gendün Rinpoche. In Freiburg hat er über Bodhicitta unterrichtet. Das hat mich nie mehr verlassen. Es

hat lange gebraucht, bis ich mich dem öffnen konnte. Das habe ich Kalu Rinpoche und später Tenga

Rinpoche zu verdanken, den Lehrern, denen ich dann begegnet bin, die das Bodhicitta vorgelebt haben.

Dann kam ich wieder bei Gendün Rinpoche an. Sie haben vorgelebt, dass es möglich ist, ohne dass es

komisch wird, nicht aufgesetzt und auch nicht angestrengt, hemmungslose Offenheit und Liebe allem

gegenüber zu leben und sich selbst als große Gabe dem Universum und allen Lebewesen zu schenken.

Sie waren alle sehr entspannt. So erlebe ich das bei allen großen Meisterinnen und Meistern, die unter-

wegs sind, dass das Bodhicitta das Natürlichste der Welt ist. Es wäre schön, wenn ihr das auch so auf-

nehmen könntet und euch nicht aus Bodhicitta ein neues good boy/good girl Programm macht: ich muss

mehr Bodhicitta entwickeln; sondern dass ihr darauf vertraut, wenn ihr euch öffnet und die Ich-Illusion

durchschaut, es ganz natürlich zum Vorschein kommen wird. Ganz von selbst.

Solange noch Ängste in uns aktiv sind, dass wir uns um unser eigenes Wohl sorgen, werden wir natürlich

erst mal schauen, schnell ans andere Ufer zu kommen. Das ist auch völlig okay, aber dann können wir

dort vielleicht auch richtig entspannen und merken: es geht ja. In den Schriften des großen Fahrzeugs

nennt man das den Rastplatz, Auftanken, Kräfte sammeln, bis man bereit ist, sich im großen Stil auch

für andere einzusetzen. Es ist völlig okay: erst mal hinüber an den sicheren Ort, dort verschnaufen und

sich dann wieder aufmachen.

Das ist die Wurzel des Weges insofern, als Mahamudra, dieses völlig natürliche, offene erwachte Sein,

nicht ohne den Geist des Erwachens praktiziert werden kann.

Für uns jetzt auf der Anfängerstufe bedeutet das, dass wir die Möglichkeit offen lassen: es wäre schön,

bzw. ich bin bereit, wenn ich mal erwache, mich für alle Wesen einzusetzen. Das ist das Minimum, was

da sein muss: die grundlegende Bereitschaft, die Früchte der eigenen spirituellen Praxis mit anderen zu

teilen.

Auch wenn ich mich dazu noch nicht in der Lage fühle. Das spielt jetzt keine Rolle. Ich brauche noch

nicht dazu in der Lage zu sein. Das kommt später, ist schon eine gereifte Frucht. Jetzt braucht es nur die

Bereitschaft, wenn mal die Frucht reift, sie mit anderen zu teilen.

Nāgārjuna - erstes, zweites Jahrhundert nach Christus, einer der ganz großen Meister - sagt:

„Wenn wir weltliche Wesen die unübertreffliche Erleuchtung verwirklichen möchten, dann sollte

seine Wurzel, der Geist des Erwachens, so stabil sein, wie der König der Berge.“ – So sei es.

Im Sūtra in Form eines Baumes - das Avatamsaka Sutra, das so viele Unterlehrreden, so viele Kapitel

hat wie ein Baum mit seinen Verästelungen - lesen wir:

„Sohn aus edler Familie, Bodhicitta ist wie der Samen sämtlicher Lehren der Buddhas.“

Dharma wird immer aus dem Geist des Erwachens heraus unterrichtet. Sonst gibt es gar keinen Dharma-

Unterricht. Auch wenn manche behaupten, dass es buddhistische Traditionen gäbe ohne Bodhicitta, ist

das einfach nicht wahr. Immer wenn Dharma geteilt wird, ist es zum Wohle aller Lebewesen, damit die

nachfolgenden Generationen die Weisheit, das Verständnis übertragen bekommen, es weitergehen kann.

Einige von euch wissen, es gibt einen südlichen Buddhismus und einen nördlichen Buddhismus. Der

südliche Buddhismus spricht nicht viel über Bodhicitta, der nördliche Buddhismus spricht ganz viel

darüber. Merkwürdigerweise haben die im Laufe der Jahrtausende genau gleich viel für das Wohl der

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 39

Lebewesen getan. Da sieht man gar keinen Unterschied. Es sind nicht etwa mehr Schüler und Schüle-

rinnen beim nördlichen Buddhismus, dem großen Fahrzeug, entstanden und unterrichtet worden - und

weniger im kleinen Fahrzeug. Sondern sie haben, ohne viel darüber zu sprechen, ebenfalls aus Herzens-

güte heraus sich dem Wohl anderer hingegeben.

Heutzutage - wenn man sich das demografisch anschaut, wie viele offizielle Buddhisten es in der Welt

eigentlich gibt - gibt es genauso viele aus dem kleinen Fahrzeug, dem sogenannten südlichen Buddhis-

mus, und dem nördlichen Buddhismus. Irgendwo ist in allen Lehren des Dharma dieser Geist des Erwa-

chens aktiv – immer, wenn sich jemand einsetzt, jemandem den Dharma zu vermitteln und weiterzuge-

ben.

Dann wird die Medizin anderen weitergegeben, darum geht es. Egal ob man sagt, ich bin einer, der sich

vornimmt, später wiederzukommen zum Wohl anderer. Die kommen sowieso wieder, ob man es sich

vornimmt oder nicht. Einige steigen aus, dass ist auch im nördlichen Buddhismus der Fall, - die auch

nicht offiziell wiederkommen. Also machen wir daraus keinen großen Unterschied. Wichtig ist für uns

die Bereitschaft, alles weiterzugeben, was wir verstehen und zu erkennen, was wir haben und im Grunde

genommen, was wir sind. Wir sind bereit, uns selbst zum Geschenk zu machen.

Der Geist des Erwachens entsteht, wenn wir Liebe und Mitgefühl für die Lebewesen hervorbrin-

gen. Liebe und Mitgefühl wiederum beruhen darauf, dass wir Lebewesen als unsere Mütter - aus

früheren Leben - erkennen, der Güte all dieser Mütter gewahr werden und aus Dankbarkeit für

ihre Güte - die sie uns in früheren Leben erwiesen haben - etwas für sie tun möchten. Ich vergesse

manchmal, dass ihr alle schon mal meine Mütter wart. Aber jetzt, wo ich daran denke, ist das ziemlich

gut. Schaut euch mal um und stellt euch vor, wir wären alle schon einmal wohlwollende Mütter fürei-

nander gewesen.

Wir können es aber auch so sagen, dass wir alle füreinander Brüder und Schwestern, Mütter und Väter,

Partner und Partnerinnen gewesen und uns auf vielfältige Weise begegnet sind. In den Leben, wo es uns

besser ging, haben wir uns auch gut umeinander gekümmert. In den anderen Leben haben wir uns an-

gefeindet, zerfleischt, bekämpft, was auch immer. Das gab es auch, genauso viele Leben lang. Das steht

hier nicht drin, aber das ist auch der Fall.

Wir haben jetzt die Wahl, es ein bisschen besser zu machen, indem wir jeden, dem wir begegnen, als

unsere Schwester, unseren Bruder betrachten: mit uns unterwegs ins Glück, in die Befreiung, ins Erwa-

chen, heraus aus all dem unnötigen Leid, aus der Verstrickung. Diese Haltung ist angewandtes Bodhi-

citta.

Wir können uns manchmal daran erinnern, dass wir vermutlich füreinander schon ziemlich gesorgt ha-

ben und wir damals sehr viel empfangen haben von jedem einzelnen von euch. In diesem Leben können

wir das zurückgeben, indem wir den Dharma miteinander teilen.

So kultivieren wir intensiv mit dieser höchsten Motivation dieses liebevolle Gewahrsein. Der Nut-

zen solchen Kultivierens von Liebe, Mitgefühl und Bodhicitta wird [von Nāgārjuna] in der Juwe-

lenkette beschrieben:

„Selbst, wenn wir dreimal täglich aus dreihundert Töpfen Essen - an zig-Tausende von Menschen

- spenden würden, käme dies nicht an die positive Kraft eines einzigen Augenblickes der Liebe

heran. Du wirst von Göttern und Menschen geliebt und auch von ihnen beschützt. Du bist glück-

lich und erlebst viele Freuden. Weder Gift noch Waffen schaden dir - wenn du so in der Liebe

aufgehst -, mühelos erreichst du deine Ziele und wirst in Brahmas Welt geboren. Brahma in der

Mythologie der Inder ist die höchste Götterstufe, wo alle hinwollen. In der Sprache der Buddhisten ist

das die Dimension der Brahmaviharas, der grenzenlosen Qualitäten: Liebe, Mitgefühl, Freude und wei-

sem Gleichmut.

Selbst wenn du noch nicht befreit bist, erlangst du diese acht Vorzüge der Liebe.“ Selbst wenn

Liebe uns noch nicht ins Erwachen geführt hat, so werden doch diese Vorzüge entstehen, dass wir von

Göttern und Menschen geliebt und beschützt werden, wir glücklich sind, viele Freuden erleben, uns Gift

und Waffen nicht schaden können, wir mühelos unsere Ziele verwirklichen und unter vortrefflichen

Bedingungen wiedergeboren werden. Ein buddhistisches Hohelied der Liebe.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.40

Mitgefühl als Quelle der befreienden Qualitäten

In der Klaren Äußerung zur Verwirklichung von Avalokiteśvara - das ist zur Praxis des Buddhas des

erwachten Mitgefühls - lesen wir:

„Gäbe es nur eine einzige Qualität und wir bekämen durch sie alle Qualitäten der Buddhas in die

Hand – welche wäre das wohl? Dies ist das Große Mitgefühl.“

Eine Qualität und wir hätten mit ihr alle Qualitäten der Buddhas in der Hand – das ist das große Mitge-

fühl. Mitgefühl und Liebe sind eins im buddhistischen Sprachgebrauch. Liebe kümmert sich darum,

dass es allen gut geht, und Mitgefühl kümmert sich darum, dass sie von Leid befreit sind. Das gehört

immer zusammen.

Wenn wir aus Liebe jemanden pflegen, weil er gerade krank ist, dann ist das in der buddhistischen

Terminologie das Mitgefühl, das sich so ausdrückt, indem wir das Leid verringern und erleichtern. Die-

selbe Liebe schaut, dass die Bedingungen entstehen, dass dieser Mensch nicht wieder krank wird und

glücklich sein kann. Das gehört immer zusammen.

Das große Mitgefühl - groß, weil es nicht aus Ich-Bezogenheit kommt, groß ist nicht die Quantität,

sondern es ist nicht mehr dualistisch - dieses non-duale Mitgefühl ohne Ich als Mittelpunkt ist die Quelle

aller Qualitäten der Buddhas.

Lasst uns gerade mal die berühmten sechs Paramitas, die sechs befreienden Qualitäten durchgehen, um

das an dem Beispiel deutlich zu machen.

Freigebigkeit, die erste, entsteht immer dann, wenn mitfühlend und liebevoll erahnt wird, was jemand

braucht oder die Situation braucht. Dann wird dies gegeben. Sei es materiell, sei es Schutz, hilfreiche

Worte, sei es der Dharma…was immer es braucht. Die Quelle von Freigebigkeit ist Mitgefühl.

Das zweite Paramita, heilsames Verhalten: aus Mitgefühl fügen wir anderen keinen Schaden, kein Leid,

keinen Schmerz zu. Aus Mitgefühl verhalten wir uns respektvoll, aus Mitgefühl kümmern wir uns da-

rum, dass sie die Bedingungen haben, um glücklich zu sein. Alle Formen des heilsamen Verhaltens

kommen aus dem Spüren, dass es anderen geht wie uns: dass sie Schmerz erfahren, sie glücklich sein

wollen. Liebe und Mitgefühl machen, dass wir Schädliches und Leiderzeugendes unterlassen und leben,

was heilsam ist und gut tut.

Gehen wir weiter zur dritten Qualität, Geduld. Fangen wir mit den einfachen Formen von Geduld an.

Ich brauche etwas Geduld, während mein kleiner Sohn sich mühsam die Schuhe zubindet. Das fällt total

leicht, weil ich weiß, der ist klein und lernt das gerade. Dann die etwas schwierigere Form von Geduld

mit jemanden, der sich im Verkehr vordrängelt: Mitgefühl – wie kann man so gestresst sein? Wenn ich

weiß, wie es sich anfühlt, so einen Zeitdruck zu haben, wenn ich mich einfühlen kann, dann sage ich:

bitte, ja, kein Problem. Mitgefühl hat Geduld. Mitgefühl bringt Geduld auf, mit anderen durch ihre

Schwierigkeiten hindurch zu gehen. Mitgefühl ist die Quelle aller Geduld.

Gendün Rinpoche ging so weit und sagte: „Wer Mitgefühl hat, braucht keine Geduld, die ist sowieso

da“. Man kann die beiden überhaupt nicht auseinander dividieren. Wir brauchen keine Geduld zu üben,

wenn wir Mitgefühl haben.

Dann habe ich, der ich oft an Ungeduld leide - also Ungeduld ist eine meiner Stärken, wollen wir es mal

so sagen - mir angeguckt, wann ich ungeduldig werde. Ich habe gemerkt, verflixt nochmal, der Gendün

hat Recht. Immer, wenn ich ungeduldig werde, bin ich nicht einfühlsam, habe kein Verständnis für die

Situation. Ich will etwas, ich will etwas anderes, als jetzt gerade stattfindet. Mir mangelt es an Einfüh-

lungsvermögen.

Dann konnte ich wieder etwas mehr ins Mitgefühl finden und das ist immer noch meine Praxis. Das ist

gerade das, woran ich besonders intensiv arbeite. Jeder Mensch - es kommt uns ja manchmal so vor -

ist eine Herausforderung in Geduld. Eigentlich jeder Mitbürger auf diesem Planeten ist eine Gedulds-

probe. Das ist eine Sicht der Dinge. Mit dem, was ich gerade erklärt habe, ist es aber eine Übung in

Mitgefühl und es geht gar nicht um Geduld. Geduld ist nur die Folge davon. Es geht darum, sich zu

öffnen, einzufühlen und tief zu verstehen. Dann ist Geduld von selbst da. Es ist immer sehr erleichternd

für mich: wenn ich endlich verstehe, ist die Geduld automatisch da. Mitgefühl ist Quelle von Geduld.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 41

Die vierte Qualität, Mitgefühl als die Quelle von freudiger Ausdauer. Das ist die Energie, Heilsames

umzusetzen und auch bei Hindernissen nicht aufzugeben, sondern einfach weiterzumachen, bis das Heil-

same getan ist. Freudige Ausdauer bezieht sich immer auf etwas, das allen gut tut - oder zumindest

denen, die es angeht, mich selbst oder andere.

Wenn man Dharmapraxis, freudige Ausdauer, täglich üben möchte, dann denkt man immer: Nein, ich

bin zu faul, mir fehlt es an Disziplin. Wir denken, wir bräuchten mehr Disziplin, damit wir unsere Me-

ditation morgens und abends hinkriegen.

Es fehlt uns an Freude, an einer freudigen Energie, das zu tun, was wirklich gut tut. Das finden wir,

wenn wir Mitgefühl haben. Tatsächlich haben wir zu wenig Mitgefühl mit uns selber. Wir schenken uns

nicht das, was gut tut. Wir tun nicht das, was wir uns weise und mitfühlend vorgenommen haben, weil

uns in dem Moment alles andere wichtiger erscheint. Es mangelt uns an Mitgefühl.

Das gilt für alle anderen Projekte im Leben auch: Dharma-Projekte, soziale Projekte, wo immer wir

etwas Heilsames angehen. Wenn Schwierigkeiten auftauchen und es diese freudige Energie braucht, um

die Schwierigkeiten zu bewältigen oder neue Wege zu finden, dann tut es gut, sich zurückzubesinnen,

dass es eigentlich um Mitgefühl geht. Eigentlich geht es darum, nochmal zu spüren, dass das, was wir

vorhaben, dieses heilsame Projekt, was immer es ist, wirklich Leid verringert und Glück bringt. Dann

sind wir wieder im Mitgefühl und haben wieder die Energie, um die Hindernisse anzugehen bzw. auf-

zulösen. Da entsteht diese freudige Ausdauer.

Freudige Ausdauer bedeutet, immer im Mitgefühl zu bleiben, immer mit der ursprünglichen Motivation

verbunden zu bleiben, komme was wolle. Das gibt uns diesen Elan. Elan ist auch eine gute Übersetzung

für das vierte Paramita.

Jetzt Mitgefühl als Quelle von meditativer Stabilität, von Versenkung. Zunächst denken wir: Mitgefühl

und tiefe Meditation - naja, manchmal mache ich ein bisschen Metta-Praxis. Tut ganz gut, aber beim

Meditieren spüre ich das Mitgefühl nicht so.

Das ist genau das Problem. Deswegen geht die Meditation nicht so tief. Alle Hindernisse in der Medi-

tation - in Geistesruhe, Einsicht und in Mahamudra - entstehen aus Ich-Bezogenheit. Ob es ein aufge-

wühlter Geist ist oder ein dumpfer und träger Geist: welche Emotionen uns auch immer gerade ver-

schleiern und blockieren, alles entsteht aus Ich-Bezogenheit.

Wenn wir uns aus Mitgefühl hinsetzen, aus Mitgefühl in Geistesruhe gehen, aus Mitgefühl Einsicht

entwickeln, gibt es überhaupt keine Hindernisse. Wenn es welche gibt, weil zwischendurch mal Ich-

bezogene Impulse und Muster aktiv werden, dann lösen sie sich sofort auf, wenn wir wieder zurückfin-

den ins Mitgefühl, ins Bodhicitta.

Nehmt euch das ganz tief zu Herzen. Es gibt keine Probleme beim Meditieren, es sei denn zu starke Ich-

Bezogenheit und mangelndes Mitgefühl. Das sind selbsterzeugte Probleme. Aus dem Haften am Selbst,

an mir, entsteht der ganze Wirrwarr, Zirkus unserer Schwierigkeiten beim Meditieren.

Wenn wir uns hinsetzen, tief Zuflucht nehmen, das Herz weiten und wirklich viele Male sagen: „Mögen

alle Lebewesen glücklich sein und frei sein von Leid…“, und so beten, bis unser Herz gefüllt ist davon,

brauchen wir irgendwann nicht mehr weiter zu beten - der Geist ist völlig weit und offen durch die Kraft

des Mitgefühls.

Da gibt es nichts anderes zu tun. Wir brauchen nur diese Herzenskraft zu entwickeln, wirklich innigst

zu beten und uns zu öffnen für das Wohl aller. Wir sind einbezogen dabei, wir sind auch Teil von allen,

wenn es heißt:

Mögen alle Wesen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Mögen wir alle frei von Leid

und dessen Ursachen sein. Mögen wir niemals von wahrer leidfreier Freude getrennt sein. Mögen wir

in allen Situationen frei von Anhaften und Ablehnen in großem Gleichmut aufgehen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.42 Wenn wir diese Wünsche in uns tragen und beten und fühlen und uns dem öffnen, dann entsteht dadurch

ganz offene, weite Meditation, in der die Erkenntnisse purzeln. Wirklich, das rattert nur so. Jede Medi-

tation führt uns ein Stückchen weiter. Wir verstehen immer ein bisschen mehr, wie es eigentlich wirklich

ist. Das bewirkt die Kraft des Mitgefühls.

Damit wären wir schon bei der sechsten Qualität, der Weisheit. All diese Erkenntnisse kommen aus der

Kraft des Mitgefühls. Auch die Weisheit, wie man anderen hilft, wie man wirkt zum Wohle aller, kommt

einzig aus der mitfühlenden Suche nach den Lösungen, nach den geschickten Wegen, in dieser Welt zu

sein, zu kommunizieren usw.

Alle Weisheit - die relative Weisheit, wie wir in dieser Welt helfen können, und das Verständnis des

Letztendlichen - kommt alles aus Liebe und Mitgefühl.

So könnten wir egal welche Qualität nehmen. Alle haben ihre Wurzel im Mitfühlen, im Lieben. Lieben,

mitfühlen, offen sein, mitschwingen – das ist damit gemeint. Das entsteht ständig neu. Wir können nicht

mal Mitgefühl haben und dann haben wir es, sondern Mitfühlen und Mitschwingen entsteht ständig neu

und man kann ständig wieder da herausfallen in Ich-Bezogenheit.

Das ist nicht etwas, was wir haben können, genau so wenig, wie wir die Liebe zu einem Partner, einer

Partnerin einfach so haben können. Das geht nicht. Es geht ums Lieben. Das Lieben setzt sich fort und

gestaltet sich immer wieder neu. Das Mitfühlen gestaltet sich immer neu. Es ist etwas ganz Frisches,

immer neu. Man kann es nicht aus der Vergangenheit herüberholen.

Das ist die Wurzel des Erwachens.

Candrakīrti schreibt:

„Deshalb ist die Liebe der Samen für die vortreffliche Ernte der Siegreichen - der Buddhas -. Weite

sie aus und bewässere sie, damit du ihre Reife ständig genießt. Aus diesem Grund beginne ich -

diesen Text - mit dem Lobpreis des Mitgefühls.“

In dem von Vīradatta - einem Laienpraktizierenden - erbetenen Sūtra lesen wir:

„Wenn die Verdienste des Geistes des Erwachens eine Form hätten, würden sie den ganzen Him-

melsraum füllen und noch viel mehr - sagt der Buddha -! Würde jemand alle Länder der Erwach-

ten - alle reinen Gefilde -, deren es so viele wie Sandkörner im Ganges gibt, gänzlich mit kostbars-

ten Dingen anfüllen und den zur Freude Gegangenen - den Buddhas - darbringen, so würde diese

Gabe noch bei weitem übertroffen von jemandem, der die Hände zusammenlegt und den Geist

auf das große Erwachen ausrichtet – denn diese Gabe ist jenseits aller Begrenzungen.“

Es kann sein, dass für euch diese Art zu denken und zu vergleichen etwas unverständlich ist. Was hier

verglichen wird, ist größtmögliche materielle Freigebigkeit: wenn man in der Lage wäre, alle Universen

und reinen Gefilde der Buddhas mit Opferungen, kostbarsten Dingen zu füllen, und das persönlich den

Buddhas darbringen würde, so wäre das doch immer nur noch Freigebigkeit mit wunderbaren, schönen

Dingen.

Obwohl es unglaublich starke positive Kraft aufbaut, wird es übertroffen von einem einzigen Moment

aufrichtigen Bodhicittas, wo wir den Geist ganz auf das große Erwachen ausrichten - was der Same

dafür ist, das große Erwachen zu verwirklichen und zum Wohle aller Lebewesen aktiv zu sein.

Deswegen kann man die positiven Auswirkungen gar nicht miteinander vergleichen. Das eine bleibt

eine immer noch begrenzte Handlung der Freigebigkeit. Und das andere ist ein nicht abzusehender,

unbegrenzter Strom des Erwachens und des erwachten Handelns, der daraus entsteht.

Das ist eine Botschaft an Praktizierende, die bemüht sind, viel positive Kraft aufzubauen, zu entfalten,

was man manchmal auch Verdienste nennt. In dem Bemühen, die positive Kraft aufzubauen, zünden sie

Kerzen an, machen Gaben am Altar, machen großzügige materielle Gaben den Lehrern gegenüber und

stiften vielleicht sogar ganze Tempel…und was man alles Gutes tun kann auf der materiellen Ebene.

Aber das kommt dem nicht gleich, einen einzigen tief aufrichtigen Moment des Bodhicittas, also der

Herzensöffnung für alle Lebewesen, zu empfinden mit der Bereitschaft, sich für sie alle einzusetzen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 43

Das Beste ist die Kombination der beiden: aus der vollkommenen Herzensöffnung heraus dem Wohl

der Lebewesen alles zur Verfügung stellen. Es geht nur so: wenn echtes Bodhicitta entsteht, werden wir

nichts mehr zurückhalten. Dann gehört unser Leben den Lebewesen. Das ist echtes Bodhicitta.

Wenn dieses Bewusstsein zum ersten Mal entsteht - das Bodhisattva Gelübde genommen zu haben, das

vollkommene Erwachen zu erlangen und mich für das Wohl aller Lebewesen einzusetzen, solange noch

welche in Leid verstrickt sind - von diesem Moment an wissen wir, dass das eigene Leben und auch die

folgenden zukünftigen Leben uns nicht mehr selbst gehören. Die gehören dann dem Erwachen aller

Lebewesen.

Das nennt man das wirkliche Hervorbringen von Bodhicitta, wenn diese Bereitschaft entsteht.

Weiterer Nutzen von Bodhicitta

Es gäbe noch viele solche Zitate, doch zusammengefasst ist der Nutzen des strebenden Bodhicitta

achtfach - wenn wir den Wunsch entwickeln, das Erwachen zu verwirklichen zum Wohle aller, entsteht

ein achtfacher Nutzen -:

Wir besteigen das große Fahrzeug – wir sind jetzt dabei, das große Fahrzeug vorzubereiten, in dem

alle mitkommen können, mit dieser Geisteshaltung -,

wir werden zur Grundlage aller Aspekte der Übung von Bodhisattvas - unsere Bodhisattva-Übung

beginnt jetzt, weil diese Geisteshaltung entstanden ist. Was immer wir von dem Zeitpunkt an üben,

vermehrt unsere Fähigkeit, anderen zu helfen, wirklich zu helfen, also ins Erwachen zu helfen -,

aller Negativität - all diesen Ich-bezogenen Schleiern - wird endgültig ein Ende gesetzt - es ist also

absehbar, dass mit dieser Geisteshaltung auch die letzten Reste der Ich-Bezogenheit aufgelöst werden,

das Ende ist in Sicht -,

die Wurzel der Erleuchtung ist gepflanzt - es ist klar, dass jemand in dieser Geisteshaltung irgend-

wann, und zwar in gar nicht so langer Zeit, in der Erleuchtung ankommt -,

es werden unermessliche Verdienste erworben - eine unermessliche positive Kraft entsteht im Geis-

tesstrom und wird immer stärker, je länger und je häufiger wir in dieser Geisteshaltung sind -,

alle Buddhas werden aufs Höchste erfreut - die Erwachten freuen sich: Noch eine, noch einer, der es

geschnallt hat, da geht es lang, bravo, mach weiter so, wir sind dabei, unterstützen dich, das macht uns

wirklich Freude. Es geht gar nicht darum, dass du uns etwas opferst oder Preisungen singst. Das alles

ist nicht nötig. Übe den Weg der Befreiung und setz dich für das Wohl aller ein. Genau das machen wir

auch. Mit dieser Geisteshaltung bist du in der Familie der Buddhas geboren. -,

Nutzen für alle Lebewesen entsteht - klar, weil aus dieser Haltung werden wir von sofort an auf un-

absehbare Zeiten für das Wohl aller handeln -, und wir erlangen schnell wahre Vollkommenheit - ein

Synonym für Buddhaschaft.

Darüber hinaus entsteht noch vielfacher weiterer Nutzen durch das angewandte Bodhicitta, das

kontinuierlich das eigene Wohl bewirkt und auf vielfältige Weise das Wohl anderer bewirkt. Also

die Anwendung, die konkrete Umsetzung dieser Geisteshaltung, in den vielen Situationen unseres Le-

bens, in den Gebeten, den Meditationen, den Aktivitäten, bewirkt einen nicht näher beschreibbaren un-

ermesslichen Nutzen - wie etwas, das ins Rollen kommt und immer größer und umfassender wird.

So ist es notwendig, aufrichtig Liebe, Mitgefühl und Bodhicitta zu kultivieren, indem wir ihre

Inhalte und auch ihre wahre Natur meditieren, bis wir Gewissheit finden.

Die Inhalte von Liebe, Mitgefühl, Bodhicitta, habe ich kurz beschrieben. Der Inhalt von Liebe ist das

offene Herz mit der Bereitschaft, alles zu tun, damit alle glücklich werden und Befreiung erlangen.

Der Inhalt von Mitgefühl bedeutet, in dieser Herzensöffnung alles zu tun, was in unserer Kraft steht, um

Leid zu vermindern.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.44 Der Inhalt vom strebenden Bodhicitta ist, sich auf das Erwachen aller auszurichten. Der Inhalt von an-

gewandtem Bodhicitta ist, das dann konkret in vielen Situationen umzusetzen. Jetzt geht es darum, was

die eigentliche Natur dieser Qualitäten ist.

Die wahre Natur dieser drei ist, dass auch die Liebe, das Mitgefühl, das Bodhicitta, keine Substanz

haben. Sie sind nicht fassbar. Es ist nicht ein Etwas. Die Liebe ist nicht ein Etwas. Bodhicitta ist nicht

ein Etwas, das man hervorbringen und dann haben kann.

In der Liebe, im Mitgefühl, im Bodhicitta gibt es niemanden, der oder die liebt, die Mitgefühl empfindet

oder die Bodhicitta übt. In Wirklichkeit sind diese Qualitäten frei von Ich und Du, frei von Subjekt und

Objekt.

In Wirklichkeit sind es bloß Worte, Bezeichnungen für Energien, die wirken, die total dynamisch sind,

nicht einen Moment stillstehen und keineswegs fassbar sind. Wir können sie nicht fassen oder ergreifen.

Wir haben sogar große Mühe, sie zu beschreiben. Das ist die wahre Natur.

Liebe, Mitgefühl, Bodhicitta sind also kein Programm, etwas zu erreichen, sondern sind eigentlich die

Energien, die freigesetzt werden, wenn alles, was sie hindert, sich zu zeigen, aufgelöst ist. Es ist das,

was natürlicherweise zum Vorschein kommt als die Herzenskräfte, der natürliche Ausdruck unseres

offenen Seins und all seinen Qualitäten.

Da ist niemand, der das macht. Da ist niemand, der das beobachtet, der getrennt davon ist und das ir-

gendwie beschreibbar erlebt. Wir sind einfach das und wir gehen ganz darin auf. Das vermeintliche Ich

löst sich in diesen Qualitäten auf.

Die wahre Natur zu meditieren, zusammen mit den Inhalten, ist unsere Aufgabe, bis wir entdecken und

mit unerschütterlicher Gewissheit selbst erfahren, dass es so ist.

Es wird erklärt, dass eine Praxis des Heilsamen - synonym für Dharma-Weg - ohne Bodhicitta und

insbesondere das Meditieren der Leerheit ohne Bodhicitta weder auf den Weg des großen Fahr-

zeugs führt noch in die vollkommene Erleuchtung.

Also ohne Bodhicitta kein Mahamudra. Ohne Bodhicitta kein wirklich transformierender spiritueller

Weg. Es ist wirklich die Wurzel von allem.

Ihr spürt, wie wichtig mir das ist. Das ist so unglaublich essentiell, aber noch mehr Worte zu machen

hilft auch nicht. Natürlich gibt es noch viel mehr Worte und lange Texte darüber. Aber schlussendlich

bedeutet es, wenn ihr euch hinsetzt für eure persönliche Praxis und eine halbe Stunde Zeit habt, dass ihr

wisst, dass es viel wichtiger ist, ein bisschen Bodhicitta zu entwickeln, als lange zu meditieren.

Es geht darum, dass ihr euch Zeit nehmt, den Geist reinfinden zu lassen in dieses Wohlwollen. Ich

unterrichte das immer mit dem Herzensatem. Das bedeutet: so einatmen, dass es mir gut tut, und so

ausatmen, dass es mir gut tut. Tiefes Wohlwollen für den, der da atmet. Dann atmen wir wohlwollend

für die nächste Person, an die wir denken. Mitfühlend einatmen, liebevoll ausatmen. Das machen wir zu

einer kontinuierlichen Praxis, sodass dieses tiefe unbegrenzte Wohlwollen jeden Atemzug begleitet. Das

ist wichtiger als alles Meditieren. Das kann sich daran anschließen, aber die Basis ist, dass wir erstmal

in diese Bodhicitta-Grundhaltung hineinfinden: unbegrenztes Wohlwollen. Das fängt mit uns selbst an,

setzt sich mit unseren Nächsten fort und weitet sich auch auf die Unbekannten aus. Darin lässt sich

vortrefflich meditieren.

Fragen

Teilnehmer/-in: Ich habe eine Frage zu Mitleid und Mitgefühl. Ich habe Momente erlebt, wo ich total

überwältigt bin von einem schockierenden Verstehen ganz tiefer Verzweiflung, die ich bei ganz vielen

Menschen und natürlich bei mir selbst auch spüre. Was aber passierte war, dass mein Herz eher wieder

zuging, vielleicht weil es zu intensiv war oder weil ich mich damit stark identifiziert habe. Meine Ver-

mutung ist, dass da eher Mitleid drin ist.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 45

Ich kenne auch Momente, wo durch die Praxis ein Verstehen, aber nicht Mitleiden an dieser starken

Verzweiflung mitfließt, eher ein bisschen mehr wahrnehmen, dass was ganz Kerngesundes ist in jedem

Menschen.

Wie ist der Weg vom einen zum anderen? Ist das ein normaler Prozess, dass manchmal stark dieses

Mitleiden da ist und dann auch wieder ein bisschen mehr ins Fließen kommt?

Ich mache auch die Erfahrung, dass ich weinen muss, manchmal eher aus dieser Verzweiflung, manch-

mal aus vielleicht mehr Mitgefühl, manchmal aus Hingabe… Kannst du dazu etwas sagen? Meine Ver-

mutung ist, dass da auch ein Greifen oder eine Enge drin ist, etwas, was ich noch nicht ganz verstehe.

Was du beschreibst, ist mir sehr vertraut. Es hängt nur zum Teil mit diesem Unterschied zwischen Mit-

gefühl und Mitleid zusammen.

Erstmal, es ist ganz normal, wenn unser Herz aufgeht und wir wirklich mitschwingen, dass uns uner-

messliches Leid berührt und schüttelt, aber so durchschüttelt, dass wir manchmal denken: Hätte ich mein

Herz nicht so weit geöffnet und mich nicht darauf eingelassen - weil es so, so stark ist.

Ich würde nicht sagen, dass dies Mitgefühl oder Mitleid ist, sondern: es bricht etwas ein in unser Be-

wusstsein, wie unendlich stark und intensiv das Leid ist, das Menschen oder andere Lebewesen durch-

machen. Das war uns vorher nicht bewusst - und jetzt bricht es ein und schüttelt uns durch. Wir sind tief

betroffen und es ist eigentlich nicht auszuhalten. Irgendwie haben wir es überlebt, aber eigentlich ist es

fast unaushaltbar, wenn man sich ganz dafür öffnet.

Da ist nicht nur das Herz aufgegangen, sondern wir haben in dem Moment die normalen Vermeidungs-

strategien, dieses Nicht-sehen-Wollen nicht aktiviert, sondern wir haben hingeschaut und gefühlt – es

war echtes Mitgefühl. Das ist die Voraussetzung dafür, dass überhaupt echte Erkenntnis, Weisheit, ech-

tes Verstehen, entsteht.

Dieses Wort Mitleid reserviere ich dafür, wo das Leid im anderen bei uns unbewältigtes Leid stimuliert,

triggert, und wir mit eigenen Geschichten in Berührung kommen und die zum Teil auch in den anderen

hinein projizieren. Da gehen unsere leidhaften Anteile in Schwingung mit dem Leid, welches wir beim

anderen meinen zu sehen oder zu erfahren.

Das ist in deiner Frage gar nicht das Essentielle, sondern dir geht es um die Intensität des Fühlens und

wie man damit weiter umgeht.

Die Lösung ist, dass es noch mehr Weisheit und Gewahrsein davon braucht, wie es wirklich ist. In den

ersten Erfahrungen solch überwältigenden Mitgefühls sind wir in einem Erleben, wo uns das alles sehr

solide vorkommt, unglaublich wirklich. Es wirkt ja auch, es bewirkt unglaubliches Leid.

Das einzige was hilft ist, mit zunehmender Erkenntnis der wahren Natur von Leid immer durchlässiger

zu werden und zu merken: was jetzt als Erleben im eigenen Geist auftaucht, hat überhaupt keine Sub-

stanz. Es ist so, als wenn ich einen Horrorfilm nicht nur sehe, sondern auch spüre. Das rauscht alles

durch wie ein Albtraum, den ich, solange ich nicht erkenne, dass es ein Traum ist, so erlebe, dass es

mich innerlich wie zerreißt. Aber in dem Moment, wo ich sehe, dass es ein Traum ist und keine Substanz

hat, öffnet sich das und die Möglichkeit besteht, dass es durchrauscht.

Das müssen wir entwickeln, wenn wir uns großem Leid öffnen. Wir brauchen diese zusätzliche Weisheit

der wahren Natur von Leid, wir müssen diese Erkenntnis kultivieren. Man nennt das ‚das Erkennen der

Leerheit aller Phänomene‘, der nicht-fassbaren Natur dieses Erlebens. Das macht es möglich, das Herz

offen zu halten, sich nicht wieder zurückzuziehen, sondern sogar noch mehr Leid einzuladen, sodass

wir noch mehr spüren und noch mehr mitbekommen.

Es braucht weniger Mut, weil die Weisheit zugenommen hat - bis wir auch großes Leid erfahren können,

mitschwingen und in uns abbilden können. Schon im nächsten Moment sind wir ganz frei und unbelastet

davon. Das ist möglich, das ist die Kraft der Erkenntnis, die das möglich macht. Deswegen spreche ich

immer vom Bodhisattva des erwachten Mitgefühls, wenn ich von Chenrezig, Avalokiteshvara spreche,

weil dieses Mitgefühl nur möglich ist, wenn die Weisheit, Seins-Erkenntnis da ist. Wenn da vergegen-

ständlicht wird, ist es unerträglich.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.46 … und zum Weinen, zum Berührtsein?

Ich weine die ganze Zeit, da ist nichts verkehrt damit. Immer wieder weinen, die Tränen fließen lassen.

Auch in dieser Phase, wo du jetzt bist, das alles entdeckst, in dir so viel schmilzt und in Bewegung

kommt. Lass die Tränen einfach laufen. Ich habe im ersten Jahr meines Retreats, wenn ich die Tränen

zusammenfassen wollte, bestimmt einen Eimer Tränen geweint - ohne zu wissen, wo die herkommen.

Einfach laufenlassen, tut gut. Das ist wie ein Salzkristall, der schmilzt.

Teilnehmer/-in: Wenn ich in einer Meditation eine tiefgreifende Erkenntnis gewonnen habe, habe ich

eigentlich das Bedürfnis, das mit anderen zu teilen. Denn dadurch, dass ich es ausdrücke, wird es mir

selber klarer und vielleicht bekomme ich vom anderen verschiedene Aspekte gespiegelt. Ich habe ges-

tern gehört, das wäre nicht hilfreich. Habe ich das richtig verstanden oder habe ich da etwas in den

falschen Hals gekriegt?

Beim Meditieren tauchen viele Erfahrungen auf und wachsende Erkenntnis macht sich breit. Der rich-

tige Zeitpunkt, darüber mit jemand anderem zu sprechen ist, wenn sich das abgerundet hat, wenn also

der Prozess mit diesen Erfahrungen und Erkenntnissen abgeschlossen ist. Im Prozess selber bereits mit

anderen darüber zu sprechen, stört den Prozess. Also danach.

Die Menschen, mit denen wir darüber sprechen, sollten Vertraute sein, die uns auf unserem Weg unter-

stützen. Da kann es zum Beispiel zu einer schönen, fast täglichen Partnerübung gehören, sich das ge-

genseitig zu schenken, was man gerade so erlebt und erkannt hat.

Aufpassen müssen wir, wenn wir es wie nicht halten können, wenn es also in uns drängt, sich mitzutei-

len. Da ist für gewöhnlich eine rechte Portion Identifikation dabei. Dann zu teilen, ist nicht so hilfreich,

weil wir ein bisschen dem Stolz aufsitzen, dem Erkennen, da etwas erfahren zu haben. Da ist gar kein

echtes Mitgefühl oder Forschen, es dem anderen mitzuteilen, sondern etwas Zwanghaftes in uns.

Deswegen ist es am besten, nicht mit irgendjemanden, sondern mit Praxisgefährten darüber zu sprechen,

die das zum Beispiel durchschauen können, wenn man ein bisschen stolz über etwas erzählt. Aber an-

sonsten ist das etwas vom Schönsten, was wir miteinander teilen können, wenn der Prozess abgeschlos-

sen ist.

Teilnehmer/-in: Es geht um das Mitgefühl und um das, was akzeptierbar ist und was nicht akzeptierbar

ist. Du hast bei einer anderen Gelegenheit erwähnt, dass im Mitgefühl nicht alles akzeptabel ist. Ich

hätte gerne gewusst, wo da die Grenze ist zwischen dem, was man akzeptieren kann, und dem, was man

nicht akzeptieren soll.

Ich möchte ein zweites Wort einführen: akzeptieren bedeutet nicht tolerieren. Wenn ich akzeptiere, dass

ich krank bin, wenn ich das zulasse und sage: tatsächlich, ich bin krank, dann erst kann ich etwas unter-

nehmen, um die Krankheit zu behandeln. Solange ich das verleugne und nicht akzeptiere, wird es auch

keine Handlungen geben, die das auflösen. Wenn ich akzeptiere und dann toleriere, dann werde ich

nichts unternehmen. Dann kommt es nicht zu Handlungen, um das zu ändern.

Aus buddhistischer Sicht könnte man sagen: wir sind nicht einverstanden, dass es all dieses überflüssige

Leid in der Welt gibt. Wir werden alles daransetzen, um es aufzulösen. Wir akzeptieren, dass es so ist,

das ist unsere Arbeitsgrundlage. Wir akzeptieren und fühlen mit, wie unglaublich stark das Leid in der

Welt ist, aber wir werden alles daransetzen, um es aufzulösen.

Meine Frage ging auch um die Beziehungen zu den anderen. Der andere, der etwas Schwieriges erlebt

oder schlecht handelt oder ein Mörder ist…- was kann ich da akzeptieren?

Wir akzeptieren, dass es so ist, wir akzeptieren auch die andere Person so, wie sie ist, aber wir werden

alles tun, um der Person und mir zu helfen, dass kein weiteres Leid entsteht. Das werden wir so geschickt

tun, wie wir können.

Es ist wirklich der Unterschied zwischen akzeptieren und tolerieren. Wir werden nicht Gewalt tolerieren,

wir werden nicht die Neurosen tolerieren, aber wir werden alles tun, um sie aufzulösen – bei uns und

bei anderen. Aber wir akzeptieren, dass es so ist. Wir sind ganz klar und offen. Und da findet kein

Verleugnen statt. In dem Zusammenhang ist akzeptieren, annehmen, das Gegenteil von leugnen. Ak-

zeptieren bedeutet hier nicht gutheißen, sondern wir sehen, dass das Leid ist und es die Mechanismen

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 47

sind, um weiteres Leid zu erzeugen. Und wir werden alles daransetzen, um diese Mechanismen auszu-

hebeln.

Teilnehmer/-in: Meine Frage betrifft das Anhaften und vor allem, woran ich am meisten anhafte, das

sind meine Kinder. Wie kann ich daran arbeiten, das loszulassen? Bedeutet das, damit anzufangen viel-

leicht weniger „mein“, „meine“ zu sagen, um meine Kinder vielleicht so lieben zu können wie alle

Wesen?

Es ist auf jeden Fall gut, die Kinder nicht als „mein“ zu betrachten. Sie sind mir anvertraut worden,

damit ich mich um sie kümmere, und ich werde sie ins Leben entlassen. Das ist auf jeden Fall eine gute

Grundhaltung.

Jetzt gibt es keine stärkere Liebe als die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern, im Normalfall. Wir können

diese anhaftende Liebe, die wir für unsere Kinder haben, ausweiten und alle Lebewesen so lieben wie

unsere Kinder. Nicht unsere Kinder so lieben wie alle Lebewesen, denn dann bekommen sie weniger,

sondern alle Lebewesen so lieben wie unsere Kinder.

Machik Labdrön, die Begründerin des Chöd, hatte auch drei Kinder. Sie nannte das: aus dem Anhaften

in das Super-Anhaften, das große Anhaften gehen. Wenn wir alle so lieben wie unsere Kinder, dann

sind unsere Kinder nichts Besonderes mehr in dem Sinn, aber alle bekommen das Maximum unserer

Aufmerksamkeit. Das ist das Super-Anhaften an alle Lebewesen. Davon spricht Machik Labdrön.

Das hat einen großen Eindruck auf mich gemacht, weil es das Anhaften als eine etwas possessive Form

der Liebe erkennt. Wenn wir die aber auf alle ausdehnen, sprengt das alles Besitzergreifen. Es geht gar

nicht, man kann gar nicht so festhalten an allen Lebewesen. Und dann löst es sich von selbst auf.

Das Schöne daran ist, dass es nicht ein Ausgleichen der Liebe auf geringem Niveau für alle Lebewesen

ist, sondern wir nehmen das höchste Niveau der Liebe, was wir haben, und das dehnen wir auf alle

Lebewesen aus. Also gehe in die Super-Anhaftung zu allen Lebewesen.

Teilnehmer/-in: Du sagtest vorhin: Liebe und Mitgefühl entwickeln in allen Situationen und schauen,

was das Beste ist, wie ich heilsam sein kann in einer bestimmten Situation. Wie gehe ich damit um, wenn

ich völlig daneben liege? Ich sehe eine komplett überarbeitete Kollegin und denke mir: Boah, die hat

ganz, ganz viel zu tun! Ich frage sie, ob sie einen Tee möchte, und sage zu ihr: „Du hast so viel zu tun!“

Und sie sagt: „Nein, habe ich gar nicht, alles okay“. Also so wie ich mitfühle, trifft es dann nicht. Ich

fühle mit ihr mit und denke, sie hat sehr viel Arbeit gerade, dabei sagt sie, es ist gar nicht so. Das ist

deins. Deswegen frage ich mich, ob Mitgefühl nicht oft auch eigene Projektionen und Ideen ist, die ich

von dem Leid von anderen habe.

Ja, da liegst du völlig richtig. Was wir Mitgefühl nennen, ist oft, was wir uns vorstellen, wie es jemand

anderem geht. Das erste, was wir als Praktizierende des Mitgefühls lernen müssen, ist zu fragen: „Wie

geht es dir?“ So fragen und so offen da sein, dass der andere sich traut, ein bisschen mehr hinzufühlen,

wie es ihm, ihr wirklich geht - und etwas davon mitzuteilen. Das ist das erste.

Unser Mitgefühl ist ein fragendes und forschendes Mitgefühl, wo wir nicht davon ausgehen, dass wir

schon wissen, was beim anderen los ist. Das geht gar nicht, wir können es gar nicht wissen.

Wenn wir mit unseren eigenen Mustern weitgehend aufgeräumt haben, wächst unsere Intuition und dann

kann es auch mal passieren, dass du den Stress bei deiner Kollegin wahrnimmst, bevor sie ihn wahr-

nimmt. Das heißt, du liegst nicht unbedingt falsch, aber sie hat ihn noch nicht wahrgenommen. Dann

braucht es diese Geduld. Für sie ist es noch nicht so weit, das wahrzunehmen. Man kann deswegen noch

gar nichts anbieten auf der Ebene, wo es Hilfe bräuchte, sondern man muss vorher ansetzen.

Das würde ich so machen und das habe ich auch so gemacht. Ich schaue sie an und sage zu der Kollegin:

„Wie geht es dir?“ Und sie sagt: „Gut geht es mir, ich habe zu tun!“, und dann ist sie weg. Ist mein

heilsames Verhalten, dass ich sie einfach lasse?

Auf jeden Fall. Wenn du ihr jetzt noch hinterher läufst und sie nicht lässt, dann wirst du zum Dämon

des Mitgefühls.

Ja danke, habe ich verstanden.

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3. Mandalas darbringen, um die Ansammlungen zu erwerben

3. Maṇḍalas darbringen, um die Ansammlungen zu erwerben Einige wissen vielleicht gar nicht, was mit Mandalas gemeint ist. Mandalas sind rund, ein Kreisfeld.

Man kann sagen, unsere Welt in Form eines Kreisfeldes der Aktivität.

Bei der symbolischen Mandala-Opferung bringt man etwas Kreisförmiges dar, das unsere Welt der Ich-

Bezogenheit darstellt, alles woran wir haften. Das bringen wir dar. Wir bringen es dar mit dem Wunsch,

in das erwachte Mandala einzutreten.

Das Mandala des Erwachens ist das Kreisfeld des erwachten Bewusstseins, die Wirksphäre des erwach-

ten Bewusstseins. Wir bringen das dar, woran wir festhalten und das deswegen auch die Kraft hat, uns

in Samsara zurückzuhalten. Wir öffnen uns in das Gewahrsein hinein, das wir das erwachte Mandala

nennen.

Das tun wir, um die beiden Ansammlungen zu erwerben. Das ist ein technischer Ausdruck und bedeutet:

um die Ansammlungen von positiver Kraft und zeitlosem Gewahrsein zu vervollständigen. Wir prakti-

zieren diese Form der Freigebigkeit, um ganz viel positive Kraft aufzubauen, die wie der Treibstoff auf

unserem spirituellen Weg ist und uns ermöglicht, in das zeitlose Gewahrsein aller Erwachten, in die

Natur des Geistes einzutreten. Zeitloses Gewahrsein bedeutet non-duales Gewahrsein.

Es geht um diese beiden auf dem Weg des Erwachens. Wir brauchen ganz viel positive Kraft, die aus

dem heilsamen Denken und Handeln entsteht. Dadurch kommt es zu einer ständigen Ausweitung des

Geistes und des Herzens, und darin zeigt sich das zeitlose Gewahrsein in ersten Erfahrungen und Ah-

nungen. Auch das muss sich ausweiten. Bei einem vollkommen Erwachten sind diese positive Kraft und

das zeitlose Gewahrsein vollkommen, haben sich vollkommen ausgeweitet.

Die Fortsetzung und Vertiefung unserer gewöhnlichen Freigebigkeit in diesem Leben, die wir ja alle

schon praktizieren, ist das Darbringen von symbolischen Mandalas. Das wird wahrscheinlich gleich

noch erklärt.

Allgemein ausgedrückt, lassen sich relatives und letztendliches Glück - letztendliches Glück ist das

Glück des Erwachens - nur verwirklichen, wenn wir ihre Ursache, die Ansammlung positiver

Kraft, aufbauen. Insbesondere werden wir nur durch das Aufbauen positiver Kraft die Ansamm-

lung zeitlosen Gewahrseins erwerben - also in die direkte Erfahrung der Natur des Geistes eintreten -

und auch seine Frucht, die Sicht - oder das Verständnis - der Leerheit - der nicht-fassbaren Natur

aller Erscheinungen -, verwirklichen. Von daher ist es wichtig, mit dem Aufbauen positiver Kraft

zu beginnen.

Das können wir noch einmal ganz einfach sagen. Ihr sagt euch jetzt zum Beispiel: „Ja, ich will wirklich

den Weg des Erwachens gehen, wo fange ich an?“ Mit dem Aufbauen positiver Kraft. Das heißt, am

besten mit Freigebigkeit, mit wohltuender Rede, also die Kommunikation verbessern, immer wieder in

die Herzensöffnung finden - in allem, was ich tue, denke und sage, heilsam handeln. Das nennt man das

Aufbauen positiver Kraft.

Es wird sich um uns herum allmählich ein positives Feld aufbauen. Menschen, die mit uns in Kontakt

kommen, spüren etwas Positives und neigen dazu, uns ihr Herz zu öffnen, uns zu vertrauen und sie

haben das Gefühl, bei der Person könnte ich es sogar wagen, etwas Schwierigeres anzusprechen. Das

sind die Zeichen dafür, dass auch andere allmählich mitbekommen, dass sich etwas ganz Heilsames

aufbaut.

Wir sind deswegen nicht frei von Schwierigkeiten, aber die Kraft des Heilsamen nimmt spürbar zu. Uns

fällt es leichter, Schwierigkeiten zu meistern. Wir sind sehr überrascht: was sonst große Angst ausgelöst

hätte, zum Beispiel eine Krebsdiagnose, erschüttert uns nicht mehr so. Wir sind insgesamt heilsamer

unterwegs. Finanzielle Schwierigkeiten, die uns sonst arg durcheinandergebracht hätten, berühren uns

nicht mehr so. Da hat ein tieferes Vertrauen Einzug gehalten. All das sind Anzeichen von wachsender

positiver Kraft. Es gibt noch viele mehr.

In einem Sūtra heißt es:

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 49

„Da Glück durch das Aufbauen positiver Kraft erlangt wird, sollten wir Menschen positive Kraft

aufbauen und sie ab heute immer und immer weiter stärken.“

Ich denke da an eure Gespräche mit euren Freunden. Immer wieder kommt es zu Gesprächen mit Freun-

den und Freundinnen, denen es nicht so gut geht. Wir alle überlegen, warum es nicht so gut geht und

was man ändern könnte. Letzten Endes wird ihr Leben nur glücklicher, wenn sie diese positive Kraft

aufbauen.

Wenn sie weiter rumnörgeln, sich beklagen, die Schuld immer woanders suchen und die ganze Welt

verantwortlich machen für ihr Unglück, wird sich gar nichts ändern. Egal wie treffend die Analyse ist -

man kann dieser Analyse manchmal gar nichts entgegensetzen -, man kann trotzdem heilsam denken,

sprechen und handeln. Das bewirkt die Veränderung.

Wenn wir also unseren Freunden einen echten Freundesdienst schenken möchten, helfen wir ihnen,

heilsamer unterwegs zu sein in diesem Leben. Es tut mir fast schon leid, dass dieses Wort heilsam jetzt

auch schon so abgedroschen ist. Gemeint ist, konstruktiv unterwegs zu sein, also wirklich etwas Gutes

aufzubauen in den Beziehungen, in den Gruppen, in denen wir leben, in den Familien, im Beruf und

auch in unserer persönlichen Praxis mit uns ganz allein; wir eine positiv gestaltende Kraft freisetzen.

Das ändert ein Leben. Die beste Analyse wird es nicht ändern, so zutreffend sie sein mag. Irgendwie

muss daraus die Kraft des neuen, des heilsamen Gestaltens kommen. Das bewirkt, dass es uns besser

geht.

Ansammlung positiver Kraft

In der Zusammenfassung der Befreienden Weisheit heißt es:

„Erst wenn die Wurzeln des Heilsamen vollständig sind, wird authentische Leerheit verwirk-

licht.“

Wurzeln des Heilsamen ist ein anderer Ausdruck für positive Kraft. Dahinter verbirgt sich die Vorstel-

lung, dass jeder heilsame Gedanke und jeder heilsame Satz, den wir sprechen, die Wurzel für weitere

positive Erfahrungen ist. Wenn ich dir jetzt etwas schenke und es kommt von Herzen und löst Freude

in dir aus, dann ist das eine heilsame Handlung. Du kannst vielleicht gut nutzen, was ich dir schenke.

Das ist die heilsame Handlung und die wird zur Wurzel von noch mehr Positivem, weil sie in dir und

mir etwas Positives hinterlässt.

So ist das mit allem Heilsamen. Immer dort, wo wir positiv denken, sprechen und handeln, entstehen

Kräfte, die ähnliche Erfahrungen unterstützen. Das nennen wir Wurzeln des Heilsamen. Das, was jetzt

getan wird, ist die Wurzel für das nächste positive Erleben, das entsteht. Zum Beispiel jedes Mal, wenn

ich daran denke, wie ich dir das geschenkt habe, freue ich mich - und es entsteht wieder ein positiver

Geisteszustand. Irgendwann vergesse ich es vielleicht und zwanzig Jahre später kommst du zurück und

sagst: „Weißt du noch damals…?“, und da ist Vertrauen da aufgrund der Situation von vor zwanzig

Jahren, weil da mal etwas klick gemacht hat auf eine positive Art.

Da reifen die Wurzeln heran und führen zu einer neuen positiven Erfahrung. Viele Wurzeln des Heilsa-

men zu pflanzen ist sehr hilfreich, um ein glückliches Leben zu haben.

Wenn die positiven Kräfte so stark geworden sind, dass sie dazu führen, dass wir uns selbst vergessen,

dann entsteht die Erkenntnis der Leerheit, der Natur des Seins.

Gendün Rinpoche sagte immer: „Das ist wie ein großes Fass, eine große Tonne. Ihr habt keine Ahnung,

wie viele Tropfen Heilsames da schon hineingetropft sind. Aber irgendwann wird sie überfließen, eure

Tonne der positiven Kräfte. Das ist der Moment, wenn die Einsicht ins Letztendliche entsteht. Irgend-

wann ist die Gesamtkraft des Heilsamen in euch so stark, dass es mal für einen Moment möglich ist, die

Kontrolle ganz aufzugeben. Wenn die Kontrolle ganz loslässt und wir uns vergessen, kann die Natur

des Seins erkannt werden.“

Das hat damit zu tun, dass jede heilsame Handlung die Ich-Bezogenheit schwächt. Echte Freigebigkeit,

die eine Wurzel des Heilsamen darstellt, ist eine Freigebigkeit, die nicht aus Ich-Bezogenheit heraus

geschieht. Es ist nicht der Papa, der seinem Sohn ein Auto schenkt, damit der Sohn ihn weiter liebhat.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.50 Das ist keine wirkliche Wurzel des Heilsamen. Es ist eine schwache Wurzel des Heilsamen, weil sehr

viel Ich-Bezogenheit eine Rolle spielt.

Aber wenn man selbst schon ein bisschen kalt hat und jemandem, der noch kälter hat, seine Jacke gibt,

das ist eine Handlung, die die Ich-Bezogenheit schwächt. Die kommt aus echtem Mitgefühl. So etwas

führt dazu, dass man sich immer häufiger selbst vergessen kann, man selbst gar nicht mehr die große

Rolle spielt.

Irgendwann passiert es dann mitten in der Aktivität oder auf dem Meditationskissen, dass der Geist

aufgeht, weil man gar nicht mehr damit beschäftigt ist, für sich eine schöne Meditation zu machen oder

etwas zu wollen oder nicht zu wollen. Es ist ein Moment der Selbstvergessenheit. In den Momenten

entsteht Erkenntnis.

Sie entsteht nie, wenn wir noch etwas wollen oder ablehnen. Das ist unmöglich. Dann sind die kontrol-

lierenden Kräfte der Ich-Bezogenheit zu aktiv. Heilsames Verhalten, zu dem auch gehört, anderen zu

verzeihen, wenn sie uns um Verzeihung bitten, dazu gehört Geduld zu üben, dazu gehört die gesamte

Praxis, die wir heute mit den sechs Paramitas beschrieben haben. Das alles baut positive Kraft auf.

Irgendwann führt die dazu, wie der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt in gutem Sinne,

dass ein tiefes Loslassen geschieht. Niemand weiß wann, irgendwann ist es soweit. Aber es wird

zwangsläufig dazu kommen, wenn wir so weitermachen. Wenn wir mit heilsamem Handeln weiterma-

chen, wird es zwangsläufig zur Erkenntnis kommen.

Das heilsame Handeln verfeinert sich aber. Es ist nicht bloß Gutes tun. Das ist der Unterschied zu vielen

anderen Traditionen oder auch zu unserem Elternhaus, wo es immer darum ging, Gutes zu tun. Es ist

ein Gutes tun mit dem Verständnis des Dharma – mit dem wachsenden Verständnis, dass eigentlich

niemand Gutes tut, da gar niemand ist, der Gutes tut. Das erleichtert es, dass solche Erkenntnis dann

auftaucht.

Das Ich ist überhaupt kein Problem, nur daran zu glauben ist ein Problem. Bitte versteht den feinen

Unterschied. Wir brauchen kein Ego aufzulösen. Es braucht keine Arbeit, um irgendetwas, das entstan-

den wäre, aufzulösen. Es reicht, wenn wir sehen, dass ein stabiles Selbst, ein stabiles Ich, an das wir

vermutlich geglaubt haben, als solches nicht zu finden ist, und wir nicht aus dieser unbewussten An-

nahme heraus handeln und denken.

Wir sind einfach um eine Riesenillusion leichter. Aber es braucht nichts aufgelöst zu werden. Das Ich

gibt es gar nicht und hat es noch nie gegeben, egal wie fest ihr daran glaubt. Das ist genau so, wie wenn

ihr denkt, ihr hätten einen rosa Elefanten im Herzen. Ihr braucht den rosa Elefanten nicht aufzulösen,

weil es ihn nie gegeben hat. Auch wenn ihr den rosa Elefanten „Ich“ nennt. Es ist schon ein ziemlicher

Elefant im Porzellanladen. Er macht ziemlich viel Unfug, wenn wir an ihn glauben.

Das hat ziemlich starke Auswirkungen, aber trotzdem brauchen wir ihn nie aufzulösen. Es ist nur die

Illusion, die wegfällt, und macht das Leben so viel leichter.

Deswegen sprechen wir immer von Ich-Bezogenheit: sich auf das Ich zu beziehen oder nach dem Ich

zu greifen, als wäre es etwas konkret Existierendes. Eigentlich ist das nur ein anderes Wort für diesen

Geistesstrom, der deutlich unterschieden ist von den Geistesströmen der anderen, und sich jetzt in die-

sem Leben auch in deutlich abgrenzbaren Körpern manifestiert. Das sind alles Tatsachen. Das Ich

könnte dafür ein supergutes Wort sein.

Zu denken, es wäre stabil und es da ein Etwas gäbe, das man finden könnte, man verteidigen muss und

nähren muss, das ist der Irrtum. Sonst als Wort ist das voll okay. Ein brauchbares Konzept, wenn wir es

dynamisch verstehen. Ein dynamisches Selbst, kein festes Selbst.

Ansammlung zeitlosen Gewahrseins

Zum Nutzen und zur Notwendigkeit des Aufbauens positiver Kraft heißt es im Sūtra Unvorstell-

bares Geheimnis:

„Die Ansammlung zeitlosen Gewahrseins löst alle emotionale Verblendung auf. Die Ansammlung

positiver Kraft ist die beste Unterstützung für alle Lebewesen. Bhagavan, deshalb praktizieren

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 51

Bodhisattvas Mahāsattvas voller Energie die Ansammlungen von positiver Kraft und zeitlosem

Gewahrsein.“

Ich gehe Satz für Satz durch. Die Ansammlung zeitlosen Gewahrseins bedeutet, die Erkenntnis der Na-

tur des Geistes und damit auch der Natur der Emotionen löst alle Verblendung auf. Wir durchschauen

Emotionen als Gaukelspiel der inneren Kräfte, wo wir zum Beispiel beim Ärger meinen, wir hätten

einen Feind und müssten dieses und jenes tun, um den Feind loszuwerden, zu besiegen oder um etwas

Unangenehmes aus der Welt zu schaffen. Im Ärger sehen wir nur noch das, der Fokus wird ganz einge-

engt.

Wenn wir in die Natur des Ärgers schauen, merken wir: wie ein Regenbogen. Die inneren Bilder des

Ärgers sind so deutlich und klar wie alles andere, was wir mit den Augen sehen oder sonst fühlen kön-

nen, lösen sich aber im selben Moment auf, wo wir kein Interesse mehr daran haben, es durchschauen

als ohne Substanz. Im selben Moment. Nicht langsam, sondern in dem Moment, wo wir die Natur dieser

wie aller anderen Emotionen erkennen, sind sie weg. Es ist nur noch offener Geist übrig.

Das ist das Erkennen des zeitlosen Gewahrseins als die wahre Natur der emotionalen Schleier. Das ist

unglaublich. Das war gemeint mit ‚zugleich entstehen‘ vor etwa zwei Tagen.

Die Ansammlung positiver Kraft, also das heilsame Handeln mit Körper, Rede, Geist ist die beste Un-

terstützung für alle Lebewesen. Dadurch entstehen all die sozialen Aktivitäten und all die Fürsorge für

andere Menschen, Tiere, Lebewesen. Alles Gute in dieser Welt entsteht aus den heilsamen Motivationen

und Handlungen von Menschen, Tieren usw. Das ist die beste Unterstützung für alle Lebewesen.

Deshalb praktizieren Bodhisattvas Mahāsattvas, die wirklich für das Wohl der Lebewesen wirken, voller

Energie beide Ansammlungen, um in sich selbst alle Emotionen und diese ganze emotionale Verblen-

dung aufzulösen und das Wohl anderer zu bewirken.

Für unsere Praxis bedeutet das: schauen wir darauf, nicht nur heilsam zu handeln, zu denken, zu spre-

chen, sondern auch die Erkenntnis des zeitlosen Gewahrseins zu entwickeln, das zeitlose Gewahrsein in

uns hervorzubringen. Das ist gar nicht weit weg.

Ich sage es noch einmal für diejenigen, die zum ersten Mal dabei sind: jedes Mal, wenn wir einschlafen,

gehen wir durch ein tiefes Loslassen. Um einzuschlafen, müssen wir unsere Ich-bezogenen Sorgen los-

lassen, sonst können wir nicht einschlafen, das schaffen wir gar nicht. Unsere Hoffnungen und Sorgen,

unsere täglichen Probleme - all das hält uns wach.

Erst wenn wir sie loslassen und auch noch die Kontrolle loslassen, können wir einschlafen. So haben

wir eigentlich schon die Erfahrung, jedes Mal vollkommen Ich-Bezogenheit und Ich-bezogene Kon-

trolle loszulassen. Wir tun das aber nur, um einzuschlafen. Tatsächlich können manche von uns und

viele Menschen nicht richtig loslassen und werden schlaflos oder bleiben wach nach Tagen, wo die Ich-

Bezogenheit sehr stark angetriggert wurde, weil sie Sorgen haben oder ärgerlich, eifersüchtig oder voller

Sehnsüchte etc. sind.

Aber im Normalfall kennen wir die Erfahrung des völligen Loslassens. Dabei gehen wir für einen kurzen

Moment ins zeitlose Gewahrsein, bevor der Tiefschlaf anfängt. Jeder von uns kennt diese Erfahrung.

Das Problem ist nur, dass es gekoppelt ist mit dem Einschlafen.

Jetzt ist der Weg des Erwachens, dieses Loslassen bei vollem Bewusstsein zu praktizieren bzw. zu er-

möglichen und in das klare Gewahrsein hinein loszulassen, nicht in einen dunklen Tiefschlaf-Geistes-

zustand, sondern tagsüber, ohne einschlafen zu wollen, so tief loszulassen wie beim Einschlafen. Aber

in die frische wache Präsenz hinein, in der es auch keinen Mittelpunkt mehr gibt.

Genau so wenig existiert beim Einschlafen auch keinen Ich-Mittelpunkt mehr. Den gibt es da nicht

mehr. Er taucht erst wieder auf im Tiefschlaf selbst und in den Träumen. Dann entsteht wieder das

Gefühl von Ich-Mittelpunkt, aber nicht in diesem Übergang. Von daher kennen wir das alle und wissen

leider nicht, wie wir es tagsüber zulassen können. Meditationspraxis hilft uns dabei, die Kontrolle all-

mählich zu entspannen und in einer sicheren Umgebung so loszulassen, als würden wir einschlafen,

ohne aber einzuschlafen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.52 In der Juwelenkette heißt es:

„Die Formkörper werden, kurz gesagt, verehrter König, von der Ansammlung positiver Kraft

hervorgebracht und der Wahrheitskörper wird, kurz gesagt, verehrter König, von der Ansamm-

lung zeitlosen Gewahrseins hervorgebracht.“

Hier wird aus einem Brief zitiert, den Nagarjuna an einen König, einen Maharadscha in Südindien ge-

schrieben hat. Ihr könnt nicht wissen, dass ein Buddha, ein vollkommener Erwachter, mit den beiden

Ausdrücken Formkörper und Wahrheitskörper beschrieben wird.

Formkörper ist die Manifestation des Buddhas in einer spürbaren Form, zum Beispiel als Mensch, oder

in einer Lichtkörperform. Das sind die Manifestationen eines Erwachten in diesen Welten: in der Men-

schen- und in der Tierwelt als Körper, den man anfassen kann, und in den anderen Daseinsbereichen als

Lichtkörper, damit Kontakt zu den Lebewesen möglich ist. Um als Buddha zu wirken, muss man ja in

Kontakt treten. Es braucht eine Manifestation, und das sind die Formkörper.

Die Fähigkeit, Formkörper zu manifestieren, entsteht aufgrund des Mitgefühls, der Ansammlung posi-

tiver Kraft aus unzähligen Handlungen des Mitgefühls im Laufe von unzähligen Leben. Die führen dazu,

dass dann, wenn wir das Erwachen verwirklichen, die Möglichkeit besteht, sich weiter zu manifestieren,

sodass andere mit uns in Kontakt treten können.

Sonst könnte es sein, dass man sich in der Geistesdimension des vollkommenen Erwachens sozusagen

auflöst und nicht wieder Form annimmt. Der Wahrheitskörper ist ein Ausdruck dafür, dass wir mit dem

Erwachen ganz in diese non-duale Dimension eintreten, die wir das zeitlose Gewahrsein, die Natur des

Geistes nennen.

Vollkommenes Erwachen bedeutet, Tag und Nacht rund um die Uhr in dieser non-dualen Erfahrung zu

sein, auch wenn man in Kommunikation mit anderen ist. Ununterbrochen. Ab und zu mal in diesem

zeitlosen Gewahrsein zu sein, ist anfängliches Erwachen. Dazwischen weitet sich das Erwachen aus, ist

immer häufiger der Fall. Da sind auch noch leichte Schleier aktiv.

Also: positive Kraft, heilsames Handeln führt dazu, sich tatsächlich auch aus Mitgefühl zum Wohl aller

Wesen so manifestieren zu können, dass Kommunikation möglich ist. Das zeitlose Gewahrsein zu ver-

wirklichen, führt dazu, dass man ganz und gar in der Dimension der Wahrheit, des So-Seins, aufgeht.

Zusammengefasst entsprechen sämtlicher Nutzen und alle Qualitäten der sechs Pāramitās - die

ich heute Morgen erklärt habe - dem Nutzen und den Qualitäten der beiden Ansammlungen. Frei-

gebigkeit, heilsames Verhalten, Geduld, freudige Ausdauer, meditative Stabilität und Weisheit. Diese

sechs zusammen beschreiben die Praxis der beiden Ansammlungen.

Die Mittel, positive Kraft aufzubauen, sind, allgemein gesagt, sich in den zehn Dharma-Aktivitä-

ten zu üben und die vier Dinge, die (Schüler) sammeln, zu praktizieren.

Die zehn Dharma-Aktivitäten sind: den Dharma schreiben, dem Dharma Verehrung darbringen, Freige-

bigkeit üben, den Dharma hören, den Dharma im Bewusstsein halten, den Dharma lesen oder vorlesen,

den Dharma erklären, den Dharma rezitieren, die Bedeutung des Dharma kontemplieren und die Bedeu-

tung des Dharma meditieren.

Diese zehn Dharma-Aktivitäten bewirken ganz viel Heilsames. In dem großen Bereich des heilsamen

Handelns ist das die Beschreibung dessen, was im engeren Sinne mit Dharma zu tun hat. Da geht es

jetzt nicht darum, Kranke zu pflegen, sich um Arme zu kümmern, Schutz für Schutzbedürftige, oder Rat

zu geben usw., sondern es geht im engeren Sinne um die Dharmapraxis.

Da ist einiges dabei, was ihr sofort umsetzen könnt, zum Beispiel: Freigebigkeit üben oder dem Dharma

Verehrung darbringen, ihn zu lesen, ihn im Bewusstsein zu halten.

Bitte geht nicht so schnell in die Praxis, den Dharma zu erklären. Das wäre vorschnell, da könntet ihr

bei einem anfänglichen Verständnis noch Fehler machen, die ihr nachher bereut. Also gebt Dharma-

Erklärungen nur dort, wo ihr aus eigener Erfahrung sprecht, und erklärt nicht den angelesenen Dharma.

Da ist es besser, das Buch weiterzugeben oder die Adresse, wo man sich informieren kann. Wenn ihr

den Dharma erklärt, sprecht aus der eigenen Erfahrung – das ist kostbar, denn das haben wir selber

erfahren und das ist schön weiterzugeben.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 53

Den Dharma zu rezitieren, also laut zu lesen, ist wunderbar. Die Bedeutung des Dharma zu kontemplie-

ren wäre zum Beispiel, sich den Text zuhause wieder vorzunehmen und tief darüber nachzudenken,

vielleicht auch mit anderen darüber zu sprechen, und zu meditieren.

Das sind Aktivitäten, die sehr viel positive Kraft freisetzen. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass diese

Aktivitäten, wenn sie mit dem Herzen ausgeführt werden, die eigene Ich-Bezogenheit enorm reduzieren.

Echte Kontemplation des Dharma schwächt die Ich-Bezogenheit, den Dharma anderen zu erklären ver-

tieft das noch. Wenn es aufrichtig ist, wenn wir es mit der Motivation machen, in die Offenheit zu finden,

sind das immer wieder Erinnerungen, die uns helfen, ins offene, fließende Sein hineinzufinden.

In unserem Zusammenhang [der Mahāmudrā-Praxis] übt man das Vermehren der Ansammlun-

gen auch mit der Praxis in sieben Zweigen - Abschnitten -, wobei der Zweig der Opferungen mit

den Maṇḍala-Gaben besonders betont wird.

Es gibt eine traditionelle Form der Praxis in sieben Abschnitten, wobei wir zunächst unser Vertrauen,

unseren Respekt ausdrücken, indem wir Verbeugungen darbringen. Dann bekennen wir unsere Negati-

vität, bringen Opferungen dar, entwickeln Mitfreude an all dem Guten, das in der Welt ist. Dann bitten

wir, dass die Erwachten diese Welt nicht verlassen, sondern hierbleiben und den Dharma lehren, und

widmen das Ganze für das Wohl der Lebewesen.

In dieser traditionellen, umfassenden Praxis in sieben Teilen ist die Praxis der Freigebigkeit hier für das

Mahamudra das Darbringen von Mandalas. Das wird jetzt kurz erklärt. Wenn ihr es praktizieren wollt,

erkläre ich euch das ausführlicher, dann könnt ihr es lernen.

Eigentlich war alles, was wir bis jetzt gehört haben, ziemlich einfach. Eigentlich ist die Botschaft, dass

es als Vorbereitung für Mahamudra - um ins natürliche Sein eintreten zu können - sehr viel positive

Kraft braucht und ein Vertraut werden mit dem Loslassen von Kontrolle ins zeitlose Gewahrsein hinein.

Damit ist gemeint, dass wir die Ich-bezogenen Kräfte schwächen, indem wir die Kräfte der Paramitas

stärken und loszulassen lernen, uns immer mehr öffnen, sodass dieses offene, natürliche, non-duale Ge-

wahrsein sich zeigen kann. Das ist der Sinn des Ganzen.

Erklärungen zur Mandala Opferung

Jetzt kommen wir mit ein paar Sätzen etwas spezifischer zur Mandala Opferung. Ich bin also da mitten

im Absatz wo es gerade hieß, dass der Zweig der Opferungen mit den Mandala Gaben besonders betont

wird als Vorbereitung für Mahamudra.

Beim Darbringen der Maṇḍalas visualisieren wir in der Praxislinie - der Übertragungslinie der Ka-

gyupas - das Maṇḍala der Verwirklichung [vor uns] als Feld des Vermehrens der Ansammlungen,

dem das Opfer-Maṇḍala dargebracht wird.

Bei der Mandala Opferung haben wir eine Mandalascheibe, normalerweise aus Metall, und darauf ma-

chen wir kleine Reishäufchen. Während wir die Reishäufchen darauf setzen, stellen wir uns vor, dass

das unsere Welt des Anhaftens symbolisiert. Wir sprechen da vom Zentralberg und den vier Kontinenten

mit Sonne und Mond, in der einfachsten Form.

Aber eigentlich stellen wir uns vor, dass wir all das da drauf tun, was uns wichtig ist - zum Beispiel

mein Auto, mein Handy, den Urlaub - in Lenzkirch -, meine geliebten Dharmabücher und und und. Wir

haben dabei Reis in der Hand und stellen uns immer vor: mein Körper, all meine Freunde, meine

Frau/mein Mann…, alles, woran ich hänge, bringe ich zum Wohle aller Lebewesen dem Weg des Er-

wachens dar.

Das machen wir viele Male. Da ich das hunderte von Malen mit meiner Frau gemacht habe und sie mit

mir als Mann, war es dann später so, dass wir dann Nonne und Mönch geworden sind…also passt auf.

Es lockert tatsächlich das Anhaften. Wir bringen Opfergaben dar und stellen uns vor, dass all das, was

wir darbringen, dem Erwachen dient – dann lassen wir das in den Schoß fallen und fangen wieder von

vorne an. Dieses symbolische Darbringen kostet uns nichts, ist aber in der Vorstellung sehr stark.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.54 Zum Beispiel ihr beiden habt doch einen Bauernhof. Ihr würdet euren Hof darbringen und sagen: „Ihr

Buddhas, ich bringe euch den Bauernhof mitsamt allen Pflanzen und allen Tieren usw. dar. Nehmt es

bitte an.“ Dann ist es innerlich hergegeben. Das bedeutet nicht, dass wir den Bauernhof verlassen und

uns nicht mehr darum kümmern, sondern dass alles, was im Zusammenhang mit dem Bauernhof pas-

siert, jetzt in den Kontext gestellt wird, dem Weg des Erwachens zu dienen.

Ihr macht das schon und seid biologisch und biodynamisch unterwegs, kümmert euch um jedes Tierchen

und jede Pflanze. Alles auf diesem Hof dient als Mittel zum Weg des Erwachens: den Lebewesen und

euch selbst und allen, die zu euch kommen und mithelfen.

Wenn wir da unser Auto draufsetzen oder mein E-Bike usw., und ich bringe das dem Weg des Erwa-

chens zum Wohle aller Lebewesen dar, kann ich schlecht sagen, wenn jemand mein wertvolles E-Bike

braucht, dass es nur meins ist. Das geht dann nicht mehr. Es dient dem Erwachen und wenn das nützlich

ist, dass andere es benutzen, dann ist es halt ein Sangha E-Bike und nicht mehr mein E-Bike. So ist das

auch mit meinem Auto, es wurde dann ein Sangha Auto.

So ist es auch mit unserem Haus: wir opfern es und es wird zu einem Haus, in dem der Weg des Erwa-

chens zum Wohl aller Lebewesen praktiziert wird. Es steht dann dem Dharma offen und nicht der Neu-

rose aller Leute, die da drin irgendwie drin squatten wollen, sondern dem, was wirklich nützlich ist.

Ich betrachte es nicht mehr als meinen exklusiven Besitz, sondern als das, worum ich mich kümmere

zum Wohle aller Lebewesen. Ich kümmere mich genauso wie vorher oder noch mehr, weil es jetzt ja

dem Wohle aller Wesen dient. Wenn es nur meinem Wohl dient, kann ich es ja auch sein lassen. Aber

jetzt kümmere ich mich darum.

Ich habe mitbekommen, wie Menschen Gendün Rinpoche ihr Eigentum dargebracht haben: ihr Haus in

Form eines solchen Mandala-Opfers. Gendün Rinpoche hat das angenommen und gesagt: „Ja, ich nehme

dein Haus an, das ist eine wunderbare Gabe. Jetzt kümmere dich darum, dass darin der Dharma prakti-

ziert wird!“ Und er gab es so wieder zurück, mit noch mehr Verantwortung.

Man wird etwas nicht los, indem man es dem Erwachen darbringt, sondern man kümmert sich auf andere

Art darum. Wenn ich jetzt sage: „Ich bringe meinen Körper dem Erwachen aller Lebewesen dar“ – das

bedeutet, dass ich mich um meinen Körper kümmere, dass er gesund bleibt, lange lebt, und viel Nutzen

für andere bewirken kann. Es ist nicht so, dass sich die Erwachten darum kümmern, weil es dann ihr

Körper wäre.

Es ist ein Körper, dem ich nicht mehr mit Ich-Bezogenheit begegne, sondern sage: „Das ist ein super

Werkzeug, um selbst das Erwachen zu verwirklichen und anderen zu helfen in dieser Menschenwelt,

wo es einen Körper braucht.“ Dann kümmere ich mich um den Körper. Das ist Teil der Dharmapraxis.

Ich bin jetzt mit meinen Beispielen auf der äußeren Ebene des Mandalas geblieben. Das ist äußeres

Mandala: es geht um Dinge, die man benennen kann.

Jetzt gehen wir mit dem Körper auf die innere Ebene. Die innere Ebene ist, alle Sinneserfahrungen

darzubringen. Ich bringe alle Erfahrungen des Sehens, des Hörens, des Körpers, Geruchserfahrungen

dar – all die Gerüche, Geschmäcker, Empfindungen usw. Alles, was ich ständig erlebe, möge dem Weg

des Erwachens und dem Wohl aller Lebewesen dienen.

Dieses Darbringen löst mich aus dem Verhaftetsein mit „meinen“ Erfahrungen und dem, was „ich“ sehe.

Sondern es „wird“ gesehen, und dieses Sehen und Hören usw. findet statt zum Wohle aller Lebewesen

und ist zugleich eine Dharmapraxis.

Es ist zum Beispiel in tieferem Sinne die Praxis der Einheit von Klang und Leerheit. Jetzt im Augenblick

gewahr zu sein und die nicht fassbare Natur von Klängen, Körperempfindungen zu praktizieren. All das

wird dargebracht und damit zu einem Mittel des Erwachens für uns selbst und andere. Ich bringe immer

das dar, mit dem ich mich am meisten identifiziere. So bringe ich natürlich auch meine sexuellen Be-

ziehungen dar oder Sexualität als Körperempfindung oder als inneres emotionales Empfinden.

Dann gehe ich auf die dritte Ebene, wo ich die Freude darbringe. Eigentlich haften wir gar nicht an den

Erfahrungen. Wir können natürlich leckere Speisen darbringen äußerlich, aber eigentlich interessiert uns

an den Speisen, dass sie lecker sind. Warum sind leckere Speisen so interessant? Weil wir uns daran

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 55

freuen. Es ist der Genuss bzw. die Freude, an der wir haften. Es ist gar nicht das Ding, sondern die

Freude, die ich erlebe, also die Freude, die ich erlebe, wenn ich meine BMW starte - der Klang eines

Motorrads. Die Freude, das ist es: die geht über den Klang und über das Gerät, das äußere Objekt, aber

woran ich eigentlich hafte ist, dass ich immer wieder diese Freude erleben möchte.

Das ist mit einer Partnerin, einem Partner genauso. Da ist zwar der Mensch, da sind die Sinneskontakte,

aber eigentlich möchte ich immer wieder die Freude erleben, mit diesem Menschen zusammen zu sein,

ihn oder sie zu sehen usw.

Das Darbringen dieser Freude bedeutet, dass ich auf eine tiefere Ebene gehe und sage: „Immer, wenn

Freude durch Sinneserfahrungen, durch Begegnungen entsteht durch das, was mich umgibt oder was in

mir entsteht: möge das dem Weg des Erwachens dienen. Möge die Freude von der Erkenntnis ihrer

wahren Natur durchdrungen werden, dass die Freude eben auch keine Substanz hat und die wahre Natur

von Freude das zeitlose Gewahrsein ist.

Möge mir aufgehen, dass Freude eine natürlicherweise entstehende Geistesbewegung bzw. eine Stim-

mung ist, die keine Substanz hat und nicht greifbar ist und an der man nicht festhalten kann. Dadurch

öffne ich mich und Freude wird nicht mehr zu einer Quelle von Leid und Anhaften, wenn ich sie nicht

mehr habe, sondern jedes Mal, wenn ich sie erlebe, wird sie zu einer Quelle von Einsicht.

Das ist das Darbringen aller Erfahrungen, die Freude auslösen, um die Einheit von Freude und Leerheit

zu verwirklichen.

Dann geht es noch ein Stückchen weiter: das nennt man das letztendliche Mandala. Hier gibt es eigent-

lich niemanden mehr, da ist kein Gefühl mehr von Ich, das den Buddhas irgendetwas darbringt. Das ist

das letztendliche Mandala, in dem das Sein selbst ohne Mittelpunkt, ohne Trennungen die große Opfe-

rung darstellt. Da braucht man keine Handbewegungen mehr zu machen. Die große Opferung vollzieht

sich im So-Sein, im völlig offenen Geist.

Teilnehmer/-in: Die zweite Art der Opferung war mir ein bisschen zu schnell.

Die innere Opferung, das sind die Sinneserfahrungen. Alles was mit dem Körper innerlich zu tun hat,

was wir durch den Körper erleben.

Ja. Ich habe den Wunsch, die Anhaftung daran zu verlieren. Dann hatte ich am Ende noch erwischt,

„Ich bringe die Praxis des nicht-fassbaren Sinneserlebens dar“. Es war mir zu schnell.

Eigentlich bringen wir alle Sinneserfahrungen dar. Wir sprechen jetzt vor allem über die fünf äußeren

Sinne, wo wir an Sinneserfahrungen anhaften. Wir können uns zum Beispiel gar nicht vorstellen, ohne

Sehen, Hören, Riechen, Schmecken usw. zu leben. Die sind unglaublich wichtig. Das ist wie das Herz

unseres Seins. Wir wollen ja riechen, hören, schmecken usw.

Das alles darzubringen, sich nicht mehr damit zu identifizieren und zu wünschen, dass auch das dem

Erwachen aller Lebewesen dienen möge, öffnet uns in einen weniger identifizierten Bereich hinein, wo

es nicht mehr „mein Sehen“, „mein Hören“ usw. ist, sondern ich mich in die Natur des Hörens, Schme-

ckens, Sehens, Riechens, Fühlens hinein öffnen kann. Jede Art dieser vier Aspekte der Mandala Opfe-

rung öffnet den Geist in ein mögliches Erkennen hinein.

So bei den Sinneserfahrungen und bei der Freude. Also diese zweite Ebene, die kannst du als nang-tong

verstehen: Erscheinungen und Leerheit. Die dritte Phase ist de-tong, Freude und Leerheit.

Das ist ganz wunderbar. Man nimmt für diese symbolische Opferung Reis, was hier im Text das Opfer-

mandala genannt wird. Auf dem Altar vor uns ist auch noch eine Scheibe mit Symbolen, die die Zuflucht

symbolisieren: Buddha, Dharma, Sangha und alle Yidams und alle Lamas. Das ist darauf symbolisiert,

um uns zu helfen, die Gaben einem vorgestellten Gegenüber darzubringen.

Es ist schwer, einfach in den offenen Raum zu opfern. Deswegen gibt es bei der Mandala Opferpraxis,

ein vorgestelltes Gegenüber, als wären wir vor den versammelten Buddhas, Bodhisattvas, Lamas, Da-

kinis, Yidams … und würden allen von ihnen gleichzeitig diese Gaben darbringen zum Wohl aller Le-

bewesen. Das heißt, die Gaben, die wir darbringen, multiplizieren sich noch unzählige Male, grenzenlos,

so dass der ganze Himmel damit gefüllt ist.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.56 Das nennt man hier im Text das Mandala der Verwirklichung vor uns. Das sind die Verwirklichten als

ein Mandala dargestellt, und damit verbindet sich der Wunsch, dass alle Lebewesen in dieses Mandala

des Erwachens eintreten mögen. Es findet immer gleichzeitig auch eine Widmung statt. Alles wird dar-

gebracht und gewidmet.

Dieses steht für all das, was ohne zu zögern dargebracht wird, vom Geist ausgestrahlte Gaben,

eigener Besitz oder im Geist erscheinende Gaben. Die Praxis der sieben Zweige dient dem Ver-

mehren der Ansammlungen: sich Verbeugen, Opfern, Bitten - zu Verweilen - und Ersuchen - das

Dharmarad zu drehen, also zu unterrichten -, vermehren beide Ansammlungen, Bekennen reinigt

Schleier, Sich-Erfreuen vermehrt das Heilsame und Widmen bewirkt, dass das Heilsame, das

durch Ansammeln, Reinigen und Vermehren entstand, sich immer mehr ausweitet, ohne je abzu-

nehmen. Das könnt ihr bei Gelegenheit einmal lernen im Rahmen einer Sadhana, einer Praxis, in der

diese sieben Zweige vorkommen.

Da, wie es heißt, durch diese Praktiken unermessliche positive Kraft entwickelt wird, übe dich

voller Energie darin.

Zurück zu Mahamudra, was uns eigentlich interessiert.

Es gibt kein Mahamudra ohne Freigebigkeit. In einem nicht freigiebigen Geistesstrom wird sich kein

Mahamudra einstellen, vor allen Dingen wird es sich nie stabilisieren, weil Knausrigkeit Ausdruck eines

engen Geistes ist und auf Ich-Bezogenheit beruht. Freigebigkeit mit unserer Energie, unserem Besitz,

unserer Zeit – das ist Ausdruck davon, dass wir nicht zu sehr an diesem Ich haften. Das geht direkt

zusammen, deswegen ist es eine Vorbereitung für Mahamudra.

Mahamudra Praktizierende, die an ihrem Besitz hängen, sich Sorgen um sich selbst machen - das geht

nicht zusammen. Der Geist ist eng, wenn wir uns solche Sorgen machen. Wenn wir nicht mal unser

Auto hergeben können, wie sollen wir dann unseren Körper zum Wohle aller Lebewesen hergeben ̧also

einsetzen können? Da haben wir doch gleich Angst, dass da eine Schramme drankommen kann. Das ist

ein ganz direkter Zusammenhang.

Offenes Herz bedeutet, freigiebig zu sein. Das bedeutet nicht, dumme Freigebigkeit zu praktizieren. Das

bedeutet nicht, jedem unser Auto zu geben, bloß weil er fragt. Das bedeutet, weise mit unseren Dingen

umzugehen und auch mit unserem Körper, sodass wirklich das größtmögliche Wohl für alle entsteht.

Das ist immer der entscheidende Faktor: mit allem so umgehen, dass das größtmögliche Wohl, der

größtmögliche Nutzen für alle entsteht.

So würdet ihr auch euer Testament verfassen. Ihr würdet schauen, dass die Dinge, die ihr weitergeben

könnt, dem größtmöglichen Wohl dienen. So leben wir unser Leben. Unser Leben ist tatsächlich ein

einziges großes Mandala-Opfer. Wir schauen, wie wir dieses Leben zum größtmöglichen Wohl aller

leben können.

In dieser Grundhaltung hält Mahamudra Einzug. Da kann sich die offene Geisteshaltung des natürlichen,

unbesorgten Seins manifestieren – frei von Hoffnung und Furcht. Da ist das ganz natürlich. Freigebig-

keit und Verwirklichung der Natur des Geistes hängen ganz eng zusammen.

Wenn es dann dazu kommt, dass wir die Natur des Geistes erkennen und diese Erkenntnis stabil wird,

werden wir sehen, dass Freigebigkeit die erste dieser befreienden Qualitäten ist, die ganz stabil in uns

wird. Sie kommt als erste zur vollkommenen Reifung. Die anderen reifen noch nach im Prozess des

Ausweitens der Verwirklichung.

Das wäre jetzt eine Vorbereitung, der ihr euch zusammen mit den beiden anderen, den grundlegenden

Kontemplationen Zuflucht und Bodhicitta, jetzt schon widmen könntet.

Fragen

Teilnehmer/-in: Du hast es nur in einem Nebensatz erwähnt. Wenn ich außerhalb der Praxis von Man-

dala-Opferung zum Beispiel diese Freude erfahre, von der du gesprochen hast, oder eine andere posi-

tive Erfahrung, dann kann ich die doch jeweils widmen, ohne dass diese spezielle Mandala-Praxis damit

verbunden ist.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 57

Die brauchst du dafür nicht. Diese spezielle Mandala-Praxis übt uns nur darin, alles zu nutzen für den

Weg des Erwachens.

Aber das Widmen kann mich ja ständig begleiten in allen Situationen meines Lebens, in dem etwas

Positives von mir wahrgenommen wird, an dem ich vielleicht anhaften könnte.

Ja. Wenn du durchgehend alles widmest, an dem du anhaften könntest, dann bist du in einer konstanten

Mandala-Opferung, die ganze Zeit, weil du eigentlich dein ganzes Leben, alles mit dem du identifiziert

bist, ständig darbringst, dich immer wieder löst aus der Identifikation.

Teilnehmer/-in: Ich habe eine praktische Frage zur Widmung. Wie wichtig ist es, dass es formal passiert,

also mit den Reiskörnern und dem Metallteller… kann ich auch in der Meditation spontan Widmungen

im Geist machen oder zum Beispiel unterwegs in der Natur ein eigenes Ritual gestalten?

Jederzeit.

Ok, also da ist viel kreativer Spielraum.

Du kannst das einfach im Geist machen. Ich mache manchmal für mich, wenn ich mit mir selbst unter-

wegs bin und merke, ich hafte an irgendetwas, so eine Handbewegung des Herschenkens, als Symbol

für mich: „Zum Wohle aller Lebewesen, dem Erwachen gewidmet!“ Da brauchst du nicht die formelle

Praxis.

Die formelle Praxis hat mir aber sehr geholfen, das zu entwickeln, weil man, während man da sitzt und

eigentlich nur das macht, mit sich in die Tiefe geht. Zum Beispiel als Möchtegern-Bodhisattva kann

man sich vorstellen: Heute widme ich den ganzen Tag dem Wohle aller Lebewesen. Ich bringe ihn dar.

Und die ganze Woche…und den ganzen Monat…und das ganze Jahr, und das nächste Jahr, und das

übernächste. Man stellt sich richtig vor, dass jedes Jahr dieses Lebens – und dann noch das nächste

Leben…und das übernächste Leben – alle dargebracht werden. Das richtet unseren Geist immer mehr

aus in diesen Geist der großen Freigebigkeit. Das formelle Praktizieren macht es schon sehr stark, und

dann passiert auch ganz natürlicherweise das, was du beschreibst, dass das in der Meditation oder in der

Aktivität mal auftaucht.

Teilnehmer/-in: Ich wollte nochmal zum Opfern fragen. Ich habe einen langjährigen vielseitigen Knoten

damit. Du hast Aspekte erklärt, die es mir leichter machen, aber mein Urknoten ist immer, dass ich es

lebensfeindlich finde.

Lebensfeindlich? Das ist ein echter Urknoten.

Ich hatte das von Machik Labdrön nicht gehört, aber ich habe damals selbst gedacht, dass man über

die Liebe zu den eigenen Kindern in die Liebe zu allen Wesen gelangt. Damit kann ich viel anfangen,

und auch mit dem Teilen. Aber alles, was mir wichtig ist, auf ein Häufchen zu machen und das so weg-

wischen… da habe ich eine Assoziation von Lebensfeindlichkeit. Vielleicht kannst du noch mehr erklä-

ren, wie das lebensfreudvoll ist.

Wir führen alles, auf das sich normalerweise unser Besitzergreifen und unsere Identifikationen erstre-

cken, jetzt seinem eigentlichen Sinn und seiner wahren Bestimmung zu.

Wenn du zum Beispiel deine Kinder darbringst als Mandala Opferung, heißt das nicht, dass du sie weg-

wischst, sondern das heißt, dass du sagst: „Natürlich, da geht es um unseren Weg des Erwachens. Wir

sind ja hier zusammengekommen als Familie, um den Weg des Erwachens zu gehen. Möge der Weg

des Erwachens in jede meiner Begegnungen mit den Kindern Einzug halten!“

Du bringst dieses Besitzergreifende dar und lädst stattdessen Bodhicitta ein. Du lädst den Geist des

Erwachens in deine Beziehungen, zu allen Sinneserfahrungen, allen Objekten und allen Menschen, - zu

jedem Moment der Freude ein, damit das Bodhicitta überall hineinkommt.

Und du vervielfältigst dies dann noch. Du stellst dir vor, du wärst eine Mutter mit vielen Vätern, die

unglaubliche fantastische Kinder hätte. Die wären sowas von klasse und alle diese Kinder würdest du

dem Weg des Erwachens darbringen, sodass in all diesen Beziehungen der Geist des Erwachens Einzug

hält.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.58 Dann stellst du dir vor, dass du nicht nur ein kleines Haus hast, sondern dass du überall in der Welt über

Paläste verfügst und allem, was man sich nur vorstellen kann, auch die kleine Almhütte, an der du be-

sonders hängst; dass du überall in der Welt über Orte verfügst und wünschst: alle diese Orte, mögen sie

dem Dharma dienen.

Dann stellst du dir vor, dass du sogar über die Ozeane und den Himmel verfügst und wünschst, dass

auch all das dem Erwachen, der Freude und dem Glück aller Lebewesen dient. Dies ist total lebensbe-

jahend.

Es nimmt das heraus aus unseren Beziehungen zu den Menschen, den Gütern, den Orten und den inneren

Qualitäten, was sonst der Lebensfreude den Hahn abdreht: wo sonst diese engmachende Sorge, nicht

die Fürsorge, hereinkommt. Es nimmt das weg, wo durch das Besitzergreifen in der Beziehung zwischen

Partnern oder Eltern und Kindern, die Beziehungen nicht ganz aufblühen können.

Unsere Fürsorge wird umso stärker. Unsere Wertschätzung wird umso stärker. Wir freuen uns und ler-

nen uns zu freuen, ohne ins Greifen nach der Freude zu kommen, weil die auch gleich gewidmet wird.

Nicht weggewischt. Die Freude ist etwas Wunderbares, das gewidmet werden kann.

Ich und wirklich Hunderte von Praktizierenden, von denen ich schon gehört habe, erleben diese Man-

dala-Praxis als vermutlich die freudvollste aller formellen Praktiken. Bei den meisten Menschen ist das

so. Sie ist so freudvoll.

Wir kommen in solch eine Herzensenergie der Freigebigkeit hinein und in die Freude am Leben. Denn

alles dient plötzlich dem Erwachen, alles macht den Geist frisch und wach. Vielleicht helfen dir diese

paar Worte, diesen Urknoten ein bisschen zu lösen oder zumindest zu denken: „Das hat ja gar nichts

damit zu tun, meine Sorge war gar nicht berechtigt. Da ist ja was ganz anderes gemeint. Ich soll ja nicht

weniger haben. Es ist ja nicht, dass ich alles weggeben muss.“

Manche Menschen haben Situationen erlebt - und das ist furchtbar -, wo andere den Dharma missbrau-

chen und sozusagen sagen: „Du solltest nicht anhaften. Wenn ich mich so und so verhalte, das sollte dir

gar nichts ausmachen! Du bist ein/e Dharmapraktizierende/r und deswegen solltest du nicht aufmucken,

wenn ich deine Sachen benutzt habe und für was anderes eingesetzt habe“.

Manchmal wird der Dharma so verdreht benutzt, sogar von Meistern so benutzt, dass diese Unterwei-

sungen über Freigebigkeit gegeben werden, damit die Leute kräftig spenden. Das war jetzt überhaupt

nicht in meinem Geist. Das kommt mir erst jetzt, wenn ich an möglichen Missbrauch dieser Unterwei-

sungen denke, dass man sagt: „Du als Dharmapraktizierende/r brauchst dich nicht zu beklagen, wenn

ich dir was wegnehme oder wenn ich was von dir fordere. Das sollte sowieso alles dem Dharma die-

nen!“. Das ist ein übergriffiges Verhalten, was mit schönen Dharmaworten ummantelt und versteckt

wird. Darum geht es nicht.

Es geht darum, selbst frei zu werden und nicht darum, dass jemand anderes daherkommt und sagt: „Hey

ihr seid doch Biobauern, wieso stört es euch, wenn ich euren Apfelbaum abgeerntet habe?“ Das ist damit

nicht gemeint. „Ich habe dein Auto genommen und eine Beule reingefahren, aber zum Glück bist du

Dharmapraktizierender, dann kann dich das ja nicht betreffen.“ Das ist Missbrauch. Da nutzen andere

das, um irgendwie zu sagen: „Hafte mal ein bisschen ab!“.

Ich habe das alles schon gehört, ich spreche aus Erfahrung: „Abhaften ist angesagt, reg dich nicht so

auf!“. Egal ob es aus der christlichen oder aus der buddhistischen Ecke kommt - oder wie früher in

Kommunen mit Gemeinschaftseigentum, wo keine Religion im Spiel war - da gibt es genau dieselbe

Sprache. Man versucht, für das eigene respektlose Verhalten eine Ausrede zu finden, dass man sich so

respektlos verhalten kann - und dafür muss dann der Kommunismus herhalten oder christliche Parolen

oder buddhistische… Das ist völlig verkehrt und nicht damit gemeint.

Es ist eben auch nicht damit gemeint, sich nicht zu freuen, sondern es ist einfach nur gemeint, die Freude

auch als Weg des Erwachens zu nutzen, damit wir nicht durch unser Greifen nach Freude in neues Leid

hineinkommen.

Wir sind weiterhin in den Vorbereitungen für Mahamudra. Wir haben bereits die Notwendigkeit gese-

hen, diese starke Energie freizusetzen, die uns hilft, uns aus Verstrickungen zu befreien, uns mit der

Zuflucht ganz auszurichten, Mitgefühl für uns selbst und alle anderen zu entwickeln – Bodhicitta – und

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 59

eine allumfassende Haltung der Freigebigkeit zu entwickeln. Als zusätzliche hilfreiche Praktiken dafür

können wir natürlich für die Zuflucht die Verbeugungen nehmen, die Niederwerfungen, und für die

Mandala-Praxis können wir die Mandala-Opferung mit den Reishäufchen nehmen. Das verstärkt die

Praxis dieser Qualitäten enorm.

4. Die Vajrasattva Meditation und Rezitation

Jetzt kommen wir zu einer dritten Praxis, die hier die Nummer vier ist in den vorbereitenden Übungen,

4. Die Vajrasattva Meditation und Rezitation, um Schleier zu bereinigen.

Die Reihenfolge variiert in den Kommentaren. Man kann die Vajrasattva Meditation schon ganz zu

Anfang machen und dann erst Zuflucht und Mandala. Man kann sie zwischen Zuflucht und Mandala

einschieben. Hier kommt sie jetzt etwas später, weil sie uns tiefer mit tantrischer Praxis verbindet.

Es handelt sich um die Visualisation von einem Buddha über uns, einem weißen Buddha, mit dem wir

Verbindung aufnehmen und der für die Reinheit des Bodhicitta steht, die Reinheit des Buddha-Geistes.

Aber lasst uns langsam vorgehen und auf Seite 8 dem Text folgen:

Das Heranreifen der ungeschickten und schädlichen Handlungen - Handlungen mit dem Geist, Ge-

danken, Handlungen mit der Sprache, Kommunikation, Handlungen mit dem Körper. Handeln beginnt

mit dem Denken, mit den Impulsen, die im Geist auftauchen. Das Heranreifen der ungeschickten und

schädlichen Denk- und Handlungsweisen.

- die wir seit unzähligen Leben bis heute angesammelt haben - ausgeführt haben -, entwickelt solch

eine große Kraft, dass wir jetzt völlig verschleiert sind, was verhindert, dass sich uns die Früchte

der Befreiung und Verwirklichung auf dem Weg der Allbewusstheit offenbaren.

Ich sage es nochmal mit anderen Worten. Wenn wir den Unterweisungen über die Natur des Geistes,

über die Allbewusstheit eines Buddha begegnen und Mühe haben, das zu verstehen, dann liegt es daran,

dass Schleier aktiv sind. Unser Geist ist manchmal so arg verschleiert, dass wir kein Wort verstehen,

obwohl die Unterweisung klar ist und obwohl die Lehrenden genau wissen, worüber sie sprechen, weil

sie jetzt gerade in der Erfahrung sind, von der sie sprechen. Und trotzdem verstehen wir es nicht.

Das ist starke Verschleierung. Sie kommt von der Art, wie wir denken, was für Muster wir in diesem

Leben und in früheren Leben kultiviert haben. Leider stimmt es überhaupt nicht, dass Kinder, Säuglinge

wie ein unbeschriebenes Blatt auf die Welt kommen, völlig rein, in diesem non-dualen Gewahrsein,

ohne irgendwelche aktiv werdenden Gewohnheitsmuster.

Sie sind schon so beschrieben wie eng beschriebene Zeitungen. Die kleinen Kinder sind keine kleinen

Engelchen, die unbelastet zu uns kommen, sie sind nur noch einigermaßen unbelastet von diesem Leben.

Aber die Belastung fängt schon an mit der Empfängnis, mit dem Eintreten in die Gebärmutter.

Sie nehmen zwar in den ersten Wochen fast nichts wahr davon, aber zunehmend leben sie alle Belas-

tungen der Mutter mit, der Paarbeziehung, der Umgebung… All das wird schon in der Gebärmutter

wahrgenommen und verarbeitet mittels emotionaler Prägungen aus vergangenen Leben.

Jedes Neugeborene ist anders, ist schon einen Tag nach der Geburt anders als jedes andere Neugeborene.

Sie sind nicht gleich, in einem wunderbaren, offenen Gewahrsein. Manche Neugeborenen reagieren von

Anfang an mit Angst. Andere wiederum reagieren von Anfang an mit Vertrauen, mit Öffnung. Es sind

sehr große Unterschiede.

Eines meiner wichtigsten Erlebnisse war damals, als ich als dharmapraktizierender Medizinstudent in

der Pädiatrie im Berner Inselspital arbeitete und dazu kam, als alle Neugeborenen, mehr als vierzig, in

einem Saal versammelt waren. Ich ging an jedem der Neugeborenen vorbei. Ich machte bei jedem Neu-

geborenen dieselbe Geste, nahm dieselbe Haltung ein, so ein Hinschauen und ein kleines Winken - und

guckte, wie sie reagieren. Jedes reagierte anders. Es war sehr, sehr eindrücklich, wie verschieden sie

schon in den Tagen unmittelbar nach der Geburt waren.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.60 Ich spreche darüber, weil in dem Satz stand, dass wir von früheren Leben geprägt sind. Das wissen wir

natürlich nicht, wir haben keine Ahnung, was vorher war.

Wir wissen aber, dass wir auch genetisch geprägt sind - und auch das ist Karma. Karmische Prägung ist

die Familie, in die wir geboren werden, die genetische Prägung, die wir mitbekommen, sind genauso

die Emotionen der Eltern, die wir während der Schwangerschaft mitbekommen haben, die Spannungs-

felder oder die Liebe, in die wir hineinkommen.

All das ist schon Prägung und wir haben aus den früheren Generationen etwas mitbekommen. Aber

offenbar auch bei ganz ähnlichem Genom: eineiige Zwillinge kann man unterscheiden aufgrund unter-

schiedlicher Muster, einer unterschiedlichen Art, auf der Welt zu sein, obwohl alles andere so gleich ist.

Wenn wir in früheren Leben aus Ängsten heraus gehandelt haben und viele angstauslösende Erfahrun-

gen gemacht haben, kommen wir in dieses Leben mit einer Grundhaltung des Aufpassens - ein zögerli-

ches Eintreten in dieses Leben, eine Hab-Acht-Stimmung.

Wenn wir viele wohlwollende Erfahrungen in unserem Geist gemacht und kultiviert haben, kommen

wir mit einer grundlegenden Haltung des Vertrauens - und haben es leichter als andere Kinder, Liebe

anzunehmen Das sind grobe Grundzüge im Verhalten und der Empfänglichkeit der Kinder, die wir

schon bemerken können. Aber es geht viel feiner: wie wir auf Stimmen reagieren, wie wir auf Berührung

reagieren usw.

Mit der Zeit differenziert sich das immer weiter aus. Ohne dass wir eine Erinnerung an unsere vergan-

genen Leben wiederfinden, sind wir doch in unserem Denken und Fühlen geprägt von Einflüssen, die

wir nicht ganz klar kriegen.

Wenn in diese vorgeprägten Muster hinein starke Ereignisse in diesem Leben passieren, speziell was

wir heute kennen als frühkindliches Trauma - Übergriffigkeit der Eltern, mangelnde Fürsorge oder eine

Unfähigkeit der Mutter, der Eltern, die Signale des Kindes aufzunehmen und richtig zu verstehen -,

wenn schon ein Boden der schwierigen Verarbeitung da ist, vielleicht eine ängstliche Grundtendenz,

aus früheren Leben ein Gefühl, nicht geliebt zu sein, nicht wirklich einen Platz zu haben, dann verstärkt

sich das enorm.

Während andere mit derselben Art von Erfahrung, eventuell sogar derselben Mutter, die sich ganz ähn-

lich verhält, demselben Umfeld, besser damit umgehen können, weil sie durch ihre Grundprägung, durch

das, was sie mitbringen, nicht so sensibel darauf reagieren, mehr Fähigkeiten haben, das innerlich zu

verarbeiten.

Wie dem auch sei, alle werden darunter leiden, wenn in diesen ersten Lebensjahren etwas fehlt. Eigent-

lich muss man sagen, dass allen Kindern, allen Säuglingen immer etwas fehlen wird. Es gibt nicht die

perfekte Kindheit. Es gibt auch keine perfekten Eltern. Die Eltern, die jetzt gerade hier im Raum sind

und zuhören, sollen gleich vergessen, den Versuch zu machen, perfekte Eltern zu sein. Das gibt es ein-

fach nicht.

Man wird sich so verhalten, wie es die eigenen Muster mitbringen, und man kann sich dabei entspannen.

Man kann etwas fürsorglicher sein. Man kann versuchen, krasse Traumata zu verhindern. Aber natürlich

wird es bei dem kleinen, aufwachsenden Kind, so wie wir alle früher kleine Kinder waren, zu Enttäu-

schungen, zu Frustrationen kommen – natürlich. Das ist nicht nur schlecht, auch daran reifen wir, auch

daran werden wir unsere Verarbeitungsmechanismen schulen. Wir werden weiterwachsen.

Wenn wir eingebettet sind in Liebe und Wohlwollen, wird uns das die Kraft geben, Schwierigkeiten zu

überwinden. Aber niemand ist ein perfekter Vater, eine perfekte Mutter, das gibt es einfach nicht.

Das würde bedeuten - ich weiß gar nicht, was es bedeuten würde, ich glaube es ist besser, es ist nicht

ganz so perfekt. Ich weiß nicht, was perfekt wäre. Wieviel Frustration braucht ein Kind, um groß zu

werden? Keine Ahnung. Früher hat man viele schlimme Verletzungen gesetzt, indem man den Kindern

viel zu viel zugemutet hat. Heute findet man oft Eltern, die ihren Kindern gar nichts mehr zumuten, die

völlig unreif in das Alter der Jugendlichen hineinkommen und überhaupt nicht mit Schwierigkeiten,

Alleinsein und dergleichen umgehen können, mal einen Wunsch nicht erfüllt zu bekommen. Wo da der

richtige Weg ist, habe ich keine Ahnung.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 61

Jedenfalls kommen wir ins Erwachsenenalter und begegnen dem Dharma mit einer recht heftigen Pa-

ckung an Erfahrungen aus diesem und aus früheren Leben. Diese Erfahrungen mit all den emotionalen

Reaktionen, die da stattgefunden haben, beeinflussen unsere Wahrnehmung der Welt - und beeinflussen

jetzt gerade, wie jeder von uns diese Ausführungen aufnimmt: mit Zustimmung, mit Ablehnung, mit

aufsteigender Trauer, mit was auch immer, was jetzt gerade aktiv ist. Das verschiebt jetzt schon die

Bedeutung der Worte, während wir zuhören. Obwohl wir vielleicht als Paar nebeneinandersitzen und

eng miteinander verbunden sind, so versteht es doch jeder anders.

Wenn wir Unterweisungen über Mahamudra, über die Natur des Geistes bekommen, können wir diese

Offenheit, diese Freiheit, dieses natürliche Sein vielleicht gerade noch erahnen, aber meistens nicht zu-

lassen, weil sich in uns zu viel Angst breitgemacht hat, zu viel Kontrollbedürfnis. Wir müssen sicher-

gehen, dass nichts Schlimmes passiert und können uns, obwohl wir in einer ganz sicheren Situation sind,

nicht einfach loslassen und vergessen und öffnen und einfach nur da sein. Das nennt man Schleier.

Die Vajrasattva-Praxis ist bekannt dafür, diese Schleier grundlegend anzugehen.

Wenn wir diese Schleier nicht bereinigen, wandern wir wie zuvor weiter im endlosen Samsara

und erfahren Leid. Wenn wir sie nicht reinigen, nicht auflösen, dann ist klar, werden wir weiterhin in

unseren Mustern funktionieren, wir werden in unseren Beziehungen genau die gleichen Muster wieder-

holen und sie werden sich auch verstärken. Wir werden weiter in Verstrickungen unterwegs sein und

Leid erfahren.

Genauso wie beim kontinuierlichen auf und ab eines Wasserrades wird es kein Leid im Samsara

geben, dass wir nicht erfahren. Ein Wasserrad: da fließt Wasser hinein, es dreht sich und wird woan-

ders wieder entleert. Mal ist man oben im Wasserrad, mal unten. Mal hat man schöne Aussicht, mal ist

man im Sumpf und am Ertrinken. Das ist ein Beispiel, um zu sagen: mal machen wir Erfahrungen wie

Götter, mal machen wir Erfahrungen wie in den Höllen, und alles dazwischen. Man wird alles erfahren.

Nicht nur das, was wir jetzt erfahren. Es kann auch noch schlimmer kommen und es kann auch viel

besser kommen. Vermutlich haben wir das alles schon erfahren, wir haben einen riesigen Erfahrungs-

schatz.

Wir sollten uns wirklich bemühen, Negativität und Schleier zu bereinigen. In Dharmaessenz in

Versen lesen wir:

„Selbst das kleinste Vergehen kann in der nächsten Welt - also der nächsten Geburt - starke Angst

und große Schwierigkeiten bewirken, gleich einem ins Innerste vorgedrungenen Gift.

Wer sich aus dem Wunsch glücklich, zu sein, wild verhält und schädlich handelt, wird beim Reif-

werden dieser schädlichen Handlungen so manche Träne vergießen.“

Ich habe häufiger erlebt, dass Menschen Tränen vergießen darüber, wo sie wild gehandelt haben, selbst-

bezogen. Manche dieser Tränen waren in den Wochen kurz vor dem Tod. Dann ist es ein bisschen spät.

Manche dieser Tränen waren, wenn der erste intensive Kontakt mit dem Dharma stattfand. Manche

dieser Tränen waren nach zehn, zwanzig Jahren Dharmapraxis, wenn man endlich sieht, was man selbst

angestellt hat und einen Weg sucht, um damit aufzuräumen.

Der Rat ist, so zu leben, dass man nichts zu bereuen hat und jeden Tag, jede Situation so lebt, dass man

froh ist, diesen Tag, diese Situation genauso gelebt zu haben - und es nichts mehr aufzuräumen gibt.

Wenn es etwas aufzuräumen gibt, erledigt man das so schnell wie möglich, damit man im Grunde ge-

nommen jederzeit sterben kann, ohne eine einzige Träne zu vergießen: freudig sterben kann. Man kann

diesen Übergang freudig vollziehen, weil wir ein erfülltes Leben voller Güte gelebt haben. Wir gehen

weiter und wissen: dieser von Liebe erfüllte Geist wird in der Liebe, in der Offenheit bleiben, auch im

Übergang.

Es ist sicher, dass irgendetwas Gutes auf uns wartet, dass irgendetwas Gutes weitergeht, weil der Geist

grundlegend durchdrungen ist. Da sind keine großen Schleier mehr aktiv, vor denen man sich fürchten

müsste. Es ist aufgeräumt worden.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.62

Die vier Kräfte

Es gibt viele solcher Zitate. - oder Hinweise, wie notwendig es ist, dieses Gift aus dem Inneren zu

befreien. Mit Gift sind hier die tiefsitzenden Geistesgifte gemeint: sich ständig mit anderen zu verglei-

chen und dadurch in Eifersucht oder Stolz zu gehen, ständig etwas haben zu wollen oder nicht haben zu

wollen, Begierde und Hass und Ärger und Wut usw. Das ist ganz tief eingedrungen in uns und macht

uns so unfrei. Um - diese - Negativität zu bereinigen, werden allgemein die vier Kräfte unterrichtet,

wie sie im Sutra Erläuterung der vier Dharmas angeführt werden:

„Maitreya! Ein Bodhisattva-Mahāsattva - also jemand, der wirklich den Weg geht, um das Wohl aller

Lebewesen zu bewirken –, der die vier Dharmas übt, wird alle Negativität überwinden, die er an-

gesammelt hat. Negativität ist hier der Ausdruck für die Auswirkungen der ungesunden Denkweisen,

Redeweisen, Handlungsweisen. Was sind diese vier? Die Praxis [Kraft] gründlichen Verwerfens,

die Praxis [Kraft] des Anwendens von Gegenmitteln, die Kraft der Abkehr von Fehlverhalten und

die Kraft des Rückhaltes.“ Die werden jetzt erklärt.

Die Kraft des gründlichen Verwerfens

Die erste Kraft [des gründlichen Verwerfens] besteht darin, begangene schädliche Handlungen zu

bereuen und offenzulegen.

Irgendwann werden wir bewusst, wie wir uns jemandem gegenüber verhalten haben: wie respektlos,

wie schädigend, wie verletzend, um ein Beispiel zu nehmen. Wir bereuen das, weil wir sehen, welche

Konsequenzen das gehabt hat und immer noch hat. Wir sehen, wieviel Leid dadurch für diesen Men-

schen entstanden ist, wie eventuell andere um diesen Menschen herum auch an den Konsequenzen dieser

Traumatisierung, Verletzung zu leiden hatten und wie wir selbst auch die Konsequenzen solchen Han-

delns, solchen Denkens, erleben müssen.

Wir sehen die enormen Konsequenzen, wo eigentlich ein Ende gar nicht in Sicht ist, weil so etwas die

Neigung hat, sich über Generationen fortzusetzen und in alle Beziehungen hinein zu gehen.

Bei kleinen Verletzungen ist es nicht so krass, aber wenn es über längere Zeit stattgefunden hat, kann

das einen Menschen schwer schädigen. Der erste Schritt ist es, das ganze Ausmaß unseres eigenen ver-

letzenden ungesunden Handelns ins Bewusstsein kommen zu lassen, vor uns selbst uns dies einzugeste-

hen, wie es war, und darüber zu kontemplieren, was die Folgen davon sind - und es offen zu legen.

Dieses Offenlegen geschieht in der Vajrasattva-Praxis vor dem Buddha, den wir uns über uns vorstellen.

Wir legen es vor Vajrasattva dar. Wir können es auch anderen erzählen, aber das Offenlegen ist vor

allem, dass es ganz in unserem Bewusstsein auftreten darf, sich zeigen darf, wir aus dem Verleugnen

rauskommen.

Das ist die erste Kraft. Die besteht darin, es gründlich zu sehen, offenzulegen, zu bereuen und damit

auch zu verwerfen.

Dieses hemmungslose Eingestehen und Bereuen vor uns selbst und den Buddhas sollten wir mit allem

praktizieren, was es zu bereuen gibt, wo wir aus emotionaler Reaktion heraus schädlich gedacht, ge-

sprochen oder gehandelt haben.

Dann wenden wir natürlich Gegenmittel an, damit sich das nicht wiederholt. Anwenden von Gegenmit-

teln muss auf der Ebene ansetzen, wo die Störung ist.

Die Kraft des Anwendens von Gegenmitteln

Die zweite Kraft [des Anwendens von Gegenmitteln] beinhaltet unter anderem, Sūtras zu lesen

oder auswendig zu lernen, sich der Leerheit zuzuwenden, [Mantras] zu rezitieren, Statuen oder

Stupas herzustellen, ihnen Verehrung darzubringen und die Namen der Buddhas und Bodhisatt-

vas zu preisen.

Das sind Klassiker im Dharma, was man formell machen kann. Das ist ungefähr so, wie man früher bei

der Beichte hundert Ave-Marias oder ähnliches aufgebrummt bekam.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 63

Es ist nicht so wirksam - es sei denn, es geht mit einem tiefen Verständnis einher. Es wird ja erwähnt,

sich der Leerheit zuzuwenden. Leerheit bedeutet Nicht-Selbst. Es geht darum, sich den Mustern zuzu-

wenden, die zu diesem Handeln geführt haben. So kann man feststellen, dass unser verletzendes Ver-

halten damit zu tun hat, dass wir mit früheren Verletzungen nicht umgehen konnten, wir uns verletzt

gefühlt haben, wir getroffen waren in unserem Ich-Gefühl und wir aus dieser selbst erlebten Verletzung

verletzend handeln. Im Grunde genommen sind es immer wieder diese Muster, die wir bemerken: dass

wir vielleicht verletzend waren, weil wir ein ganz schwaches Selbstwertgefühl haben.

Jemand ist uns ein bisschen komisch gekommen, wir waren unsicher, das Beste ist, gleich verletzend

abweisend zu sein - als Selbstschutz, weil wir nicht in uns ruhen, weil wir uns sehr verletzlich fühlen

und uns deswegen respektlos verhalten. Dass wir keine Liebe geben können, weil wir sie selbst nicht

spüren und selbst nicht empfangen haben.

Da muss die Praxis ansetzen. Wenn wir merken, dass wir geizig waren, wir sogar jemandem etwas

weggenommen, gestohlen haben, uns Besitz angeeignet haben, der gar nicht unserer war… zum Bei-

spiel, dass wir aktiv dafür gesorgt haben, dass das Erbe zu unseren Gunsten falsch verteilt wird usw. Es

gibt so viele Situationen.

Was ist da los? Warum hinterziehen wir die Steuer? Warum sagen wir nicht die Wahrheit, warum lügen

wir? Was ist dahinter? Was trauen wir uns nicht zu zeigen, was trauen wir uns nicht zu geben?

Dahin muss das Gewahrsein gehen, ein liebevolles Gewahrsein. Wir stellen uns in der Vajrasattva-Pra-

xis vor, dass von dem Buddha über uns, der die liebevolle Präsenz des Erwachens darstellt, der Nektar-

strom, der da herabfließt - dieser Bodhicittanektar, reines Licht, liebevolles Licht, heilendes Licht -, in

die Bereiche geht, wo wir Heilung brauchen. Wir bereuen zum Beispiel, lieblos gehandelt zu haben.

Dann geht der Nektarstrom durch uns hindurch und wir spüren die Liebe, wir spüren das Angenom-

mensein. Und die Erfahrung von Bodhicitta, Liebe, Mitgefühl, Offenheit, Weisheit, natürlichem Sein

spült symbolisch gesprochen die Spuren, die Schleier, die Reste dieser Negativität aus. Aber nur, weil

wir jetzt eine neue Erfahrung machen.

Egal an was wir uns erinnern, wo wir respektlos, negativ, schädigend, verletzend gehandelt haben, ge-

logen, getötet haben, fremdgegangen sind, was auch immer… egal an was ihr denkt, da gibt es jeden

Tag etwas. Man kann ganz fein werden mit seiner Aufmerksamkeit und merken, da habe ich Ich-bezo-

gen gesprochen, da habe ich mich in den Vordergrund gespielt. Da ging es mir im Gespräch mit dem

anderen gar nicht darum, auf den anderen einzugehen, sondern nur darum, mich selbst darzustellen. Es

wird immer feiner.

Man kriegt immer mehr mit, bis wir die feinsten dualistischen Regungen mitbekommen, die uns bestim-

men in unserem Denken, Sprechen und physischem Handeln.

Überall in diese Bereiche, die uns bewusst werden, die wir innerlich offenlegen und uns eingestehen,

geht dieser heilende Bodhicittastrom, dieses heilende Gewahrsein - zum Beispiel in diesen Bereich, wo

wir meinen, so verletzlich zu sein, und heilt diese Verletzlichkeit, lässt uns in der Offenheit ankommen,

wo es gar nichts zu verteidigen gibt.

Bis wir es spüren, dass wir wieder ganz heil sind, ganz in uns angekommen. In der Vajrasattva-Praxis

ist das die Phase, in der wir ganz mit dem Nektar ausgefüllt sind und schließlich Vajrasattva in uns

verschmilzt und sagt: es ist alles gut, dir ist alles verziehen. Auch du hast die Buddhanatur und er ver-

schmilzt mit uns. Es ist alles in Ordnung, du bist wie ich. Wir spüren die komplette Einheit mit Vajra-

sattva.

Aus dieser heilenden Erfahrung heraus kann man sagen, dass das, was uns vorher belastet hat, gereinigt

wurde. Dafür muss das liebevolle Gewahrsein wirklich dorthin gehen, wo das Problem sitzt. Wenn wir

nur oberflächlich ein Sutra rezitieren oder ein Gebet sprechen, dann wird es nicht diese Kraft entfalten,

denn es geht nicht an den Ort, wo die Heilung stattfinden soll.

Wenn wir aber ganz tief den Dharma lesen und rezitieren, erreicht uns das. Nehmt so ein Buch wie von

Gendün Rinpoche, die Herzensunterweisungen eines Mahamudrameisters, oder von Dilgo Khyentse

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.64 Rinpoche, für diejenigen, die französisch sprechen, oder nehmt ein Dharmabuch, das euch berührt, und

lest das mit Herz.

Dann werden Passagen kommen, die genau an den Ort gehen, wo ihr Heilung braucht. Wenn ihr das

liebevolle Gewahrsein des erwachten Meisters oder der Meisterin spürt, die da gerade spricht, dann

findet Heilung statt. Dann ist es tatsächlich ein Gegenmittel, ein echtes Antidot, ein Heilmittel, das auf-

lösend wirkt. Aber nur, wenn es diese Intensität entwickelt, die es braucht, um die Selbstzweifel aufzu-

lösen und die Liebe, das Mitgefühl zu spüren.

So wirkt die zweite Kraft des Heilmittels oder Gegenmittels. Damit es wirkt, muss es auf der Ebene

ansetzen, wo das Problem sitzt. Das tiefste Problem, das allgegenwärtige Problem, ist die Ich-Bezogen-

heit, wo wir ständig um uns selber kreisen.

Deswegen ist die Vajrasattva-Praxis eine Praxis, in der wir in diesen Raum eintreten können frei von

Ich-Bezogenheit. Deswegen der Nektarstrom, deswegen das Verschmelzen von Vajrasattva, um uns zu

ermöglichen, heraus zu finden aus dieser Enge des Ich, die verantwortlich ist für den ganzen Schrott,

den wir angestellt haben in unserem Leben.

Das ist das grundlegendste Heilmittel. Es geht wirklich an die Wurzel. Es geht darum, die in der Tiefe

sitzende Sorge um uns selbst aufzulösen, diese geistige Dimension zu finden, wo alles wirklich okay ist.

Dieses offene, freie, liebevolle Sein, in dem wir wirklich ein unbeschriebenes Blatt sind, so wie man

sich das von einem Neugeborenen wünschen würde, was leider nicht der Fall ist. Aber wir werden da

neu geboren.

Wenn wir zulassen können, dass sich all das, mit dem wir identifiziert sind, all die Negativität, die wir

mit uns tragen, mit der wir ja auch identifiziert sind, aber auch die positiven Erfahrungen, an denen wir

festhalten, all dieses Festhalten auflöst und wir dann im offenen, klaren, liebevollen Sein ankommen,

dann sind wir neu geboren.

Das braucht es als Vorbereitung für die Mahamudra-Praxis. Um wirklich Mahamudra praktizieren zu

können, dürfen wir nicht mehr belastet sein von Schuldgefühlen, von mangelndem Selbstwertgefühl,

den ganzen Zweifeln, kein Buddha zu sein: alle anderen schon, nur ich nicht. All diese Zweifel müssen

sich auflösen. Das sind Barrieren, echte Schranken, die es verhindern, dass sich das erwachte Ge-

wahrsein zeigen kann. Deswegen gibt es diese Praxis, die wir so intensiv ausführen sollten, dass sie

diese Wirkung hat.

Ich weiß noch, wie Gendün Rinpoche vor uns saß, seine Mala in die Hand nahm und sagte: Eine Mala

vom Einhundert-Silben-Mantra mit völliger Intensität zu praktizieren, nur 108 Rezitationen des Mantras

mit den vier Kräften - und ihr seid neu geboren. Es reicht aus, eine Mala intensiv zu praktizieren, um

eine Erfahrung des Erwachens zu ermöglichen.

So habe ich dann praktiziert. Ich muss euch sagen: es stimmt. Wir können nämlich gar nicht länger als

eine Mala lang solch eine Intensität aufbringen. Das sind ungefähr zwanzig Minuten, mit voller Her-

zenskraft da zu sein und sich einzugestehen, was man für Mist gebaut hat, es offen zu legen und die

Liebe zu empfangen, die das annimmt und auflöst, ganz in Bodhicitta einzutauchen und zu spüren – und

dann die völlige Freiheit zuzulassen. Das ist ein zwanzig-Minuten-Prozess, wenn man mit der Praxis

vertraut ist.

Das wiederholen wir, denn nach der Offenheit ziehen sich die Schleier wieder zu - nicht ganz wie vorher,

denn einiges ist bereinigt, aber da ist noch mehr Material. Wir wiederholen diese Praxis immer wieder,

bis wir so vertraut damit sind, diese Kräfte anzuwenden, dass wir sie jederzeit zur Verfügung haben.

Die Kraft der Abkehr von Fehlverhalten

Die dritte Kraft [der Abkehr von Fehlverhalten] drückt sich in dem Versprechen aus, die zehn

nichtheilsamen Handlungen zu unterlassen.

Das können wir ausweiten, indem wir jedes Mal nach so einem Prozess natürlich uns selbst versprechen,

nicht wieder so zu handeln. Wenn ich jemanden geschlagen habe, das bereue und damit aufräume, ist

klar, dass das damit einhergeht, mir selbst vorzunehmen und mir selbst zu versprechen, nie wieder zu

schlagen, nie wieder so respektlos zu handeln.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 65

Wenn ich es bereue, fremdgegangen zu sein, hat das nur Wert, wenn ich mir vornehme, das nicht mehr

zu tun, sondern ein klares sexuelles Verhalten zu leben. Also klare Absprachen: offen zu sein, entweder

treu, monogam oder offen, polygam. Das ist alles in Ordnung. Nur muss es klar sein, sodass es keine

verdeckte Ich-bezogene Handlung ist. Klare Absprachen.

Diese Klarheit braucht es und sie entsteht nur, wenn wir unsere Versprechen halten, wenn wir dazu

stehen, was wir versprochen haben, wozu wir uns verpflichtet haben.

Ich kann natürlich nicht versprechen, nie wieder dualistisch zu denken, das geht nicht. Aber ich kann

mir versprechen, immer wieder, wenn ich merke, dass ich in solcher Dualität lande, nach einer gelöste-

ren, offeneren Alternative zu suchen. Wenn ich es merke, kann ich etwas tun.

Also braucht es diese Verpflichtung. Diese Verpflichtung ist wie eine Besiegelung, dass wir es ernst

meinen mit unserem Bereuen. Wenn wir etwas bereuen, ohne zu versprechen, dass wir alles daransetzen

werden, nicht mehr so zu handeln - dann zählt das nicht viel.

Ihr habt vielleicht schon mal versucht, eurem Partner, eurer Partnerin zu sagen, dass ihr etwas bereut

und um Verzeihung gebeten. Dann fragt euer Partner, eure Partnerin: Und wirst du wieder so handeln?

Kannst du mir versprechen, dass du alles daransetzt, nicht mehr so zu handeln? Und wie wir dann ins

Zögern kommen.

Tatsächlich hat es nur Wert, wenn die Reue, das Offenlegen so weit geht, dass wir auch versprechen

könnten, alles daran zu setzen, nicht wieder so zu handeln. Wir können vielleicht nicht versprechen,

dass wir nie wieder so handeln, weil wir die Stärke unserer Muster kennen. Das wäre wie ein Sucht-

kranker, der verspricht, nie wieder Heroin zu spritzen. Das ist ein Versprechen, dass er so vielleicht

nicht halten kann.

Aber das Versprechen zu geben, alles daranzusetzen und sich Hilfe zu holen, kann man geben. Bei

Suchtkranken hat man einen Paten, jemanden, der sich um einen kümmert: also den Paten anzurufen,

den Suchtbetreuer anrufen usw., Hilfe zu suchen. Man kann versprechen, dass man alles daransetzt, um

noch einen Fuß in die Tür zu kriegen. Also das Versprechen und:

Die Kraft des Rückhaltes

Die vierte Kraft [des Rückhaltes] beinhaltet, sich auf die Zuflucht auszurichten und Bodhicitta zu

kultivieren.

Die Kraft des Rückhaltes ist der Suchtbetreuer. Der Rückhalt ist unser bester Freund, denn wir wissen,

dass wir aufgrund unserer noch nicht vollständig bereinigten Muster unter Umständen rückfällig wer-

den. Was bewahrt uns vor dem Rückfall? Das ist die Kraft des Rückhaltes.

In uns ist der beste Rückhalt, sich auf die Zuflucht auszurichten und Bodhicitta zu kultivieren. Äußerer

Rückhalt sind die guten Freunde, die uns zurückhalten können, vielleicht auch der Lehrer, die Lehrerin,

zu denen wir äußerlich Zuflucht nehmen können.

Aber innerlich ist der beste Rückhalt, sich daran zu erinnern, mit welcher Motivation ich im Leben

unterwegs bin: Worum geht es mir eigentlich? Geht es mir darum, einen Moment tollen Sex zu haben?

Ist das das Wichtigste für mich im Leben? Oder bin ich eigentlich unterwegs, das Erwachen zu verwirk-

lichen und heilsam zu handeln, Menschen zu respektieren?

Was ist denn schlussendlich das Wichtigere? Ich sehe, wie jemandem ein Geldschein aus der Tasche

fällt. Es ist ein großer Geldschein, ein Hunderter. Er hat es nicht gemerkt. Ich könnte ihn mir aneignen,

aber ich weiß genau, wem er gehört. Niemand merkt es, ich bin nur mit mir selbst unterwegs. Ich habe

versprochen, nicht zu stehlen. Ich habe auch nicht wirklich gestohlen, denn er ist ja auf den Boden

gefallen, er ist mir sozusagen vor die Füße gefallen.

Was ist die Kraft des Rückhaltes? Mich daran zu erinnern, was das eigentlich Wichtige im Leben ist.

Der Hunderter wird mir nur ein kleines Vergnügen bereiten, aber die Kraft entwickelt zu haben, meinen

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.66 Ich-bezogenen Mustern etwas entgegen zu setzen und dem anderen die Freude zu machen, den Hunder-

ter zurück zu geben: das wirkt viel länger, das entwickelt eine Kraft, die mich das ganze Leben begleiten

wird.

Die Kraft des Rückhaltes ist, mich an meine eigentliche Ausrichtung zu erinnern, das, was wir Zuflucht

nennen. Das ist ganz stark.

Die Kraft des Bodhicitta ist vielleicht noch stärker und ergänzt zumindest die Kraft der Zuflucht. Wenn

ich aus tiefstem Herzen versprochen habe, dazu beizutragen, allen Lebewesen das Erwachen zu ermög-

lichen - das bedeutet, dass sie wahres Glück finden, richtig glücklich sind und kein Leid erfahren, ihnen

auf keinen Fall Leid zugefügt wird -, wenn ich mich an diese tiefe Motivation erinnere in einer Situation,

wo ich so oder so handeln könnte, und ich weiß genau, wenn ich so handle, entsteht sehr viel mehr Leid

für andere, vermeidbares Leid, dann wird mich das zurückhalten.

Die Kraft des Bodhicitta wird mich zurückhalten, so egoistisch zu handeln. Es ist die größte Kraft des

Universums. Man nennt sie auch Liebe. Liebe ist, allen zu helfen, ganz frei zu werden ohne Einschrän-

kung. Wenn wir uns an die Kraft der Liebe erinnern in den Momenten, in denen wir in Versuchung sind,

wird uns das enorm helfen. Die Kraft des Bodhicitta, das, worum es eigentlich geht.

Wir haben es jetzt oft in der Presse mit Sexualskandalen zu tun, auch von buddhistischen Lehrern, nicht

nur von katholischen Priestern. Eigentlich ist das Problem ein Bodhicitta-Problem. Es ist kein Problem,

dass sie Sex haben mit Schülern und Schülerinnen. Wenn es offen wäre, wenn es freigelegt wäre, wäre

alles in Ordnung. Aber es wird eine Machtposition ausgenutzt und unter Vorspiegelung eines gewissen

Nutzens wird eine sexuelle Beziehung eingegangen.

Wenn wirklich Bodhicitta da wäre, würde sich jeder Lehrer, der in einer solchen Machtposition ist,

überlegen, was die langfristigen Konsequenzen eines solchen Verhaltens sind. Hilft es wirklich, den

Schüler, die Schülerin schneller ins Erwachen zu bringen mit solch einem Verhalten? Ist das wirklich

hilfreich?

Wer ehrlich hinschaut, wird sofort wissen: nein, das ist nicht hilfreich und die Finger davonlassen, of-

fene und klare Beziehungen leben, keine versteckten ausbeuterischen Beziehungen. Das ist eine Bodhi-

citta-Frage. Das Bedauerlichste ist nicht das Sexualverhalten selbst, sondern das mangelnde Bodhicitta

in der Situation, denn das sind doch Menschen, die die Liebe predigen, Bodhicitta predigen und eigent-

lich Vorbild dafür sein sollten.

Sie nutzen die Beziehung zu ihrem eigenen Vorteil und sind nicht um den Nutzen der anderen bedacht.

Darauf muss man achten.

Das können wir selbst in jeder Situation anwenden, auch in unseren kleinen Situationen. Wir denken

immer daran, wenn ich gerade am Scheideweg bin, so oder so zu handeln: was sagt denn das Bodhicitta

in dieser Situation? Wenn ich jetzt das Bodhicitta einlade, wie würde ich dann handeln? Wenn jetzt

reines Bodhicitta in mir ist, Liebe, Mitgefühl und Weisheit, wie sieht dann mein Handeln aus? Zögert

bitte nicht, so zu handeln. Bodhicitta ist der beste Ratgeber.

Wir kennen die Situationen nicht, aber wenn man hört, wie Missbrauchsgeschädigte darüber klagen, wie

ihre Leben weitergehen, wie ihr Vertrauen in den Dharma zerstört ist, dann weiß man, dass nicht Bodhi-

citta am Wirken war. Das war nicht gut. Da war keine Weisheit, da war keine Liebe, da war kein Mit-

gefühl. Das kann man vorher schon erahnen, wenn man sich die Mühe macht, Bodhicitta einzuladen in

den Momenten, wo wir zögern, wo wir noch die Möglichkeit haben, anders zu sprechen, anders zu

handeln. Das ist mit der Kraft des Rückhaltes gemeint.

Das alles praktizieren wir in der Vajrasattva-Praxis. Diese vier Kräfte sind da aktiv, egal in welcher

Reihenfolge. Einige von euch, die sich mit der Praxis auskennen, wissen, dass die Reihenfolge der vier

Kräfte auch mal anders erklärt wird. Das spielt gar keine Rolle.

Es ist gut, wenn sie alle da sind: ein tiefes Bereuen und Offenlegen mit dem Entschluss, alles daran zu

setzen, nicht wieder so zu handeln, so tiefes Anwenden des Heilmittels, dass es unsere Muster auflöst,

die uns sonst veranlassen, so zu handeln, und sich auf den Rückhalt besinnen, sodass wir einen starken

inneren Rückhalt haben, wenn wir wieder in Versuchung kommen: in der Zuflucht, im Bodhicitta und

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 67

evtl. auch in unseren Sanghafreunden, unseren guten Freunden auf dem Weg. Die können auch Rückhalt

sein.

In unserem Fall beinhaltet die Meditation-Rezitation [von Vajrasattva] das Offenlegen [und Ver-

werfen]. Wenn wir dabei die begangenen schädlichen Handlungen bereuen und die innere Ver-

pflichtung eingehen [sie nicht wieder zu begehen], vervollständigt dies die vier Kräfte.

Einer von meinen drei Brüdern ist evangelischer Pastor. Abends bei einem Gespräch sind wir auf die

Beichte gekommen, die bei den Protestanten nicht eine so große Rolle spielt. Ich habe meinem Bruder

diese vier Kräfte erklärt - und er sagte: genauso wird das bei uns auch erklärt, es braucht genau diese

vier Kräfte. Das eigentliche Verständnis ist im Christlichen genauso, wie wir das jetzt unterrichtet haben.

Der einzige Unterschied ist, dass da, wo wir in der Tiefe die Ich-bezogenen Muster auflösen durch ein

Erkennen der wahren Natur des Geistes, also des Nicht-Selbst, der nicht fassbaren Natur des vermeint-

lichen Ichs, der Gottesglaube reinkommt.

Gott ist eigentlich dieses zeitlose Gewahrsein. Eigentlich ist es die Erfahrung des zeitlosen Gewahrseins

in diesem Prozess, der die Schleier an der Wurzel ausräumt. Ansonsten sind die Prozesse gleich. Diese

vier Kräfte sind ein universelles Prinzip.

Es ist mein Anliegen, dass ihr merkt, es ist nicht speziell buddhistisch.

Die Buddhisten haben natürlich wieder den Verdienst, dass sie es besonders klar darstellen. Zweiein-

halbtausend Jahre haben sie ihre Lehren sehr gut aufgeräumt und zubereitet, sodass es sehr klar rüber-

kommt. Aber das ist ein universelles Wissen über das, was es braucht, um mit Negativität und Schleiern

aufzuräumen. Dieses Wissen ist auch woanders zu finden. Das wollte ich euch mitgeben.

Rezitation

Zum Bereinigen von Negativität durch hörbare Rezitation [von Mantras] – wie zum Beispiel das

Hundert-Silben-Mantra von Vajrasattva - lesen wir in dem von Subāhu erbetenen Sūtra:

„So wie in der Sommerzeit Flammen mit Leichtigkeit einen ganzen Wald verzehren - wie zum

Beispiel in Griechenland, Schweden usw. - verbrennt das Feuer der Rezitation - mit Rezitation ist

hier die gesamte Praxis gemeint, inklusive der vier Kräfte - angefacht vom Wind heilsamen Verhal-

tens, mit den Feuerzungen großer freudiger Ausdauer alle Negativität.

Nehmt das als eine Ermutigung, wie zu praktizieren ist. Wenn wir uns noch belastet fühlen durch

Schleier, Negativität, schädlichem Verhalten von früher, dann entwickeln wir die Kraft der Rezitation-

Meditation, also zum Beispiel die Vajrasattva-Praxis oder einfach tiefe Kontemplation mit den vier

Kräften. Dieses Feuer, das da entsteht, fachen wir an mit heilsamem Verhalten. Das heißt, wir verhalten

uns in dem Bereich und überall total heilsam. Das gibt dem Ganzen noch mehr Kraft.

Und zeigen darin große freudige Ausdauer, denn es wird zu Herausforderungen kommen, wo wir dieses

heilsame Verhalten nicht aufrechterhalten können - und da braucht es freudige Ausdauer. Wenn alles

zusammenkommt, ist klar, dass mit diesen Mustern, mit diesen Schleiern aufgeräumt wird.

So wie Sonnenstrahlen Schnee schmelzen, wird Verzweiflung von unerträglichem Leuchten er-

fasst und der Schnee der Verzweiflung aufgrund schädlichen Handelns wird durch die Sonnen-

strahlen-Rezitation heilsamen Verhaltens aufgelöst.

Der Ausdruck Rezitation umfasst immer die ganze Praxis mit der Mantra-Rezitation.

Man kann völlig frei werden auch von solchen schlimmen Vergehen. Ich war selbst nicht daran beteiligt,

habe aber von Lama Tsony gehört, der einen jungen Mann in Österreich betreut hat. Der hat, als beide

zu viel Alkohol getrunken hatten, im Streit seinen Vater mit der Axt erschlagen und war dafür natürlich

im Gefängnis. Im Gefängnis hat er zum Dharma gefunden und den ersten Kontakt mit Lama Tsony

gehabt, Zuflucht genommen und intensiv zu praktizieren angefangen. Das ist ein Mensch, der - wie viele

andere auch, die ich kenne -, wirklich aufgeräumt hat mit seinen Schleiern. Dafür gibt es viele Beispiele.

Man kann mit allem aufräumen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.68 Milarepa, unser berühmtes Beispiel, hatte viele Menschen, 34 Menschen - ich weiß es nicht genau -

durch Schwarzmagie umgebracht. Er war ein Mörder. Er hatte es bewusst darauf angelegt und hat dann

das alles auflösen können. Das geht, man kann mit allem aufräumen. Ganz zu schweigen von den vielen

Frauen, die praktizieren und heute Dharmalehrerinnen sind, die in der Vergangenheit auch Abtreibungen

hatten und das bereut haben. Das ist keine Dauerbelastung. Nicht, dass jede Abtreibung zu bereuen wäre.

Nein, solche Frauen sind vielfach zu mir gekommen und haben ihren Weg gehen können.

Man kann viel Schädliches gemacht haben, was man bereut. Nichts ist so schlimm, dass es sich nicht

auflösen ließe durch die Praxis. Es braucht uns nichts zu belasten und zu verschleiern. Alles kann sich

auflösen. Da gibt es gar keine Ausnahme.

Ihr wisst von dem Serienmörder Angulimala, der beim Buddha Zuflucht gefunden hat, und viele Men-

schen umgebracht hat. Ich weiß es nicht, ob es stimmt. In dem Sutra steht, dass er 999 Menschen um-

gebracht hat. Der Tausendste wäre seine eigene Mutter gewesen - und da hat sich der Buddha dazwi-

schen gestellt. Da wollte er den Buddha umbringen. Dann ist er Schüler des Buddhas geworden. Dieser

Serienmörder hat noch in demselben Leben vollkommene Verwirklichung erreicht. Es ist alles möglich,

man muss es nur wollen. Da muss dann viel Kraft hineinfließen.

So wie eine kleine Butterlampe tiefe Dunkelheit restlos vertreibt, beseitigt das Licht der Rezitation

im Nu die Dunkelheit schädlicher Handlungen, die in Tausenden von Leben angesammelt wur-

den.“

Es empfiehlt sich, dieses Offenlegen [und Bereinigen mittels der vier Kräfte] häufig zu wiederho-

len, da es aus den vier Gründen – Unwissenheit, emotionaler Aufruhr, Unachtsamkeit und man-

gelnder Respekt – zu plötzlichen Überschreitungen von unseren Versprechen kommt.

Das führt dazu, dass wir die guten Vorsätze, die wir entwickelt haben, nicht so gut umsetzen können,

weil wir manchmal unwissend sind. Wir geraten in Situationen, wo wir gar nicht wissen, was auf uns

zukommt. Wir sind emotional so getriggert, so im Aufruhr, dass wir unsere Vorsätze vergessen und

wieder das alte Muster anspringt. Wir sind unachtsam, das heißt, wir bemerken nicht, was gerade be-

ginnt, was gerade am Laufen ist und schliddern so hinein - und landen vielleicht wieder in mangelndem

Respekt anderen gegenüber, was ein offenes Tor für schädliches Verhalten ist.

In Dharma-Essenz in Versen heißt es - das ist auf Pali der Dhammapada, es gibt aber eine etwas andere

Version im Mahayana:

„Meine nicht, ein kleines bisschen Negativität würde nicht schaden. Sich sammelnde Was-

sertropfen füllen schließlich selbst ein großes Gefäß.“

Jetzt muss ich euch ehrlicherweise sagen, dass wir zwei Tonnen haben, nicht nur eine. Die erste Tonne

war die, wo die Wassertropfen hineinfallen, wo all die positiven und heilsamen Handlungen, Gedanken,

Kräfte usw. sich sammeln.

Jetzt haben wir noch eine zweite Wassertonne. Egal wie unwichtig uns das vorkommt: kleine negative

Handlungen mit Körper, Rede und Geist sammeln auch ihre Kräfte, bauen sich auch auf. Deswegen

sollten wir schauen, dass wir diese Wassertonne schleunigst leeren, sie gar keine Kraft mehr entwickeln

kann, es nicht dazu kommt, dass wir unsere heilsame Praxis ertränken mit einem Wust unaufgeräumter,

negativer, also Ich-bezogener Gedanken, Handlungen usw.

Dafür dient diese Praxis. Deswegen ist es eine Vorbereitung für Mahamudra, dass wir lernen, diese

Tonne mit dem Gift beständig leer zu halten. Jeden Tag, immer wieder, immer dranbleiben. Da darf sich

nichts ansammeln.

Da wir jetzt erst davon hören, dass es diese Möglichkeit gibt, hat sich vielleicht ziemlich viel angesam-

melt. Da braucht es ein Groß-Reinemachen. Dieses Groß-Reinemachen nannte Gendün Rinpoche immer

den ersten Durchgang der vorbereitenden Übungen, wenn wir das zum ersten Mal unsere 111.000 Vajra-

sattva-Mantren sprechen und dabei die vier Kräfte anwenden.

Dann fährt man jeden Tag damit fort, jeden Abend sich anzuschauen: gab es heute irgendetwas, das es

zu bereinigen, aufzulösen gibt? Dann mache ich gleich Vajrasattva-Mantra, lade den Segen ein, Bodhi-

citta, bereue, entscheide mich erneut, entwickle die vier Kräfte - und schließe ich den Tag damit ab.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 69

Das ist fast die letzte Praxis vor dem Einschlafen für die meisten Mahamudra-Praktizierenden. Also

nicht geringschätzen. Es ist keine kleine Sache, wenn man mal schnell etwas entwendet oder ein biss-

chen lügt oder ein bisschen unaufrichtig ist. Es sammelt sich an.

In Gute Verwirklichung lesen wir:

„Bekenne jede Nacht, was du tagsüber achtlos getan hast, und bekenne bei Tag, was du

nachts getan hast – und habe wirklich Freude an gutem Handeln.“

Es macht übrigens Freude, sich das selbst alles einzugestehen. Ihr kennt vielleicht die Freude, euer Zim-

mer aufgeräumt zu haben. Ich weiß nicht, ob es für alle Anwesenden gilt, aber es gibt so eine Freude,

den Garten schön gemacht zu haben, etwas gut sauber bekommen zu haben, einen Topf gut ausgewischt

zu haben und dann ist da nichts mehr zu sehen.

Diese Freude können wir auch mit unserem eigenen Geist haben. Wir können mit einem gut aufgeräum-

ten Geist durch den Tag gehen. Das ist so wunderbar. Dann ist das nicht ein blödes Bereuen und even-

tuell ein Beichten, das wir uns abends und nachts noch aufbrummen, sondern es ist das freudige Sau-

bermachen von dem, was sich leider tagsüber an Staub angesammelt hat. Wir wischen Staub, das ist

alles, was wir tun.

Ihr wisst auch, dass es viel leichter ist, wenn man regelmäßig schnell mal drüber wischt, als alles sich

ansammeln zu lassen - und dann ist die Tonne ganz voll. Man weiß nicht, wie man das Ganze wieder

leert. Das Prinzip ist: täglich nacharbeiten, nachdem wir einmal einen gründlichen Hausputz gemacht

haben - und nicht wieder ansammeln lassen.

Zur Meditation und Rezitation des Vajrasattva steht im Schmuck der Vajra-Essenz:

„Wenn du dir Vajrasattva deutlich auf einem Sitz aus weißem Lotus und Mond vorstellst

und die Hundert Silben einundzwanzigmal wie im Praxistext rezitierst, dann, so heißt es,

werden deine Überschreitungen und Fehler gesegnet und sich nicht mehr ausweiten. Die

höchsten Verwirklichten haben erklärt: Wer dies zwischen den Sitzungen praktiziert und

hunderttausendmal [in den Sitzungen - des Groß-Reinemachens -] rezitiert, wird vollkom-

mene Reinheit verwirklichen.“

Das ist ein wunderschöner Ausdruck, vielleicht ist er euch aufgefallen: ‚Werden deine Überschreitungen

und Fehler gesegnet.‘ Die werden nicht verteufelt. Es werden keine zusätzlichen Schuldgefühle erzeugt,

sondern da, wo wir uns selbst untreu geworden sind aufgrund unserer Schleier und Muster, kommt der

Segen des Bodhicitta hinein, kommt das erwachte Gewahrsein hinein - und bringt Segen in diesen ver-

letzten Bereich, wo wir etwas bereuen, wo wir uneins mit uns sind.

Da fließt Segen hinein und löst das auf - so vollständig, dass wir tatsächlich in das non-duale Gewahrsein

eintreten können. Das ist echter Segen. Dann ist der Auslöser, das Bereuen von etwas Negativem, das

Eingestehen, Offenlegen zum Anlass geworden für eine tiefe Praxis, die uns direkt mit der Erfahrung

des Erwachens verbindet.

Das ist Segen. So werden die Fehler gesegnet. Sie entpuppen sich als Brücken ins erwachte Gewahrsein.

Das ist deutlich anders als das, was uns in einer dogmatischen Religion begegnet. Jeder kann es zu

Hause machen. Man braucht nicht zu einem Lama oder einem Priester zu gehen. Man nimmt es selbst

in die Hand. Wir können selbst den Kontakt mit Vajrasattva eingehen. Vajrasattva heißt ‚unzerstörbares

Wesen‘. Das ist die ursprüngliche Reinheit unseres Geistes.

Das war der vierte Abschnitt zu den vorbereitenden Übungen.

Fragen

Teilnehmer/-in: Du hast wiederholt das Mantra erwähnt als Teil dieser Praxis. Ich habe den Eindruck,

dass die Praxis auch ohne das Mantra sehr kraftvoll ist und würde gerne wissen, welche Bewandtnis es

mit dem Mantra selbst hat. Was fügt das Mantra noch hinzu, wenn ich es rezitiere?

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.70 Das Manta stabilisiert uns in der freudvollen Dimension, mit dem erwachten Gewahrsein eine solch

intime Verbindung einzugehen. Es stabilisiert uns in den Zeiten zwischendrin, wo der Geist sonst ab-

schweifen würde.

Im Alltag oder während der Praxis zwischendrin?

Während der Praxis zwischendrin, weil für solch einen intensiven Prozess hat man vielleicht mal eine

halbe Stunde Energie, aber mit der Vajrasattva-Praxis, dank des Mantras, kannst du Stunden, Tage,

Wochen und Monate intensiv damit verbringen, aufzuräumen. Das geht so weit, dass man damit jede

dualistische Regung, die im Geist auftaucht, direkt in den Segen hineinbringen kann.

Es macht einen großen Unterschied, würde ich sagen. Es geht auch ohne, aber es ist schon eine große

Hilfe. Es ist schon wirklich wunderbar. Ich werde das jetzt nicht unterrichten, aber natürlich gibt es die

Möglichkeit, das zu lernen.

Teilnehmer/-in: Muss es Vajrasattva sein und weißes Licht oder kann ich es in der Grünen Tara Sad-

hana bei den sieben Zweigen, bei Bekennen und Bereuen und mit grünem Licht machen?

Ja, natürlich. Das hätte ich noch erwähnen können. Ihr könnt diese Prinzipien der Vajrasattva-Praxis bei

jeder anderen Meditationsgottheit, jedem anderen Buddha-Aspekt, anwenden. Zum Beispiel in der Tara-

Praxis mit Tara in diese Reinigungspraxis gehen und grünes Licht - Tara strahlt eigentlich regenbogen-

farbiges Licht aus, kein grünes Licht – also alle Farben visualisieren. Das Gleiche könnt ihr mit Chen-

resig machen, Avalokiteshvara, oder Medizin-Buddha, oder was ihr noch kennt.

Teilnehmer/-in: Heiko hat heute Morgen auf die fünf Aggregate hingewiesen. Was sind diese?

Heiko hat euch das nicht ausführlicher erklären wollen. Er hat nur auf das Leid hingewiesen, das ent-

steht, wenn wir uns mit den fünf Aggregaten identifizieren.

Ich zähle sie kurz auf. Die erste Identifikationsgrundlage sind unsere Wahrnehmungen von Formen. Das

bedeutet, sich mit dem Körper zu identifizieren, Körperempfindungen, Klangformen, visuellen Formen,

Geschmäckern, Gerüchen. Je nachdem, welcher Tradition wir folgen, werden sogar Gedanken als Form-

wahrnehmung beschrieben. Was wir wahrnehmen. Die Grundlage unseres Erlebens ist die erste Bastion

unserer Ich-Bezogenheit. Meine Wahrnehmung, mein Körper, meine visuellen Wahrnehmungen, meine

Geruchsempfindung, meine Hörwahrnehmung.

Die zweite nennt man Empfindungen. Damit ist gemeint, was ich mag und was ich nicht mag, angenehm,

unangenehm oder was mir egal ist. Also eigentlich die Identifikation mit meinen Präferenzen. Ich habe

gerne diese Farbe, ich habe gerne diese Klänge, die Art von Empfindung im Körper mag ich, das mag

ich nicht, die Art Kleidung mag ich, das ist nicht mein Stil usw. In allen Bereichen, auch im Gedankli-

chen, Geistigen: die Art von Gedanken mag ich, die anderen Gedanken mag ich nicht.

Damit geht eine starke Identifikation einher. Ich bin diejenige, derjenige, der das mag und das nicht

mag. Das seht ihr auf Facebook: das mag ich, das mag ich nicht. Das ist das Profil. Das ist die zweite

Bastion der Ich-Bezogenheit.

Die dritte Bastion ist das, was wir Unterscheiden nennen. Das sind die Prozesse, die eine Erfahrung von

einer anderen unterscheiden und benennen können. Dazu gehört die Identifikation mit all unserem Wis-

sen: alles was ich weiß und mit meinem Wissen unterscheiden kann. Es gehört die Identifikation mit

unserer Erfahrung dazu: ich habe das erfahren; wie es ist, das und das zu machen; das ist anders, als das

zu machen. Ich habe Erfahrung, wie dieser Wein schmeckt und wie der andere Wein schmeckt.

Das verbindet sich mit den Präferenzen und ist meine Fähigkeit, ganz fein zu unterscheiden. Es ist eine

andere große Bastion der Ich-Bezogenheit. Ich bin das, was ich weiß, was ich erfahren habe und unter-

scheiden kann.

Die vierte Bastion der Ich-Bezogenheit ist das Gestalten. Gestalten ist der Prozess, worauf wir unsere

Aufmerksamkeit richten. Euch ist vielleicht bewusst, dass sich unser Leben da gestaltet, wo unsere Auf-

merksamkeit hingeht. Wo das höchste Interesse ist, finden die weiteren wichtigen Prozesse statt.

Das erste also, was im Gestalten eine Rolle spielt ist, wohin die Aufmerksamkeit geht. Dort, in dem

Bereich, wo die Aufmerksamkeit ist, finden unsere emotionalen Reaktionen statt. Es kann auch sein,

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 71

dass wir nicht nur emotional gestalten, sondern auf heilsame Art und Weise gestalten. Wir haben beim

Gestalten Wahlmöglichkeiten.

Das ist die weitere Bastion der Ich-Bezogenheit: ich bin derjenige, diejenige, die ihr Leben so und so

lebt, so gestaltet und das will und das vorhat. Diese Emotionen machen mich aus. Jedes Mal ist eine

Identifikation mit im Spiel.

Unglaublich. Wir identifizieren uns mit dem, wo unsere Aufmerksamkeit hingeht, was wir für wichtig

halten und wie wir emotional damit umgehen, ob heilsam oder nicht heilsam. Das hat große Auswir-

kungen, aber der Prozess des Gestaltens ist immer derselbe. Ich gestalte aufgrund von Ärger und Be-

gierde oder ich gestalte aufgrund von Mitgefühl und Liebe. Aber das ist genau das, womit ich mich

identifiziere.

Das Resultat davon ist das fünfte Skandha, das fünfte Aggregat: Bewusstseinszustände. In jedem Au-

genblick erleben wir wandelnde Bewusstseinszustände und damit sind wir identifiziert. Ich bin das, was

ich jetzt gerade erlebe. Was jetzt mein Bewusstsein ist, das bin ich. Das ist natürlich Quatsch, aber genau

das ist die subtilste Form der Ich-Identifikation: ich bin immer gerade das, was ich gerade denke, sehe,

rieche, höre usw. Ich bin diese ständig wechselnden Bewusstseinszustände aus den sechs Sinnesfeldern.

Was Heiko heute Morgen angesprochen hat ist, dass durch diese Identifikation mit diesen fünf Prozessen

des Wahrnehmens, Empfindens, Unterscheidens, Gestaltens und Bewusstseins viel Leid entsteht, viel

Stress, viel Spannung mit der Wirklichkeit. Denn diese Prozesse gehören niemandem, eigentlich ist da

gar kein Ich.

Teilnehmer: Ich habe eine Frage zum Thema Unbeständigkeit. Wenn ich das meditiere, funktioniert es

gut. Wenn ich mir Naturprozesse vorstelle, kommt auch Freude. Ich kann es auch einigermaßen mit

Gefühlen, wahrscheinlich nur mit bestimmten Gefühlen. Dann kommt bei bestimmten Themen wie Be-

ziehung, bei politischen Vorgängen, die sich vom Positiven zum Negativen verändern, oft so ein Gefühl

von Vergeblichkeit oder Sinnlosigkeit. Wenn das alles vorübergeht und sowieso nichts bleibt, was soll

das dann alles? Da kommt dieser Wunsch nach Nicht-Existenz.

Das kommt dann aus der totalen Frustration. Wenn das alles nichts bringt, dann steige ich auch aus,

dann will ich auch nicht mehr sein. Dieses Gefühl der Frustration angesichts der unbeständigen Natur

auch heilsamer Dinge, politischer Situationen und anderer guter Situationen im Leben teilen wahr-

scheinlich viele Menschen mit dir.

Als Dharmapraktizierende, wenn uns diese Unbeständigkeit klar wird, sagen wir uns: ich richte meine

kostbare Kraft auf das aus, was beständig ist, was über dieses Leben hinaus bleibt, was echt Sinn macht.

Das muss als erstes kommen. Was die längsten Auswirkungen hat, darum muss ich mich als erstes

kümmern.

Denn das andere ist oft ein Kräfteverschleiß. Dann haben wir uns noch nicht um das Wichtigste geküm-

mert, haben aber viel am Leben herumgebastelt. Wir brauchen deswegen nicht auszusteigen, sondern es

geht um ein besseres Gestalten. Es geht darum, dass die Kräfte besser eingesetzt werden.

Ihr werdet euch vielleicht fragen, was denn das Beständige ist. Was uns im Sterbeprozess begleitet, ist

das, was individuell die höchste Priorität hat. Wir schauen, dass wir gut vorbereitet sind auf diesen

Übergang, in der Tiefe aufgeräumt sind und so viel Gewahrsein haben, dass uns dieser Übergang, wo

sich der Geist vom Körper löst und weitergeht, überhaupt keine Mühe mehr macht. Das ist das Aller-

wichtigste.

Darin ist das Beständige die Natur des Geistes. Das nennen wir das Verständnis der dynamischen, nicht

fassbaren, klaren, leuchtenden Natur des Geistes. Dieses Verständnis versetzt uns in die Lage, mit allen

Situationen umzugehen und nirgendwo ins Greifen zu kommen.

Befreiung, Erwachen, das braucht es, um mit allen Situationen umzugehen, in allem frei zu bleiben. Frei

vom Greifen nach dem Nicht-Greifbaren, nach dem Nicht-Fassbaren, frei von Illusion, nicht zu meinen,

da wäre etwas Fassbares. Glück lässt sich nicht fassen. Gegen Leid braucht nicht angekämpft zu werden.

Es hat keine Substanz.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.72 Das ist wichtig und das ist beständig. Das sind beständige - man kann sagen - Geistesgesetze, analog zu

Naturgesetzen. Das sind die Naturgesetze des Geistes. Diese verwirklicht zu haben, ermöglicht uns, mit

allen Situationen umzugehen und sie sinnvoll zu gestalten.

Das ist die große Chance unseres jetzigen Lebens, das in diesem Leben verwirklichen zu können. Wäh-

renddessen kümmern wir uns auch um vieles andere.

Wir sind auch politisch aktiv. Wir sollen nicht einfach aufhören, aber wir müssen wissen, dass politi-

scher Aktivität eine Sisyphusarbeit ist: immer wieder aufgebaut und wieder zerstört, wieder aufgebaut,

dann kommt wieder ein Krieg, dann haben wir wiederaufgebaut – Geschichte halt.

Aber es lohnt sich trotzdem, das zu machen. Nur sollten wir es machen mit dem Verständnis, dass wir

versuchen, die Ich-bezogenen Muster der Menschen einzudämmen, durch gute rechtliche, soziale, poli-

tische Bedingungen das Ausmaß des Schreckens zu verringern und den heilsamen Qualitäten einen

Raum zu geben, sich zu entfalten in diesem geschützten Rahmen.

Wir brauchen diesen geschützten Rahmen, das ist alles ganz wichtig. Der Rahmen, in dem so eine Ver-

sammlung wie hier überhaupt stattfinden kann.

Aber nichts vom dem ist beständig. Da brauchen bloß ein paar blöde Leute daher zu kommen und andere

hinter sich zu scharen - und schon ist das Ganze wieder in Gefahr.

Die Geisteshaltung bei Dharmaunterweisungen

Zu Beginn aller Dharmaunterweisungen empfiehlt es sich, die Motivation zu entwickeln, mit der wir

diese Unterweisungen aufnehmen. Das machen wir mit den Vorgebeten. Die Essenz davon ist, mit

Bodhicitta zuzuhören, mit dem Wunsch, dass das, was mir an Erkenntnissen aus dieser Unterweisung

entsteht, dem Wohl aller Lebewesen, und jetzt natürlich vor allem dem Wohl aller Menschen dienen

wird, denen ich begegne.

Das ist eine wunderbare Geisteshaltung, um aufmerksam zuzuhören. Sie bewirkt, dass wir nicht nur

hinhören mit dem Ohr: was interessiert mich, was ist für mich wichtig, was habe ich Lust zu hören?

Sondern vielleicht auch mit dem anderen Ohr: was könnte für andere wichtig sein, was könnte anderen

dienlich sein? Ich lerne den Dharma ja nicht nur für mich.

Vieles im Dharma ist zunächst gar nicht jetzt sofort so wichtig für mich, sondern wird vielleicht später

für mich wichtig, kann aber jetzt schon für jemanden wichtig sein, dem ich begegne und dem ich das

weitergeben kann.

Mit Bodhicitta zuzuhören ist so, als ob wir eine Ausbildung machen, die nicht dazu gedacht ist, uns

selbst zu dienen, sondern in der wir uns ausbilden, um anderen zu dienen. Dafür lernen wir den Dharma.

Eigentlich lernen wir ihn für uns selbst und für andere. Das nennt man die beiden Nutzen, den eigenen

Nutzen und den Nutzen anderer.

Mit dieser Geisteshaltung sind wir offener zu empfangen, auch wenn der Geist schon etwas müde ist,

und wir denken uns: wer weiß, für was das alles noch gut ist. Ich höre mal genau hin, die werden schon

wissen, warum sie das unterrichten. Da steckt viel Erfahrung dahinter.

5. Guru-Yoga, um in den Segen hineinzufinden

Wir kommen jetzt auf Seite 10 zum fünften und letzten Punkt der Vorbereitungen:

5. Guru-Yoga, um in den Segen hineinzufinden

Dagpo Tashi Namgyal schreibt:

Die eigentliche Wurzel, um diesen zutiefst sinnvollen Weg der Befreiung gehen zu können, ist,

einem Guru zu folgen – dies findet sich in allen Sūtras und Tantras.

Ich möchte erklären, was ein Guru ist: das tibetische Wort heißt Lama, auf Sanskrit Guru. Das Wort

Guru kommt offenbar von einer Sanskrit-Wurzel, die so viel heißt wie: gewichtig, jemand, der schwer

ist, schwer wiegt, der starken Segen hat oder dessen Worte gewichtig sind, die Gewicht haben - und es

wäre gut, sich die zu Herzen zu nehmen. Das ist die Wurzel des Wortes Guru: jemand mit Gewicht.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 73

Lama auf Tibetisch bedeutet etwas ganz anderes. Lama kommt von lana-mepai ma, was „die unüber-

treffliche Mutter“ bedeutet. Denn ein Lama kümmert sich wie eine Mutter um alle, die zu ihm oder ihr

kommen. Deswegen auch unübertrefflich, weil uneingeschränkt; weil diese Mutter das weitergibt, was

ins vollkommene Erwachen führt, sich also nicht nur um die äußeren Belange kümmert, sondern um die

wichtigsten, innersten Belange, die weit über dieses Leben hinausgehen. Deswegen wird von unüber-

trefflicher Mutter gesprochen.

Es ist vielleicht gut, sich diese beiden Bedeutungen in Erinnerung zu rufen. Wir sprechen in der tibeti-

schen Tradition vom äußeren Lama und vom inneren Lama.

Der äußere Lama, der äußere Lehrer, unterrichtet uns und hat als zentrale Aufgabe, den inneren Lama

in uns zu wecken. Der innere Lama ist geweckt, ist erwacht, wenn wir eine stabile Kenntnis, eine stabile

Verwirklichung der Natur des Geistes haben. Dann kennen wir den Dharma von innen, wir wissen,

worum es geht. Dann können wir alleine weitergehen.

Die Aufgabe ist wie bei einer Mutter. Die Aufgabe einer Mutter ist es, die Kinder so weit zu bringen,

dass sie allein durchs Leben gehen können. So ist es auch mit dem Lama. Die Aufgabe des Lamas ist

es, die Schüler so weit zu bringen, dass sie den Weg ohne ihn weitergehen können.

Zum Beispiel hat Milarepa seinen Hauptschüler Gampopa nach eineinhalb oder zwei Jahren wegge-

schickt und gesagt: du hast alles entfaltet und alles erhalten, was du brauchst. Du kannst jetzt den Weg

alleine weitergehen, geh, praktiziere und ich bin sicher, du wirst das vollkommene Erwachen verwirk-

lichen - was dann tatsächlich auch so war. Du kannst beginnen an dem und dem Ort, einige Schüler zu

unterrichten, bleib noch eine Weile im Retreat, bevor die große Aktivität anfängt.

Gampopa hat Milarepa Zeit seines Lebens nicht mehr gesehen. Er ist dann erst wiedergekommen, als

Milarepa gestorben war und die Kremation stattfand. Sie haben beide in Tibet noch gut zehn Jahre ge-

lebt, ohne dass zwischen den beiden ein weiterer Kontakt stattfand, weil Gampopa schon flügge war. Es

war nicht nötig, ihn noch weiter sozusagen an der Kandare zu halten oder noch weiter zu unterweisen.

Geh, mach!

Gampopa war in der Aktivität, hatte viel zu tun, hatte unglaublich viele Schüler. Nur um euch eine

sichere Zahl zu geben: er hat 54000 Mönche ordiniert. Eine unglaubliche Aktivität, ganz zu schweigen

von den vielen Laienpraktizierenden. Er hat weit über 500 stabil verwirklichte Schüler gehabt, also er-

leuchtete Schüler - und hatte einen Koch, Baram Darma Wangtschug.

Der Koch kümmerte sich um alles, was Gampopa in seiner Höhle brauchte. Er hatte eine große Höhle,

in der er auch Menschen empfangen konnte. Aber er lebte nie im Kloster, obwohl er viele Klöster ge-

gründet hat.

Irgendwann sagt Gampopa zu seinem Koch Dharma Wangtschug: jetzt geh und unterrichte. Was, sagte

der Koch, ich? Ich habe doch nie Retreat gemacht, nie praktiziert. Gampopa sagte zu ihm: du hast alles

verstanden. Geh in die und die Richtung und beginne, Schüler zu unterrichten. Du brauchst mich nicht

mehr. Und er schickte ihn fort.

Das war der Begründer der Baram Kagyü Linie, Baram Dharma Wangtschug, der Koch von Gampopa.

Das ist ausgerechnet die Linie, aus der Gendün Rinpoche stammt. Wir stammen aus dieser Linie, die

mit dem Koch Gampopas angefangen hat - und deswegen sind Köche bei uns ganz besonders geschätzt.

Dabei denke ich an Natascha und Sophie, die hier für uns kochen und danke ihnen. Es ist nicht unbedingt

so, dass man immer im Retreat sein muss und immer da sein muss. Man muss sich die Dinge nur zu

Herzen nehmen und wirklich anwenden. So viel zum Thema Guru und Schüler.

Die Aufgabe des äußeren Gurus ist also, den inneren Guru zu wecken. Wenn der stabil und verlässlich

ist, gibt es keine weitere Abhängigkeit mehr, dann wird man in die Aktivität entlassen.

Aber zunächst einmal muss man einem Guru folgen, einem Lehrer folgen. Das findet sich in allen Sutras

und Tantras.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.74

Die Bedeutung des Segens

Sie beschreiben unter anderem die Merkmale authentischer Gurus - Lehrer -, die Art, ihnen zu

folgen, die Notwendigkeit, sich auf sie zu verlassen, und den vielfältigen Nutzen, der daraus ent-

steht. Besonders die tantrischen Texte erklären ausführlich, dass die Beziehung zu einem Meister

die Quelle der Verwirklichung ist und dass es Disziplin braucht, ihm oder ihr zu folgen. Die [Ka-

gyü-] Praxislinie - in der ich unterrichte -, auch „Weg des Segens“ genannt, betont besonders, wie

sehr es vom Segen des Lamas abhängt, dass Meditation entsteht, wo sie noch nicht entstanden ist,

und dass sie sich dann dank seines Segens weiter vertieft. Aus diesem Grund empfiehlt sie - die

Praxislinie -, intensiv Guru Yoga zu praktizieren.

Die einfachste Erfahrung von Segen ist, in Gegenwart eines Lehrers, einer Lehrerin zu meditieren und

zu erfahren, dass das viel leichter geht als zuhause, sich unser Geist wie von selbst öffnet. Das kann man

bei großen Lehrern relativ leicht erfahren. Da ist wie ein Feld, in dem es leichtfällt, sich zu öffnen.

Das hängt damit zusammen, dass wir irgendwie inspiriert werden, uns etwas berührt, wir in Vertrauen

hineinfinden und unser Geist sich öffnet und entspannt. Manchmal ist es so: wir kommen voller Fragen

zum Lehrer, zum Guru, und kaum sind wir in seiner Gegenwart, sind alle Fragen weg. Nicht nur, weil

wir aufgeregt sind, sondern weil sich unser Geist so entspannt und wir können gar nicht mehr verstehen,

wie wir so viele Fragen haben konnten.

Es gibt viele solcher Phänomene und wir können das zu Hause nutzen, in dem wir Guru-Yoga prakti-

zieren, also ganz bewusst uns auf Lehrer ausrichten, einen Lehrer, eine Lehrerin, wo uns das besonders

gut tut. Da empfiehlt es sich durchaus, bereits verstorbene Lehrer zu nehmen, wie Buddha selbst oder

andere Meister, Meisterinnen der Übertragungslinie.

Ich erwähne jetzt oft Milarepa. Es könnte genauso gut Gampopa oder Karmapa sein, Yeshe Tsogyal,

die Gefährtin von Guru Rinpoche oder Guru Rinpoche selbst, es könnte Machik Labdrön sein, die Be-

gründerin des Chöd usw.

Wo für uns die größte Inspiration spürbar ist, öffnet sich ein Tor des Segens. Da können wir über Gebete

unser Herz öffnen, wie in einen inneren Dialog treten und schließlich den Guru mit uns verschmelzen

lassen. Dann meditieren wir weiter in dieser Herzensöffnung. Wenn wir wieder aufgewühlt sind, wenn

der Geist wieder ins Haften geht, dann beten wir wieder. Wir beten voller Hingabe, mit großer Intensität,

bis wir wieder das Gefühl haben: jetzt ist es Zeit, den Meister, die Meisterin, wieder mit uns verschmel-

zen zu lassen - und dann ruhen wir wieder in der Untrennbarkeit des eigenen Geistes und des Geistes

des Gurus.

Das ist die Essenz des Guru-Yoga: immer wieder über Hingabe und Vertrauen in die Inspiration gehen,

in den Segen. Dann darin ruhen, weil das völlig anstrengungslos ist und bevor wir uns wieder zu sehr

verstricken, wieder beten, wieder Hingabe entwickeln.

Hier in unserem Kommentar heißt es dann:

In der Preisung der Namen Mañjuśrīs lesen wir:

„Vortrefflicher Guru, Du bist der Gaben würdig, der Preisungen würdig, der kontinuierli-

chen Verehrung würdig, des Respektes würdig, höchster Ehre würdig und der Verbeugun-

gen würdig.“

Anderen Ortes heißt es:

„Des Gurus Körper vereint alle Buddhas, seine wahre Natur ist Vajradhara, er ist die Wur-

zel der drei Juwelen – vor dem Guru verbeuge ich mich.“

So [Guru Yoga] zu praktizieren ist notwendig, um die relativen Verwirklichungen - die verschie-

denen Fähigkeiten - und auch die letztendliche Verwirklichung zu erlangen.

Bhavideva sagt:

„- Buddha - Vajradhara sagt, dass der Grund [für Guru Yoga] ist, dass Verwirklichung auf

dem Meister beruht.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 75

Verbeuge dich vor den lotusgleichen Füßen des Gurus, weil durch ihn das Sein des segens-

reichen Vajrasattva verwirklicht wird“ - Buddha Vajrasattva, die Natur des Geistes -.

Wie wir auf den Guru meditieren, beschreibt der Schmuck der Vajra-Essenz:

„Schüler, die den Guru kontinuierlich verehren, sehen ihn so: Der Guru ist allen Buddhas

gleich – er ist stets Vajradhara.“

Das sind Zitate aus dem Vajrayana, dem tantrischen Buddhismus.

Ihr braucht das nicht alles so einzuhalten. Diese Übertragung wird gegeben, ohne allzu sehr die

tantrischen Elemente einzubauen.

Aber wenn ihr das wollt, dann ist es so: wir haben offensichtlich nicht die Gelegenheit gehabt,

dem Buddha selbst zu begegnen oder einem ähnlichen Meister wie ihm, einem vollkommen Er-

wachten. Trotzdem empfangen wir den Dharma und wir empfangen ihn auf authentische Weise.

Wir können uns in dieser Situation der Übertragung den Lehrer, die Lehrerin als Buddha vorstel-

len und darauf meditieren, dass die Worte, die jetzt gesprochen werden, direkt aus dem Mund

eines Buddha kommen.

Das bedeutet nicht, dass wir den Lehrer mit einem Buddha verwechseln, sondern dass wir sagen:

eigentlich ist der ganze Segen der Übertragungslinie jetzt präsent und es ist so, als würde der

Buddha persönlich sprechen. Es ist der Buddha, der mich jetzt unterrichtet.

Das öffnet unseren Geist noch mehr und gibt uns das Gefühl, nichts zu verpassen, wirklich in der

unmittelbaren Nähe des Buddhas zu sein und seine Unterweisungen zu bekommen. Das macht es

möglich, jetzt denselben Segen zu erfahren wie in Gegenwart des Buddhas.

Im Vajra-Dom heißt es:

„Der, den wir Vajrasattva nennen, nimmt die Form des Meisters an - als würde der Buddha

die Form des Lehrers annehmen, quasi hineinschlüpfen oder sich vorübergehend als dieser Lehrer

manifestieren -. Da ihm das Wohl der Lebewesen am Herzen liegt, weilt er in gewöhnlicher

Form.“

Das bedeutet: wenn wir Vajrasattva begegneten, dieser Lichtgestalt, und er uns unterrichtete: vermutlich

könnten wir ihn gar nicht verstehen. Aus Mitgefühl für uns schlüpft er in eine normale Form und spricht

in einer Sprache unserer eigenen Kultur, sodass wir es besser verstehen können.

Damit sind wir in einem Guru-Yoga, wo wir jeweils denjenigen, diejenige, die den Dharma überträgt,

als Ausstrahlung der Buddhas betrachten - obwohl er, sie das in Wirklichkeit gar nicht ist.

Es geht nicht darum, das für absolute Wirklichkeit zu halten, sondern was jetzt authentisch gelehrt wird,

kommt sozusagen durch die verlängerte Manifestation des Buddha hier zu uns auf eine Art und Weise,

dass wir es verstehen können. Und das öffnet uns.

Natürlich wird uns auffallen, dass hier und da der Lehrende, die Lehrende nicht ganz wie ein Buddha

ist, das Menschliche sehr deutlich spürbar ist - und doch ist der Segen der Übertragung da. Um den geht

es uns ja. Wir halten uns gar nicht auf mit den menschlichen Attributen, den Unvollkommenheiten des

Unterrichtenden, sondern gehen mit unserer Guru-Yoga-Antenne direkt in den Kanal der Übertragung,

der da spürbar wird, der sich uns öffnet und haben dadurch einen leichten Zugang.

Manchmal fragt ihr euch vielleicht, wie ich das als der Mensch Tilmann mache, solche Texte zu über-

setzen und zu lehren. Der erste dieser Texte, den ich übersetzen sollte, war das Buch von Gampopa Der

kostbare Schmuck der Befreiung. Ein Text, den Gendün Rinpoche mir in die Hand drückte und mir

auftrug, ohne dass ich mich weigern durfte - was ich zwar versuchte, aber es ging nicht: mach das mal,

du verstehst das schon. Ich hatte noch nie so einen langen Text gelesen. Ich hatte noch gar nicht richtig

Tibetisch gelernt. Er sagte: du machst das, keine Widerrede.

Dann blieb mir nur Guru-Yoga. Das heißt, meine einzige Chance war, auf Gampopa zu meditieren, den

Autor, und mir vorzustellen, dass Gampopa mir selbst persönlich den Text erklärt. Das hat wunderbar

funktioniert. Das war für mich die Entdeckung, was Linie und Guru-Yoga wirklich bedeuten.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.76 Wir können uns mit der Kraft des Herzens, zum Beispiel mit dem Autor dieses Textes verbinden, ohne

ihn zu kennen. Dakpo Tashi Namgyal, wir wissen nichts über ihn, ganz wenig. Wir beten einfach: bitte

zeig uns, was wirklich mit diesem Text gemeint ist. Bitte enthülle uns die schwierigen Passagen. Wenn

wir aufrichtig beten, immer wieder beten, dranbleiben und offenbleiben, dann enthüllt sich uns nach und

nach der Sinn jeder Passage.

Das ist Verbundensein mit der Linie. Das ist der Segen, der fließt. Wir können in die alten Texte des

Buddha, den wir nie getroffen haben, in die Lehrreden - ob nun die übersetzten Pali-Kanon oder die

Sanskrit-Texte - direkt eintauchen, als würden wir den Buddha persönlich hören. Und wir können intu-

itiv, ganz innen, genau verstehen, was gemeint ist.

Das ist mit Guru-Yoga gemeint. Es ist ganz praktisch: uns nicht ablenken zu lassen von den vermeintli-

chen ganz menschlichen Schwierigkeiten. Zum Beispiel, dass ein Text nicht ganz perfekt übersetzt ist.

Das alles können wir durch Gebet und Hingabe ausgleichen und direkt in die Übertragung des Segens

hineinfinden, bis immer klarere Ahnungen und ein Wissen darüber entstehen, was wirklich gemeint ist.

Dazu braucht es natürlich auch viel Meditation, braucht vollkommenen Herzenseinsatz. Das muss uns

wirklich ein Herzensanliegen sein. Es muss zu einer Sache des ganzen Menschen werden. Es genügt

nicht, fünf Minuten auszuprobieren, zu testen. So funktioniert das nicht. Sondern wirklich mit Hingabe

und Öffnung. Das ist mit Guru-Yoga gemeint. Da kommt der Segen der ganzen Linie, all dieser Meister

zu uns. Da spielt es gar keine Rolle mehr, bei welchem Text, bei welchem Meister wir ansetzen.

Auch Bhavideva sagt:

„Betrachtet euren Guru als nicht verschieden von Vajradhara.“

Wie wir auf den Guru als die zusammengefasste Essenz aller Buddhas meditieren, beschreibt das

Vajraḍākinī-Tantra:

„Sein Körper - der Körper des Guru - hat das Wesen aller Buddhas, seine Glieder sind die

Bodhisattvas, seine Haare sind die Arhats - die großen Verwirklichten -, sein Scheitel sind die

Buddhas der fünf Familien, sein Podest sind die Lebewesen dieser Welt - die ihn tragen, die

seine Unterweisung möchten -, das von ihm ausstrahlende Licht sind Reichtumsgötter - die

den inneren Reichtum in uns wecken - wie Guhyayakṣa. Yogis - also echte Praktizierende -

sehen seinen Körper als Ausdruck dieser Qualitäten.“

Wenn ihr das aufmerksam lest, wird ganz klar, dass es jetzt nicht darum geht, konkret existierende Qua-

litäten eines spezifischen Gurus zu beschreiben, sondern das, was in symbolischer Form, in übertragener

Form spürbar wird. Es ist klar, dass die Glieder des Gurus nicht aus Bodhisattvas bestehen.

Gemeint ist, dass in den Zeiten, wo ein Lehrer, eine Lehrerin mit Bodhicitta gefüllt ist und in der Erfah-

rung der Natur des Geistes weilt, jede Fingerbewegung, jede Armbewegung, jede Beinbewegung Aus-

druck des Bodhicitta ist. So findet Bodhisattva-Aktivität statt.

Darauf meditiert man, denn das ist es, was uns interessiert. Das möchten wir lernen. Wir möchten uns

von dem Segen erfüllen lassen und merken: das vom Guru ausstrahlende Licht ist das Licht der erwach-

ten Qualitäten. Es ist ein unaufhörlicher Reichtum, der zu uns fließt. Wir können uns dem öffnen und

kommen da mit der eigenen Geistesnatur in Kontakt.

Da auch der Wurzel-Kommentar zum Tantra Vier Vajra-Sitze es ähnlich erklärt, scheint es ange-

bracht, die Praxis auf diese Weise zu verstehen und auszuführen. - Warum es notwendig ist, auf

den Guru zu meditieren, erklärt Meister Ṥantipa: Wir finden dadurch in ein gleich starkes Ver-

trauen zu - Buddha - Vajradhara wie in den Guru, der Vajradhara-Stolz wird stabilisiert, wir

erwerben relativ leicht die Ansammlungen und verwirklichen schnell den Sinn der Praxis.

Wenn wir in unserem Guru-Yoga den als Lichtgestalt vorgestellten Meister in uns verschmelzen lassen

und die Untrennbarkeit des eigenen Geistes und des Geistes des Guru erfahren, nennt man das das Auf-

keimen von Vajradhara-Stolz. Da wird Stolz in gesundem Sinne verwendet als das gesunde Selbstbe-

wusstsein, zu spüren, dass der eigene Geist und der Geist aller Buddhas keineswegs verschieden sind,

sie von gleicher Natur sind. Das ist für alle Lebewesen so.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 77

Dann lassen wir den Geist darin ruhen und haben einen ganz leichten Zugang zu Mahamudra. Das ist

Mahamudra: den Geist in seiner wahren Natur ruhen zu lassen. Diese wahre Natur wird stimuliert durch

die Kontemplation der Qualitäten des Gurus.

Zum Beispiel sehe ich gerade Guru Padmasambhava, Guru Rinpoche vor mir, den Begründer der

Nyingma-Linie; derjenige, der als erster den Dharma nach Tibet gebracht hat. Diese Qualitäten zu spü-

ren, zu kontemplieren, lässt die eigenen identischen Qualitäten in Schwingung kommen.

Ihr wisst, dass man Qualitäten im anderen nur sehen kann, weil sie im eigenen Geist sind. Wir können

im anderen nichts wahrnehmen, was nicht auch in uns ist. Wir können die Liebe im anderen nicht spüren,

es sei denn, wir kennen Liebe, wir wissen, wie sich Liebe anfühlt. Wir können die Freigebigkeit oder

das Vertrauen im anderen nur spüren, wenn wir wissen, wie sich Vertrauen und Freigebigkeit anfühlen.

Genauso können wir die Qualitäten des Erwachens im Guru-Yoga nur spüren und kontemplieren, weil

sie bereits in uns sind. Alles, was wir vermeintlich im Außen wahrnehmen, ist in unserem eigenen Sein

schon angelegt.

Damit arbeitet die Praxis des Guru-Yoga, dass wir in der Kontemplation der Qualitäten von jemandem

wie Buddha Shakyamuni oder einem anderen Meister oder Heiligen diese Qualitäten kontemplieren, sie

auf uns wirken lassen, spüren, was das mit uns macht - und schließlich das vermeintlich Äußere in uns

aufnehmen und die Untrennbarkeit spüren von dem, was wir vorher außen wahrgenommen haben und

von dem, was wir jetzt innen wahrnehmen.

Es war nie getrennt. Wir konnten außen nur das wahrnehmen, was ohnehin schon in uns war.

Es ist ein ganz tiefes Verständnis des Geistes, das im Guru-Yoga zum Ausdruck kommt. Was wir je in

Gott, in Christus, in Buddha oder in sonst irgendeine große Person oder Dimension hineinprojiziert

haben: es ist alles der eigene Geist. Auf eine gute Art und Weise.

Es ist nicht nur die Projektion unserer Bedürfnisse, sondern es ist das Wahrnehmen der Qualitäten, die

in uns schon ein wenig aktiv sind. Sonst wäre es nicht möglich, sie im anderen wahrzunehmen.

Im deutschen Text sind wir auf Seite 11, am Ende des zweiten Absatzes.

Die reine Gabe an den Guru

Jetzt geht es um die Gaben, die wir dem Guru darbringen können - was wir heute Morgen auch schon

besprochen haben.

Zum Nutzen der Gaben, die speziell dem Guru dargebracht werden, sagen die Fünf Stufen:

„Nachdem wir alle Opferungen aufgegeben haben, widmen wir uns der reinen Gabe an den

Guru. Wer ihn erfreut, verwirklicht das höchste, allbewusste, zeitlose Gewahrsein.“

Den Guru erfreuen wir nur durch unsere eigene Praxis, indem wir uns zu Herzen nehmen und

ausprobieren, was uns unterrichtet wird und wir dann mit unserer Erfahrung kommen. Das ist die

reine Gabe an den Guru: nachdem wir alle Opferungen aufgegeben haben.

Es geht nicht mehr um materielle Opferungen. Es ist die schwierigere Gabe. Es ist die Gabe un-

serer eigenen Praxis, von unserer Energie und Zeit, jeden Tag zum Wohle aller Lebewesen zu

meditieren. Das macht einen Lehrer, eine Lehrerin wirklich glücklich.

Das andere ist auch gut, aber nur, falls man eine Gelegenheit hat, das Geld auch auszugeben. Ein

echter Guru braucht kein Geld. Das ist nur für die kleinen Dinge des Alltags, er ist auch nur ein

Mensch. Man kann, wie man so sagt, mit dem Hintern nur an einem Platz sitzen und nur in einem

Bett schlafen.

In der Geheimen Versammlung heißt es hierzu:

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.78 „Dem Guru auch nur ein einziges Haar zu opfern, erzeugt mehr positive Kraft, als allen

Buddhas der drei Zeiten zu opfern.“ Jetzt habt ihr nicht nur dem Guru ein einziges Haar geop-

fert, sondern ihr habt es auch noch allen Lebewesen. Könnt ihr euch vorstellen, was das an posi-

tiver Kraft erzeugt?

Das Sampuṭa sagt:

„Opfere dem Guru die schönsten Dinge, ohne irgendwelche Erwartungen.“

Der Schmuck der Vajra-Essenz führt weiter aus:

„Mache alle Anstrengungen, Guru Vajradhara Gaben darzubringen - also dem Buddha

Vajradhara, den Guru, den wir als Vajradhara sehen -. Wenn sie ihn freuen, ist seine Freude die

Freude aller Buddhas.“

Bhavideva sagt:

„Wer das unerschöpfliche Eigentliche anstrebt, bringt dem Guru die ganz besondere Gabe

dar, die ihn immer wieder ein bisschen erfreut. Diese Gabe wird zur kontinuierlichen Gabe

an alle Buddhas; als Ansammlung positiver Kraft wird sie zur höchsten Verwirklichung.“

Die Gabe, die den Buddha immer wieder ein bisschen erfreut, ist unsere tägliche Praxis. Unauf-

hörlich, immer wieder erfreut sie den Guru, von dem wir die Unterweisung bekommen haben.

Vertrauen und Hingabe

Zur Notwendigkeit, die Kräfte des Vertrauens und der Hingabe in Bezug auf den Guru zu entwi-

ckeln, erklärt das Zehn Dharma Sūtra:

„Dem zu vertrauen, der sich als wahrer Führer erweist, ist das höchste der Fahrzeuge.

Weise Leute folgen ihm deshalb voller Vertrauen. Leute ohne Vertrauen werden keine gu-

ten Qualitäten hervorbringen, so wie verbrannte Samen keine Sprossen hervorbringen.“

Mangelndes Vertrauen, wenn wir dem Dharma begegnen, ist so wie ein verbrannter Same. Da

kommt nichts rein. Wir sollten wenigstens das Vertrauen besitzen, das, was wir hören auszupro-

bieren. Dann kommt etwas Gutes dabei raus. Wir werden reicher in unserer Erfahrung.

In der Leuchte der [Drei] Juwelen Dharāni heißt es:

„Vertrauen ist der Wegbereiter [des Erwachens]. Wie eine Mutter gebiert, schützt und mehrt es

sämtliche Qualitäten. Es vertreibt Zweifel, befreit aus den Wassern [Saṃsāras], führt in die Stadt

sich offenbarenden Glücks und macht den Geist weniger trübe und bewusst. Vertrauen vertreibt

– sogar - Stolz und ist die Wurzel von Respekt. Es macht uns reich wie ein Schatz, verleiht die

besten Beine und gibt uns die Hände, die wir brauchen, um das Heilsame zu sammeln.“

Ich finde, das ist eine wunderschöne Textstelle. Ich traue mich eigentlich gar nicht, sie zu kommentieren,

weil sie in sich so schön ist. Nehmt euch nochmal die Zeit, sie in Ruhe zu lesen.

Das Vertrauen, von dem hier die Rede ist, entsteht durch Erfahrung. Es ist kein blindes Vertrauen. Die-

ses Vertrauen entsteht, indem wir erst eine Unterweisung austesten, ausprobieren, dann eine weitere -

und damit Erfahrungen sammeln in Bezug auf unseren eigenen Geist. Mit der Zeit merken wir, dass

Vertrauen in den Dharma und Vertrauen in den Geist eigentlich Hand in Hand gehen.

Der Dharma zeigt uns wie eine gute Gebrauchsanweisung, wie wir den Geist gebrauchen können, wenn

wir mal unseren Stolz beiseite tun, Gebrauchsanweisungen lesen und nicht meinen, wir wüssten schon

alles.

Eine gute Gebrauchsanweisung zeigt uns, wie wir ein Gerät einsetzen können. Die Dharma-Gebrauchs-

anweisung zeigt uns, wie wir den Weg des Erwachens im Geist finden können. Wenn wir der Gebrauchs-

anweisung vertrauen, drehen wir an den richtigen Knöpfen, machen es in der Reihenfolge, wie es uns

vorgeschlagen wird und finden heraus, dass es tatsächlich genau so geht.

So ist es auch mit dem Geist. Wenn wir diesen Erfahrungswerten vertrauen, die in der Gebrauchsanwei-

sung zusammengestellt sind, dann üben wir die verschiedenen Methoden in der Reihenfolge, wie sie

geschildert werden. Und machen dann die Erfahrung, dass es funktioniert. Dann haben wir den eigenen

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 79

Geist kennengelernt in dem Bereich, wo wir der Gebrauchsanweisung gefolgt sind. Für diesen Bereich

brauchen wir keine Gebrauchsanweisung mehr.

Wir haben das Wissen, das Vertrauen, dass es genau so funktioniert. Erst braucht es das Vertrauen in

die Worte der Anweisung, dann das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, es zu testen, und schließlich das

Vertrauen in die daraus entstehenden Erfahrungen.

Dieses Vertrauen verdichtet sich zur Gewissheit. Wenn wir das ein paar Mal gemacht haben, an- und

ausgeschaltet und an den Knöpfchen gedreht, dann wissen wir, dass es so funktioniert, und können den

Teil der Gebrauchsanweisung sogar verbrennen. Den brauchen wir nicht mehr. Wir wissen jetzt, wie es

geht.

So arbeiten wir uns Stück um Stück durch die Dharma-Gebrauchsanweisung, Weg des Erwachens von

A-Z, stückchenweise, und mehr und mehr Vertrauen entsteht.

Dieses Vertrauen in den eigenen Geist hat all die Qualitäten, die in diesem Zitat beschrieben werden.

Das wollt ihr oft nicht glauben. Ihr denkt, Dharma wäre eine Glaubensgeschichte, da müsse man glau-

ben. Und vielleicht funktioniert es, vielleicht auch nicht.

Es ist eine Gebrauchsanweisung für Forscher. Allerdings sind die Zutaten Liebe, Mitgefühl, Hingabe

und dergleichen, ein bisschen hiervon, ein bisschen davon. Und es funktioniert. Ein guter Lehrer, eine

gute Lehrerin, gute Bedingungen, regelmäßige Praxis, nicht zu viel Anstrengung, nicht zu wenig.

Das sind alles Hinweise, auf die wir uns mit etwas Vertrauen einlassen können, sie ausprobieren und

dann sehen wir, dass es funktioniert. Es ist eine Forschungsanleitung für Menschen, die das Erwachen

entdecken wollen in sich, im eigenen Geist.

Deswegen sagen Menschen wie der Dalai Lama immer wieder: Dharma ist eine Wissenschaft. Es wird

Wissen vermittelt, Wissen, wie der Geist funktioniert. Aber wie alles Wissen muss man es austesten und

durch Erfahrung zu seinem Eigenen machen.

Dieses Vertrauen wird zu einem unumstößlichen Vertrauen, zu einer Gewissheit.

Wenn wir an die Güte des Gurus denken, kann das so stark sein, dass sogar die Tränen kommen.

Im Sūtra in Form eines Baumes heißt es:

„Jüngling Sudhana! Spirituelle Freunde - also Meister - schützen vor allen niederen Berei-

chen, lassen die Gleichheit aller Phänomene verstehen, erläutern die Wege des Glücks und

des Unglücks, unterweisen in der Praxis des Allguten, zeigen den Weg in die Stadt der All-

bewusstheit, führen in die Verwirklichung der Allbewusstheit, geleiten in den Ozean des

Raumes der Phänomene, lehren den Ozean von allem, das in den drei Zeiten zu verstehen

ist, zeigen uns das Maṇḍala der Versammlung der Edlen - der Verwirklichten -. Spirituelle

Freunde - damit sind Meister gemeint - bewirken die Zunahme aller guten Qualitäten.“

Auch das ist ein wunderbares Zitat. Auch hier möchte ich euch Zeit lassen, es noch ein zweites Mal zu

lesen.

An diese Qualitäten zu denken, lässt die Tränen aufsteigen – und es gibt viele solcher Zitate. Wenn

wir Hingabe verspüren, treten wir in den Segen ein, und wenn wir im Segen weilen, kommt es im

Geist zu Erkenntnis. Das Hevajra Tantra sagt:

„Das zugleich Entstehende lässt sich durch nichts ausdrücken und nirgends finden. Der

Guru zeigt es zur rechten Zeit mit geeigneten Mitteln, so dass wir es dank unserer Ver-

dienste - dank der angesammelten positiven Kraft - verstehen.“

Nāgārjuna:

„Wenn wir von der Spitze des höchsten Berges stürzen, werden wir fallen, auch wenn wir

es nicht möchten. Wenn wir von der Güte des Gurus den Weg des Wohles geführt werden,

werden wir befreit, auch wenn wir es nicht möchten.“

Meister Gampopa:

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.80 „Unsere Linie ist die des Segens. Nur wenn wir in den Segen des Gurus eintreten, kann sich

die Bedeutung des Mahāmudrā im Geist zeigen. Es ist nicht schwierig, in den Segen des

Gurus einzutreten. Wenn wir mit Hingabe beten, werden wir [in den Segen] hineinfinden.

Bei großer Hingabe gibt es großen Segen, bei mittlerer Hingabe mittleren Segen und bei

gewöhnlicher Hingabe gewöhnlichen Segen. Solange die Hingabe nicht stabil ist, werden

wir nicht in stabilen Segen hineinfinden. So ist die Natur der Dinge!

Das können wir in uns freisetzen.

Als ich meinen Weg begann, waren zwar Momente spontaner Hingabe da, aber der Stolz war hundert-

tausendmal größer und Beten war überhaupt nicht mein Ding. Ich war, was man ein gebranntes Kind

nennt. Mit Beten hatte ich abgeschlossen.

Jetzt ist aber aufrichtiges Gebet der wichtigste Schlüssel, um Hingabe zu entwickeln. Da war ich nun in

einer Vajrayana-Tradition, wo ich schon den Lehrern vertraute - und dann sollte ich beten. Zum Glück

gibt es auch ein paar gesungene Gebete, das geht schon leichter. Mit der Zeit wurde es das Natürlichste

der Welt.

Beten ist, wie in einen inneren Dialog zu treten. Beten ist so, als wäre der Meister, die Meisterin anwe-

send, als wären die Buddhas anwesend, und wir sprechen mit ihnen.

Die Gebete, die wir in den Texten finden, in den Sadhanas, sind gute Vorlagen, um zu lernen, wie man

betet. Es ist gut, sich mit ihnen vertraut zu machen - und dann auch den Mut zu haben, selbst zu formu-

lieren, frei zu sprechen. Dabei geht das Herz auf. Es gibt nichts Besseres, als hingebungsvoll zu beten,

sich zu öffnen und dann loszulassen in diese Offenheit hinein.

Ich denke, es geht einigen von euch so wie mir, dass Beten nicht eure Stärke ist, ihr vielleicht wie ich

damit abgeschlossen hattet. Jetzt möchte ich euch aber bitten, es trotzdem zu versuchen, trotzdem das

Törchen etwas aufzumachen und in ein Herzensgebet zu finden: von Herz beten, und vielleicht braucht

ihr ein Gegenüber.

Es ist nicht notwendig, ein Gegenüber zu haben. Man muss sich nicht unbedingt einen Guru oder Chris-

tus oder Gott wie ein Gegenüber vorstellen. Es geht auch ohne. Man kann einfach in die offene Dimen-

sion hinein beten, das geht auch. Schaut mal, was euch gut tut. Meist ist es leichter mit einem vorge-

stellten Gegenüber.

Das fühlt sich zwar etwas dualistisch an, aber diese vorübergehende Dualität lösen wir wieder auf, indem

zum Schluss des Gebetes immer, ohne Ausnahme, das Gegenüber in uns verschmilzt. Es bleibt nicht

getrennt. Wir holen das, was wir vermeintlich außen erlebt haben, wieder in uns zurück und ruhen in

der Untrennbarkeit. Das ist ein ganz wichtiges Prinzip.

Das wird auch denen gut tun, die auf einem christlichen Weg sind. Christliche Mystiker wissen, dass

Gott im eigenen Herzen weilt. Das ist derselbe Ort, wo der Guru weilt. Deswegen ist es wichtig, das

immer wieder zurück zu holen, nicht in der Trennung zu verweilen.

Für diejenigen, die damit noch nicht vertraut sind: schaut mal, ob ihr ein kleines, erstes, stotterndes,

stammelndes Gebet hinkriegt, vielleicht heute Abend schon. Einfach mal anfangen. Es hört keiner zu -

außer denen, die vielleicht doch zuhören. Fangt einfach mal an, traut euch.

Ihr werdet damit Erstaunliches erleben. Alles was von Herzen kommt, hat unglaubliche Kraft. Ihr wollt

keine Zeit verlieren, deswegen versucht nicht, alles aus eigener Kraft hinzukriegen, sondern öffnet euch

dem Segen. Das geht viel schneller. Also: egal, wie stolz unser Dickkopf ist: einfach mal anfangen.

Für alle, die noch keine Verwirklichung erfahren haben, gibt es kein anderes Mittel, Ver-

wirklichung hervorzubringen, als respektvoll dem Guru zu dienen und mit Hingabe zu be-

ten.

Dieses dem Guru dienen ist ein Ausdruck im Tibetischen. Weil der Guru normalerweise gar keine

oder nur ganz wenig Dienste braucht, läuft es immer wieder darauf hinaus, dass man praktiziert,

man die Ratschläge zur Praxis umsetzt und dem Wohl der Lebewesen dient.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 81

Denn das ist das Anliegen eines echten Lehrers, dass allen gedient wird, indem wir den anderen

Menschen dienen, den Tieren und anderen Lebewesen. Das erfreut den Guru. Es gibt also kein

anderes Mittel als dem Guru zu dienen und mit Hingabe zu beten.

Wer schon Verwirklichung hervorgebracht hat, sollte, um sie zu stabilisieren, weiter Hin-

gabe zum Guru praktizieren und das Eigentliche meditieren - also den eigentlichen Sinn -.

Was das Beten angeht, so beten wir immer, wenn wir gehen, wir beten immer, wenn wir verweilen

und beten auch, wenn wir aus dem Schlaf erwachen - wir hören gar nicht auf zu beten -.“

Wie wir den Guru-Yoga praktizieren

Zitate wie diese sind sehr bekannt in der Praxislinie. Wie wir den Guru Yoga praktizieren, richtet

sich auch heute noch nach den mündlichen Unterweisungen. Falls wir Brüche und Übertretungen

unserer Gelübde vor dem Guru offenlegen möchten, meditieren wir uns selbst in gewöhnlicher

Form und vor uns oder über unserem Kopf den Guru.

Aber wenn wir Ermächtigung von ihm empfangen, ist es nicht angebracht, in gewöhnlicher Form

zu bleiben. Dann meditieren wir uns selbst als Yidam - als Buddha, als Meditationsgottheit - und

den Guru über dem Kopf oder anderen Ortes - zum Beispiel im Herzen - als - Buddha - Vajradhara,

die vereinte Essenz aller Buddhas. Ihm bringen wir dann die Maṇḍala-Opferungen und andere

äußere, innere und geheime Gaben dar - so wie ich gestern äußeres, inneres, geheimes und letztend-

liches Mandala erklärt habe - und beten mit innigster Hingabe für die Erfüllung aller Wünsche. In

tiefer Meditation gewährt er dann die Ermächtigung und verschmilzt schließlich mit uns. So zu

meditieren erscheint mir ein ausgezeichnetes Vorgehen, da dabei viele Schlüsselpunkte des Weges

der Reifung und Befreiung zusammenkommen. Was die Orte angeht, wo wir den Guru visualisie-

ren, erklärt das Tantra Meister des Ausdrucks:

„Wer den gütigen Guru in die Mitte seines Herzens, auf den Scheitel seines Kopfes oder in

die Handflächen setzt, den erfüllen die Qualitäten Tausender von Buddhas.“

Die Handflächen überraschen euch vielleicht. Es ist etwas ganz Wunderbares, wenn ihr beispielsweise

einen Beruf als Masseur, Masseurin habt oder Osteopathen oder ähnliches seid. Stellt euch vor, dass der

Guru in den Handflächen sitzt. So führt nicht das Ich die Behandlung aus, sondern unsere Hände sind

ans Erwachen angeschlossen. Gleichzeitig kann er auch im Herzen sitzen und woanders.

Meister Gampopa empfiehlt, sich den Guru im Raum vor uns vorzustellen, und Meister Yangönpa

führt aus:

„Wenn wir dem Guru Gaben oder ein Festopfer darbringen, ist er vor uns im Raum, wenn

wir zu ihm beten, ist er auf dem Scheitel – und stets ist er in Herzensmitte.“

Fragen

Teilnehmer/-in: Ich bin gerade sehr beschäftigt damit, Zuflucht zu praktizieren, und frage mich: was ist

der Unterschied zum Guru-Yoga?

Gute Frage, weiß ich auch nicht genau

Als du über die Textpassage mit dem Vertrauen gesprochen hast, habe ich gemerkt, damit beschäftige

ich mich in der Zuflucht, was mich sehr berührt - und habe mich gefragt, ob ich jetzt Guru-Yoga prak-

tizieren sollte?

Eigentlich ist in der Zufluchtspraxis, so wie du sie machst, ganz viel vom Guru-Yoga drin. Das wird

sich weiter ausgestalten. Wenn du dann Vajrasattva-Praxis machst, ist ganz viel Guru-Yoga drin. Wenn

du Mandala-Praxis machst, ist so viel Guru-Yoga drin.

Irgendwann landest du beim Guru-Yoga und merkst, dass es schon immer das war und immer so sein

wird. Denn der eigentliche Guru ist die Natur des Geistes. Das sind gar keine Menschen oder Lebewe-

sen, sondern die Dimension des Erwachens selbst. Das ist der eigentliche Guru.

Warum ist das so aufgeteilt?

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.82 Weil das pädagogisch ziemlich geschickt ist. Das führt uns stückchenweise.

Aber das heißt, ich kann jetzt die Aspekte, die hier im Text stehen, mit hineinnehmen?

Du kannst sie jetzt schon integrieren. Immer könnt ihr alles, was ihr versteht, jetzt schon integrieren. Ihr

braucht nie zu warten.

Teilnehmer/-in: Ich bin Christin und bete. Wie kann ich die christliche Praxis und die buddhistische

Praxis zusammenbringen?

Vielleicht hast du schon gehört, während ich erklärt habe, dass es dieselbe Praxis ist?

Ja.

Du fährst weiter mit dem Beten fort, vielleicht mit dem zusätzlichen Verständnis, das heute entstanden

ist. Was beunruhigt dich denn?

Wann mache ich die buddhistische Praxis? Ich bete am Morgen und am Abend.

Du kannst nur eine Praxis zur gleichen Zeit machen und du machst die, die dich am stärksten inspiriert.

Daher kommt auch der größte Segen.

Teilnehmer/-in: Ist es wichtig, die Hunderttausend Vajrasattva-Mantren zu machen?

Es ist wichtig, die Vajrasattva-Praxis, wenn man das traditionell macht, mit hunderttausend Mantren zu

machen. Einhunderttausendeinhundertelf Mal ist der erste Hausputz.

Kann man die Mantren im Laufe des Tages machen, zum Beispiel während des Autofahrens rezitieren?

Die Praxis ist besser auszuführen, während man vor dem Altar sitzt oder an seinem gewöhnlichen Me-

ditationsplatz. Dort zählen wir die Mantren. Man kann die Praxis auch im Auto fortsetzen, aber sie ist

nicht so konzentriert und so tief, wie wir das zu Hause erfahren würden. Es ist zwar gut, das fortzusetzen,

aber wird nicht die Tiefe erreichen, die wir sonst zuhause erreichen können.

Teilnehmer/-in: Ich bin jetzt total verwirrt mit dem Beten. Ich habe, als ich ca. zwanzig Jahre alt war,

meine christliche Praxis aufgehört, weil das Beten für mich immer nur eine Projektion war auf den

heiligen lieben Gott, der irgendwas für mich bewirken sollte und das nicht getan hat.

Wenn du das jetzt sein lässt und eine neue Form des Betens ausprobierst, wo es nicht mehr darum geht,

dass jemand anders etwas für dich tut?

Wie soll das gehen? Ich habe keine Ahnung, absolut.

Deswegen habe ich vorhin von Stottern und Stammeln gesprochen. Ich möchte dir nicht Worte in den

Mund legen oder ins Herz. Das Angemessene wäre jetzt vermutlich: Herrgott nochmal ihr Buddhas, hört

mal zu, wenn es da draußen irgendjemand gibt oder meine eigene Buddhanatur, die vielleicht zuhört:

zeigt mir mal den Weg der Herzensöffnung. Wie geht das? Wie geht Beten?

Das wäre jetzt das Naheliegende zu deiner Frage. Einfach in den offenen Raum hinein gebetet: ich

möchte nicht irgendetwas projizieren und von meiner eigenen Projektion nette Gaben haben, sondern

ich möchte die Wirklichkeit verstehen. Gibt es etwas in mir oder außerhalb, was hier zuhört und mir

dabei helfen kann? So fängt es an. Wir brauchen nicht so zu tun, ob wir von irgendetwas überzeugt

wären.

Wo ist da die Bewusstheit?

Bewusstheit ist genauso, als würdest du mit einem Freund sprechen. Warum braucht ihr immer einen

Guru mit den Interviews, dem ihr die Fragen stellt? Eigentlich könnt ihr die Fragen alle innerlich klären.

Wenn ihr beten könntet, würde sich ein Großteil der Fragen erledigen. Dann bräuchtet ihr nicht ins

Gespräch zu kommen. So einfach wäre das.

Irgendwie Zugang finden zu dieser Weisheit, zu diesem Wissen, dass da ist. Ich weiß bis heute noch

nicht, mit wem ich da spreche, oder ob jemand zuhört, aber es wirkt, es funktioniert. Das ist unglaublich.

Beten funktioniert und ich habe keine Ahnung, wie genau. Ich habe versucht, es euch ein bisschen zu

beschreiben, aber ich kann nicht beweisen, dass da jemand zuhört.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 83

Ich denke, darum geht es auch nicht.

Nein, darum geht es nicht. Man kann in das offene Sein hinein beten. Ohne Projektionen, einfach aus-

drücken, was man auf dem Herzen hat. Probiert es einfach mal. Ich bin da auch durchgegangen, es hat

mir gut getan. Vielleicht tut es dir auch gut, sonst lässt du es einfach wieder sein. Aber probiere es ein

paar Mal. Da sollte dann schon etwas passieren.

Teilnehmer/-in: Kannst du das mit der Verschmelzungsphase noch mal erklären? Das erlebe ich einer-

seits als immens wichtig, aber, wenn ich es richtig verstanden habe, dass ich mir vorstelle, dass der

Yidam oder Guru in meinem Herzen verschmilzt: dann füttere oder verstärke ich wieder die Ich-Anhaf-

tung.

Das könnte ein Risiko sein, wenn wir uns damit aufblähen: jetzt ist der Guru in mir und ich bin noch

wichtiger und größer als vorher. Das passiert aber nicht, wenn wir wirklich beten.

Man könnte sagen, das Wichtige bei der Verschmelzung ist, dass wir die Projektion wieder nach Hause

holen. Wir wissen, dass wir uns vorgestellt haben, zum Beispiel Milarepa hört uns zu. Wir haben uns

das einfach vorgestellt und diese Vorstellung holen wir nach Hause. Das ist alles auf einer nicht persön-

lichen Ebene. Es ist nicht so, dass der vorgestellte Guru uns sagt: du bist so klasse, du bist der Größte,

du bist mein auserwählter Schüler – sondern er gibt uns den Segen, den er allen gibt, nichts Besonderes.

Da sind sozusagen ein paar Leitplanken in die Praxis eingebaut, damit wir nicht vom Weg abkommen

und den Stolz aufblähen. Es geht nicht darum, die eigene Besonderheit zu erhöhen. Vielleicht erzähle

ich bei Gelegenheit noch ein bisschen mehr dazu.

Teilnehmer/-in: Ich erlebe es in meiner täglichen Praxis so, dass dieser Guru, von dem du vorhin ge-

sprochen hast, zum Teil ganz unterschiedliche Formen annimmt. Er kann manchmal außerhalb von mir

sein, manchmal ist er in mir drin, manchmal heißt er Gott, manchmal ist es Buddha, manchmal ist es

Osho. Ist es einfach eine Art von Energie? In meinem Erleben ist es etwas, was mich trägt - als würde

meine Seele gestreichelt.

Und die zweite Frage: beten - ja, aber in der täglichen Praxis passiert es manchmal, dass ein Gebet

entsteht und manchmal entsteht kein Gebet. Dann ist es einfach nur Hingabe, einfach nur die pure Hin-

gabe an diese Energie, Gott, Guru? Ich habe das Gefühl, es durchströmt.

Du kannst genau so weitermachen. Es ist alles Energie, das ganze Universum ist nur Energie. Aber

dieses Nur ist kein reduzierendes Nur, es ist Energie. Es ist vitalisierend, energetisierend, sich immer

auf das Reinste, Höchste, Klarste auszurichten, auf das, was letztendlich wahr ist. Das ist unglaublich

energetisierend - und ich glaube, es geht darum, dass unsere Praxis energetisiert wird, wir nicht in un-

seren Mustern bleiben, sondern ins Eigentliche hineinfinden.

Voraussetzungen für die Mahamudra-Praxis

Wir sind an das Ende der eigentlichen Guru-Yoga-Erklärungen gekommen. Ihr habt einen Überblick

bekommen über die Vorbereitenden Übungen, die speziell für die Mahamudra-Praxis gedacht sind.

Viele Menschen haben ohne die Vorbereitenden Übungen das Erwachen verwirklicht. Irgendwie scheint

es also doch zu gehen.

Aber: niemand ist im vollkommenen Erwachen angekommen, ohne die Qualitäten entwickelt zu haben.

Es braucht die grundlegende Entsagung, es braucht den Überdruss an den Mechanismen von Samsara,

es braucht eine starke Energie, sich der Praxis zu widmen und eine klare Ausrichtung. Zuflucht, Bodhi-

citta müssen entwickelt werden. Da gibt es keinen Weg drum herum.

Man muss es wirklich wollen. Die speziellen Früchte von Mahamudra kommen nicht ohne Bodhicitta,

das allumfassende Mitgefühl. Das ist extrem wichtig.

Und natürlich müssen wir unser Leben aufräumen. Es ist klar, dass wir mit unseren Eltern im Reinen

sein müssen, mit unseren Kindern, mit unseren Nächsten, mit den wichtigen Personen aus der Vergan-

genheit. Wir müssen aufgeräumt haben und frei werden von Schuldgefühlen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.84 Und tiefes Selbstvertrauen entwickeln, ein Vertrauen, dass wir tatsächlich das Erbe der Buddhas antreten

können. Wie wir dahin kommen, sei jedem selbst überlassen, aber das braucht es. Denn das ist genau

diese Dimension, in die hinein wir loslassen: das Vertrauen, dass das Sosein gut ist, unser Geist grund-

legend Buddha-Geist, erwachter Geist ist, wir nichts konstruieren müssen, nichts hinzufügen müssen.

Dieses Vertrauen braucht es, sonst wird es nie zur Mahamudra Meditation kommen.

Mahamudra Meditation besteht darin, nichts zu erzeugen und gegen nichts anzukämpfen, sondern im-

mer nur die Natur dessen zu erkennen, was entsteht. Dazu braucht es ein wachsendes Vertrauen in die

grundgute Natur unseres Geistes, dass all die Schleier, all die Verdunkelungen nur oberflächlich sind,

zeitweilige Verschleierungen sind - und nicht wirklich die Natur des Geistes betreffen.

Dann ist es möglich, durch diese Schleier hindurch zu entspannen, sich zu öffnen, ihre Natur zu sehen.

So wie wir wissen, dass Wolken nicht wirklich zum Himmel gehören. Die Sicht in diese Dimension

kann manchmal völlig unverschleiert sein und sich dann wieder zuziehen. Wir würden nie die Wolken

mit dem All verwechseln, das wissen wir. Wir wissen, dass hinter den Wolken immer die Sonne scheint.

So ist das mit unserem eigenen Geist auch. Dieses Grundvertrauen brauchen wir.

Aufräumen ist angesagt und Hineinfinden in die grundlegend gute Dimension, was durch die Vajra-

sattva-Praxis ermöglicht werden soll.

Es ist auch wichtig, Freigebigkeit jeder Art zu üben und an nichts, was auch immer, noch festzuhalten,

alles in den Dienst des Erwachens zu stellen. Das ist die Mandala-Praxis, wenn man sie formell ausfüh-

ren möchte. Wie auch immer wir da hingelangen, auch ohne die formelle Mandala-Praxis geht es darum,

Freigebigkeit in alle Bereiche unseres Lebens hineinwachsen zu lassen, ohne irgendwelche Hemmun-

gen und Grenzen und viel positive Kraft aufzubauen, enorme positive Kraft, die uns das tiefe Lassen,

das Sein-Lassen ermöglicht, frei von Ich-Bezogenheit.

Guru Yoga ist der schnelle Weg, um mit Segen ins offene Sein hineinzufinden. Es ist eine Methode, um

zu lernen, nicht mehr aus dem Ich heraus den Weg des Erwachens zu gehen. Das braucht es, vielleicht

nicht unbedingt Guru Yoga, aber es braucht den Segen dieser anderen Dimension, also dessen, was die

Natur unseres Geistes ist.

Es braucht Brücken in diese Dimension des Nicht-Ich, ob es über Beten ist oder über Hingabe oder über

andere Formen von Inspiration, auch die Freude, auch die Liebe kann uns da hineinführen.

Dann wird Mahamudra-Praxis leicht. Wenn diese Qualitäten alle zusammenkommen, ist Mahamudra

wie die natürliche Folge davon.

Manche von euch merken für sich: jetzt noch die Vorbereitenden Übungen anfangen, ist etwas spät im

Leben, es geht nicht mehr bei mir. Manche fühlen sich gar nicht inspiriert davon. Das ist alles okay. Ihr

braucht sie nicht zu machen. Man muss dann andere Wege finden, wie sich diese Qualitäten im eigenen

Geistesstrom entfalten können.

Es war mein Anliegen für diese Woche, dass ich euch die Vorbereitungen vorstelle. Das ist Teil der

Erklärungen zu unserer Forschungsanleitung für den Weg des Erwachens, und nun überlasse ich es euch,

was ihr daraus macht.

Ich bin ganz froh, dass Heiko bereit wäre, euch die detaillierten Erklärungen zu geben - die ihr natürlich

auch bei anderen Lamas bekommen könnt. Wo auch immer ihr Anschluss und Vertrauen habt, sie sind

Gang und gäbe in jeder Tradition des tibetischen Buddhismus.

Sich einstellende Zeichen der Vorbereitenden Übungen

Ich werde mich jetzt auf Seite 13 den letzten drei Absätzen zu den Vorbereitenden Übungen widmen.

Jetzt stellen wir uns vor, wir hätten diese Vorbereitungen schon praktiziert.

Wenn wir die Vorbereitungen eifrig meditiert haben - also mit Herz, mit unserem ganzen Sein -,

stellen sich bestimmte Zeichen ein:

Durch das Kontemplieren der Unbeständigkeit löst sich das Verlangen nach Sinnesfreuden auf

wie auch das Beschäftigt-Sein mit den Erfahrungen dieses Lebens.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 85

Wohlgemerkt, es löst sich nicht die Freude an den Sinneserfahrungen auf, die nimmt weiter zu, aber das

Verlangen danach, dass man abhängig davon ist, das löst sich auf. Je weniger wir nach etwas Angeneh-

mem greifen, desto schöner wird es. Das ist eins der wichtigen Geheimnisse des Lebens. Das Verlangen

macht eng und bremst die Freude aus.

Das Beschäftigt-Sein mit den Erfahrungen des Lebens löst sich auf, wenn wir die Unbeständigkeit all

unserer Erfahrungen sehen. Es macht schlussendlich gar keinen Sinn mehr, sich mit all dem zu befassen,

was noch nie Substanz hatte und nie Substanz haben wird.

Wenn wir es sehen könnten, wüssten wir jetzt schon, dass alle unsere Erfahrungen der Vergangenheit,

die uns immer noch beschäftigen, schon im Moment des Erlebens keine Substanz hatten und eigentlich

nur gebraucht hätten, dass der Geist durchlässig bleibt.

Sie belasten uns aber so stark, weil wir damals, als sie passierten, in eine starke Identifikation hineinge-

kommen sind, in ein Greifen mit starken Ängsten, mit starken Bedürfnissen und enttäuschten Bedürf-

nissen. Dieses Greifen hat wiederum starke Auswirkungen erzeugt, mit denen wir heute noch leben.

Wenn sich das wiederholt hat, ist über längere Zeit ein richtiges Muster entstanden. Dem wenden wir

uns zu, da räumen wir auf, da nehmen wir auch therapeutische Hilfe in Anspruch.

Das ist alles ganz wichtig, unerlässlich, um schlussendlich dahin zu kommen, dass wir es lassen, sein

lassen können, wir uns damit nicht mehr beschäftigen. Das betrifft die Vergangenheit.

Aber auch das Beschäftigt-Sein mit den Projekten in diesem Leben, die wir in die Zukunft hineinproji-

zieren, ist ein Greifen nach etwas nicht Fassbarem. Auch dieses Beschäftigt-Sein löst sich auf, wenn wir

die Unbeständigkeit des Lebens wirklich tief erkennen.

Wir wissen, während wir unseren Garten gestalten, dass sich alles ganz anders entwickeln wird. Wir

wissen, sobald wir irgendwo Hand anlegen - sei es ein soziales Projekt, Haus, Garten, Familie - alles

wird sich ändern. Es ändert sich jetzt schon und wir gestalten etwas mit im Fluss der Dinge, aber wir

machen uns keine Illusionen.

Alles wird wieder auseinanderfallen, was je zusammengekommen ist. Alle Projekte werden zu einem

Ende kommen, werden wieder auseinanderbrechen. Alles Zusammenkommen endet in Trennung. Wir

wissen das und wir konzentrieren uns darauf, dies im Jetzt so zu leben, dass es den Geist und das Herz

weitmacht, es freimacht. Jetzt, nicht erst in der Zukunft.

Wenn wir uns mit der Unbeständigkeit vertraut machen, führt das dazu, dass wir viel stärker präsent

sind. Jetzt, immer jetzt führt dazu, dass wir viel mehr vom Leben haben. Wir sind nicht so beschäftigt

mit der Vergangenheit, mit der Zukunft und gestalten im Jetzt auf eine Art und Weise, dass die Erfah-

rungen von heute der Weg des Erwachens sind. Jetzt, nicht morgen.

Wir bauen nicht erst einen schönen Meditationsraum, um dann zu meditieren. Jetzt wird meditiert. Falls

wir einen Meditationsraum bauen, machen wir es so, dass uns das Bauen Spaß macht und auch Teil des

Weges ist. Nicht später. Jetzt. Immer im Moment. Dann haben wir nie etwas zu bereuen. Wir leben im

Bewusstsein der Unbeständigkeit und wissen, das einzige, was zählt, ist die jetzige Erfahrung.

Das Erwachen wird auch nicht in der Zukunft stattfinden. Es wird im Jetzt stattfinden. Ihr denkt viel-

leicht, ihr werdet irgendwann in der Zukunft erwachen. Das wird aber nicht der Fall sein, ihr werdet im

Jetzt erwachen. Und warum ist das Jetzt nicht schon gleich jetzt? Weil wir es in die Zukunft projizieren,

weil wir immer denken, es könnte noch nicht sein. Wer ein Leben lang glaubt, dass es in der Zukunft

passieren wird, der schiebt das Erwachen vor sich her, projiziert es immer woanders hin, statt es kommen

zu lassen, es zuzulassen.

Jetzt ist das einzige Leben, was wir leben können. Wir leben nicht das Leben der Vergangenheit und

nicht das Leben der Zukunft. Wenn wir Gedanken über Vergangenheit und Zukunft haben, sind sie jetzt.

Wenn wir Erinnerungen haben über Vergangenheit und Zukunft, sind sie jetzt. Wenn wir Rückführun-

gen in vergangene Leben machen, sind sie jetzt. Es gibt nur diese Möglichkeit. Es gibt keine andere.

Deswegen ist die Unbeständigkeit der wichtigste Lehrer überhaupt, den wir haben können.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.86 Unter anderem erleben wir Zufriedenheit mit wenigen Bedürfnissen, sind - dank der Kontemplation

der Unbeständigkeit - auf das Unmittelbare ausgerichtet, lösen uns aus den acht weltlichen Dhar-

mas und unser Geist ist bezähmt.

Diese acht weltlichen Dharmas sind das Beschäftigt-Sein mit Lob und Tadel, Glück und Unglück, Ge-

winn und Verlust, Ruhm und Schmach, das eine zu haben, das andere zu vermeiden. Angesichts der

dynamischen, nicht fassbaren Natur des Seins sind das Anliegen, die wie auf Sand gebaute Häuser sind.

Wir können berühmt werden, wir können auch mal in Ungnade fallen, aber das ändert sich sowieso

wieder. Es kann höchstens ein Leben dauern. Wir brauchen nur etwas Geduld und es wird sich ändern.

Die Natur des Geistes hingegen ist immer dieselbe. Sie begleitet uns durch alle diese Erfahrungen hin-

durch. Wir denken, es ist viel schöner, anerkannt zu werden, gelobt zu werden, reich zu sein usw. Wenn

wir daran anhaften, macht es unfrei. Dann ist das unser goldener Käfig. Da können wir davon haben, so

viel wir uns nur wünschen können: es ist ein goldener Käfig. Wir sind völlig unfrei.

Erst wenn uns das nichts mehr bedeutet, werden wir frei. Ob wir das mit schwierigen Erfahrungen lernen

oder mit angenehmen, ist eigentlich egal. In beiden Arten von Situationen ist es wichtig, dass uns das

nichts mehr bedeutet, wir daran nicht unser Glück ausrichten, wir nicht unglücklich werden, bloß weil

wir weniger haben, glücklicher werden, weil wir mehr haben. Es ist so, wie wenn man glücklicher wird,

wenn die Sonne scheint und unglücklicher, wenn es regnet. Das ist völlig absurd. Sich unabhängig ma-

chen durch Erkennen der Unbeständigkeit der acht weltlichen Dharmas.

Sich auf die Zuflucht auszurichten, macht den Geist glücklich, freudig, warmherzig und natürlich

entspannt. Maṇḍalas darzubringen verleiht gesundes Aussehen, Wohlgefühl, Ausgeglichenheit

und Freude.

Ihr lacht. Das gesunde Aussehen: da könnt ihr euch Schminke sparen. Es geht nur darum, freigiebig zu

sein. Freigebigkeit, nicht mehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, macht so glücklich - und jeder Mensch,

der glücklich ist, ist schön. Das ist das Geheimnis dahinter. Da spielt auch Alter keine Rolle. Wunder-

schöne, glückliche, runzlige Menschen.

Trotz Fasten hat man keinen Hunger, das Bewusstsein ist klar und Weisheit zeigt sich. Man hat

keinen Hunger, weil man während der Mandala Opfer so in die Fülle geht, so genährt ist durch die Praxis

der Freigebigkeit, dass man nicht mehr das Verlangen hat, sich mit Essen glücklich zu machen. Deshalb

lässt das Verlangen nach Nahrung nach.

In den Träumen sehen wir Sonne und Mond aufgehen, sehen viele Blumen, steigen nach oben [auf

einen Berg] und dergleichen mehr. Das sind so typische Traumzeichen für die Mandala-Praxis.

Durch die Meditation und Rezitation von Vajrasattva wird der Körper leicht, man braucht wenig

Schlaf, ist bei guter Gesundheit und hat Freude im Herzen. Alles Beschwerende fällt weg.

Als Traumzeichen sehen wir, wie Eiter, Blut, Erbrochenes, Kot und dergleichen vom Körper aus-

geschieden werden - wir lassen das Schwierige hinter uns -. Die Praxis des Guru Yoga bewirkt, dass

wir dem Guru nahe sein oder seinen Körper berühren möchten. Es ist, als würde er unser aus-

schweifendes Denken wegnehmen, sodass der Geist leicht wird. Tag und Nacht haben wir den

Wunsch zu beten; Meditationserfahrungen lodern auf und das Bewusstsein geht leicht überall

hin.

Das bedeutet auch, dass das Bewusstsein leicht überall verweilt. Egal wohin wir es richten, dort geht es

hin und dort verweilt es. Denn das einzige, was zu einem abschweifenden Denken führt, zu Abgelenkt-

heit, ist die Ich-Bezogenheit in uns. Da Guru Yoga genau das Gegenteil von Ich-Bezogenheit ist, bleibt

der Geist stabil dort, wohin wir ihn richten.

Als Zeichen in den Träumen begegnen wir dem Guru, bekommen den Dharma erklärt, erhalten

Ermächtigungen und dergleichen mehr. Zahllose Praktizierende der Praxislinie haben es so be-

schrieben.

Das sind keine einmalig auftauchenden Zeichen. Allzu oft kommen Praktizierende zu mir und beschrei-

ben: Ich habe einen Traum gehabt, da ist der Guru erschienen und hat mir den Dharma erklärt. Dann

frage ich: Was hat er dir denn gesagt? - Das habe ich vergessen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 87

Dann war das kein Traumzeichen. Wenn es nur einmal passiert, war es auch nur ein Gewohnheitsmuster.

Weil man tagsüber den Guru-Yoga praktiziert hat, hat man halt nachts einen Guru-Yoga Traum.

Diese Traumzeichen tauchen wiederholt auf. Die Träume wiederholen sich und zeigen, dass in der Tiefe

sich Muster ändern. Dann erst sprechen wir von Traumzeichen. Segen im Traum zu erhalten bedeutet

natürlich, dass ich mich auch erinnern kann, was der Guru im Traum gesagt hat.

Man sieht Segen in den Träumen an der Auswirkung am Tag. Man muss gar nicht den Traum analysie-

ren. Man sieht, dass der Geist tagsüber leichter, frei von Anhaften ist, wie in eine andere Dimension

verrückt wurde. Also eine Leichtigkeit und eben nicht das faszinierte Greifen nach dem Traum, sondern

als würden wir in der Gegenwart des Gurus leben.

Das sind die Zeichen, an denen man erkennt, ob ein Traum ein authentischer Segen war oder einfach

nur die Projektion unserer Bedürfnisse. Wenn aus unserem eigenen Verlangen heraus ein Traum ent-

steht, wo ein Buddha, ein Guru auftaucht, dann ist der Geist nicht leicht am Tag danach. Er zeigt die

Zeichen des Verlangens, das ist die hauptsächliche Energie. Das kann man leicht sehen und unterschei-

den.

In dieser kurzen Beschreibung werden immer die Zeichen der Praxis tagsüber beschrieben und auch die

Anzeichen in den Träumen. Als ich es das erste Mal erklärt bekam, habe ich gedacht: ob das wohl alles

stimmt oder ob sie einfach die Traumzeichen vieler Generationen von Praktizierenden hier zusammen-

getragen haben? Tatsächlich ist das nicht so.

Diese Traumzeichen tauchen mit großer Regelmäßigkeit auf, wenn jemand mit dem Herzen praktiziert.

Dann kann sogar ein einzelner Praktizierender all diese Traumzeichen haben. Es sind also nicht unge-

wöhnliche, seltene Zeichen, sondern regelmäßig auftauchende.

Von daher: wenn ihr diese Praktiken ausführt, dann gebt euch ganz hinein mit dem Herzen und greift

nicht nach den ersten kleinen Traumillusionen, die auftauchen. Sondern praktiziert weiter und widmet

auch die Träume, bis es völlig natürlich wird, dass jeder Traum in der Nacht von Dharma durchdrungen

ist. Da gibt es dann kaum noch andere Träume.

Geht weit mit eurer Praxis, gebt euch nicht mit ein paar Glasperlen zufrieden oder mit ein paar Rosinen,

die auftauchen. Sondern praktiziert so, dass die Muster so tief aufgelöst und umgekrempelt werden, dass

der Dharma euch ständig begleitet, jede Nacht. Das ist einfach so, wenn wir tief aufräumen.

Warum soll der Geist nachts Verwirrung praktizieren, wenn er wirklich aufgeräumt ist? Das tut er nicht.

Da ist Hingabe, da ist Mitgefühl, das Erkennen der Natur der Dinge, Freigebigkeit, aber natürlich tau-

chen erstmal die Reinigungsträume auf.

Zunächst einmal tauchen Träume auf, wie zum Beispiel hier das Ausscheiden von Blut, Eiter, also das

symbolische Loswerden dessen, was wir nicht mögen, was uns belastet. Oder wenn wir Mitgefühl prak-

tizieren, haben wir plötzlich aggressive Träume, weil das auf den Plan kommt.

Es ist ganz normal, dass wir Träume haben, in denen das Gegenteil dessen passiert, was wir tagsüber

praktizieren. Das bedeutet aber, dass wir noch keinen wirklichen Zugang zu unseren Schattenseiten ge-

funden haben. Mit der Zeit ändert sich das. Die Art, wie sich unsere Schatten manifestieren, beginnt

darauf hinzuweisen, dass sie schon viel mehr integriert werden.

Praktiziert einfach weiter, auch wenn ich jetzt über Traumzeichen gesprochen habe. Gebt ihnen nicht

zu viel Bedeutung. Sie kommen und gehen und verändern nicht die Qualität unserer Praxis. Einfach

weiter praktizieren.

Wenn einige Lehrer diese Vorbereitungen nur als Mittel betrachten, um in Anfängern Meditation

hervorzubringen, aber für die spätere Praxis von geringer Bedeutung sind, so irren sie sich sehr

in wesentlichen Punkten der Praxis. Tatsächlich haben diese Praktiken eine Schlüsselstellung auf

dem Weg des Großen Fahrzeugs. Aus Sorge, zu viele Worte zu schreiben, habe ich die Erklärun-

gen zu den Vorbereitungen hier kurz gehalten, obwohl sie wichtige Wurzeln des Dharmas und

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.88 Schlüsselpunkte des Weges sind. Es ist unerlässlich, hierzu die ausführlichen Werke des stufen-

weisen Weges zu studieren und zu kontemplieren und sich eifrig und kontinuierlich in der Praxis

zu bemühen, bis alle Aspekte klar sind.

Als Dakpo Tashi Namgyal dieses Werk verfasste, gab es bereits ausführliche Werke, die die Vorberei-

tenden Übungen beschreiben. Es war nicht nötig, dass er noch einmal alles darstellt und er hat sich auf

das beschränkt, was seine Hauptaufgabe war: den Zusammenhang und den Hintergrund der Ma-

hamudra-Praxis darzustellen und warum Mahamudra genau so gelehrt wird und nicht anders. Das ist

sein Hauptanliegen. Es ging ihm nicht darum, einen Kommentar zu den einzelnen Übungen des Ma-

hamudra zu schreiben.

Vielleicht erinnert ihr euch, dass meine Motivation, diesen Text zu lehren, damit zu tun hatte, dass

Gendün Rinpoche uns Dharmalehrer gebeten hatte, diesen Text später zu studieren, zusätzlich zum

Ozean des Wahren Sinnes des 9. Karmapa, der sehr viel mehr praktische Hinweise gibt. Das habe ich

dann getan.

Erst hat Khenpo Tcheudrak uns den Text ein wenig erklärt und dann haben wir ihn im Retreat von Lama

Johann in der kleinen Retreatgruppe über vier Jahr hinweg Satz für Satz studiert. Dabei haben wir ge-

merkt, dass es ein Juwel von Text ist, den man unbedingt auch wenigstens einmal öffentlich lehren

sollte. Da habe ich mir gedacht, das mache ich: ich werde das öffentlich anbieten - und jetzt bin ich ganz

überrascht, dass das so großen Zuspruch findet. Das ist wunderbar. Es geht einfach darum, dass dieser

Text wenigstens einmal ausführlich erklärt wird. Das Wunderbare ist, dass ihr die Unterweisungen ab-

schreibt, weil sie damit auch späteren Generationen von Praktizierenden zur Verfügung stehen.

Das war der Grund, warum die Vorbereitungen hier so kurz sind. Ich halte sie auch kurz.

Fragen

Teilnehmer/-in: Ich merke, dass bei der Erwähnung der Vorbereitenden Übungen ein Widerstand in mir

aufkommt. Widerstand, den ich sehr gut kenne in meinem Leben, in vielen Bereichen. Ich bin auch dabei,

viel aufzuräumen in meinem Leben – mir fehlt die Unterscheidungskraft zwischen: ist es Intuition, dass

diese Übungen mir zu viel werden - oder bin ich wieder im Widerstand?

Dass es zu viel wird, dafür gibt es viele Anzeichen, weil du einfach schon so viel machst. Dass es gerade

nicht reinpasst in dein Leben, kann ich sofort sehen. Gibt es denn noch Anzeichen dafür, dass es sich

um einen Widerstand handelt?

Ja.

Da könntest du, wenn du mal die innere Kraft hast, dich dem zuwenden, was du als Widerstände erlebst,

bevor du irgendeine Entscheidung triffst, ob du die Vorbereitenden Übungen mal machen möchtest.

Schau erstmal hin, was das für Widerstände sind. Magst du jetzt schon einen in der Gruppe benennen?

Ja. Da kommt von außen etwas, was ich machen muss, aber ich will nicht. Wie so ein kleines trotziges

Kind.

Das ist gut.

Ja, aber ich bin fünfzig…

Wie lange braucht das trotzige Kind, wie lange möchte es trotzig sein?

Wenn du die Erwachsene fragst, sagt sie, die Zeit ist längst vorbei.

Ich frage jetzt das trotzige Kind. Wie lange möchte es trotzig sein?

Schauen wir mal, sagt es. Es lässt sich nicht auf so eine Diskussion ein.

Was braucht es?

Trotzig sein dürfen, glaube ich, nein sagen zu dürfen.

Das ist voll in Ordnung. Gut. Das darf es. Vermutlich brauchen unsere trotzigen Kinder ein bisschen

Zeit, bis sie merken, dass das gar nicht von außen kommt, sondern einem inneren Bedürfnis entspricht.

Und es nicht von außen aufgesetzt ist, wieder so ein Programm, dem man sich beugen muss, so wie man

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 89

damals zur Schule geschleift wurde und gar nicht wollte. Man merkt, dass das einfach nur ein Angebot

ist.

Bei dem Wort Bedürfnis hat es klick gemacht bei mir. Wenn es ein inneres Bedürfnis ist – wie: jetzt gehe

ich joggen, weil es ein Bedürfnis ist mich zu bewegen.

Lernen geht nur mit Freude. Dharma-Praxis geht nur mit Freude, das ist eine Form von Lernen, Üben

und da warten wir, bis die Freude kommt.

Was hat es auf sich mit diesen Schals, die man hier bei der Zufluchtszeremonie getragen hat?

Die weißen Schals nennt man Khataks auf Tibetisch. Das sind ursprünglich weiße Seidenschals, die

weiß in Weiß mit glückverheißenden Symbolen bedruckt sind. Da sind im Seidenschal noch Siegesban-

ner, die beiden Fische, der unendliche Knoten usw., die verschiedenen traditionellen glückverheißenden

Symbole. Dieser Schal wird benutzt als erste Geste, wenn man jemandem begegnet, wo man möchte,

dass diese Beziehung von der Reinheit des eigenen Herzens zur Reinheit des anderen Herzens stattfin-

det. Bevor man also etwas anderes sagt, wird der Schal ausgetauscht als glückverheißendes Zeichen:

Möge diese Beziehung das Reine, das Erwachen unterstützen. Das hatte sich in Tibet eingebürgert.

Es ersetzte im Tibet die Blumengirlande, die in Indien benutzt wurde. Wenn Besucher ins Haus kamen,

bekamen sie eine Blumengirlande um den Hals gehängt als glückverheißendes Symbol. Da ist der

Khatak der Ersatz, weil es in Tibet wenig Blumen gibt.

Also nicht auf Zufluchtnahme beschränkt.

Es hat nicht speziell mit Zufluchtnahme zu tun. Es ist eigentlich etwas, was unsere französischen

Freunde bei den anderen tibetischen Lamas und in Indien, Nepal so gelernt haben. Ich bin sehr damit

vertraut, denn bei uns im Kloster war es genauso. Wenn ich meinen tibetischen Lehrern begegnete, war

es genauso.

Aber ich habe das Gefühl, ihr begegnet mir sowieso mit so viel Aufrichtigkeit und Herzensoffenheit,

dass es diese zusätzliche Geste nicht unbedingt braucht.

Es sind symbolische Gesten, die ihren Sinn haben. Und wenn es an Respekt mangeln würde und an

Aufrichtigkeit, würde es Sinn machen, so etwas einzuführen. Aber wir begegnen uns so aufrichtig und

mit freiem Herzen, dass das nicht zusätzlich notwendig ist.

Teilnehmer/-in: Ich habe ein Problem mit dem Gebet. Ich mache mehr Mantras als Gebete. Ich spreche

zu Maria und Jesus und assoziiere Tara und Maria, die für mich die gleiche göttliche Mutter sind - und

Buddha und Jesus, die sehr ähnlich sind. Ich habe sie in meinem Herzen auf sehr familiäre Art, denn

ich spreche zu ihnen, als wären sie Bekannte seit langen Zeiten. Ich wollte wissen, was der Unterschied

ist zwischen einem Gebet und einem Mantra. Und ob die hundert Silben, für die ich eine besondere

Zuneigung habe, auch als Gebet betrachtet werden können oder nicht.

Erstmal: das Hundertsilben-Mantra ist ein Gebet. Wenn man das vom Sanskrit übersetzt, ist es ein Ge-

bet, in dem es um die Freude des offenen Geistes geht, um das Aufräumen von Hindernissen, um Segen

und Herzensöffnung. Da liegst du schon richtig. Du kannst dieses Mantra als Gebet singen oder rezitie-

ren.

Alle Mantras können als Gebet benutzt werden. Wenn wir ein Gebet - wie viele von euch das christliche

Herzensgebet machen - oft macht, wird es zu einem Mantra. Dann denkt man gar nicht mehr über den

Sinn der einzelnen Silben nach, sondern es beginnt zu fließen, es beginnt sich im Herzen zu drehen und

bekommt mantrische Qualitäten.

Ein Mantra kann eine Aneinanderreihung von Silben sein, die grammatikalisch gar keinen Sinn mehr

ergeben. Es braucht kein unmittelbarer Wortsinn mit einem Mantra übertragen zu werden. Zum Beispiel

OM AH HUNG: diese drei Silben geben keinen Sinn, sind aber mit Sinn, mit Bedeutung geladen und

ermöglichen uns, unter Benutzung der Sprache zu meditieren. Wir brauchen nicht mehr über Sprache

nachzudenken, wir üben uns in erwachter Kommunikation, ohne ins begriffliche Denken zu gehen. Das

ist der Vorteil von Mantras.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.90 Mantras haben diese Eigenschaft, dass wir uns in der Kommunikation mit allen Lebewesen spüren,

denen wir zum Beispiel die Mantras darbringen, oder mit den Erwachten kommunizieren, ohne nach-

denken zu müssen. Das ist wunderbar. Es ist der erste Schritt in ein Kommunizieren frei von Ich-Bezo-

genheit.

Bei dem normalen Gebet ist immer noch ein starker Anteil von Denken, Kontemplieren dabei. Es findet

noch begrifflich statt. Gebete haben den Vorteil, dass sie uns mit inneren Inhalten direkt verbinden. Was

wir ausdrücken, macht Sinn und verbindet uns mit Herzensanliegen und Herzensschmerzen, auch mit

Erkenntnisdimensionen. Gebete sind etwas gezielter, direkter.

Das buddhistische Gebet geht immer auch mit einer Verpflichtung einher. Es ist nicht nur ein Bitten um

etwas, was wir erhalten, sondern wenn ich zum Beispiel zu den Buddhas bete: Bitte kümmert euch

darum, dass es diesem oder jenem Menschen gut geht, dass die Operation gut verläuft usw.

Wenn ich solche Gebete mache, bedeutet das gleichzeitig immer auch: und ich werde auch von meiner

Seite alles tun, dass es gut läuft. Wenn ich darum bitte, dass sich die Armut in der Welt auflöst, bedeutet

das: und ich werde mich persönlich dafür einsetzen, dass sich die Armut in der Welt auflöst. Wenn ich

um Segen bitte für meine Praxis, dann bedeutet das: und ich werde mit ganzem Herzen praktizieren.

Im buddhistischen Gebet ist nicht nur die Bitte um Segen und Hilfe enthalten, sondern immer auch die

Verpflichtung, selbst alles zu tun, dass es möglich wird. Das geht immer zusammen.

Dies ist noch eine wichtige zusätzliche Erklärung, was das Beten angeht.

Vorbereitungen zur Meditation

Als Vorbereitung ein klares Verständnis entwickeln

Fünf Prinzipien, die zur Befreiung führen

Wir haben die speziellen Vorbereitungen abgeschlossen und kommen jetzt zu den Vorbereitungen zur

Meditation gezielt für die stille Praxis. Wir sind unten auf Seite 13, wo die zweite Überschrift heißt:

Als Vorbereitung - für die Meditation - ein klares Verständnis entwickeln

So wie im Abhidharma-Kompendium erklärt, üben wir uns in den fünf Prinzipien, die zur Befrei-

ung führen - die werden jetzt erklärt -:

Erstens: Das heilsame Verhalten gewöhnlicher Leute pflegen

Bei der Praxis heilsamen Verhaltens üben wir die Geisteshaltung, die alles unterlässt, das durch

Denken oder Handeln - mit Sprache und Körper - dazu führen könnte, anderen zu schaden. So lesen

wir in Eintritt in die Bodhisattva-Praxis - bei Shantideva -:

„Wohin Fische und dergleichen bringen, damit sie nicht getötet werden? Die [alles Schädliche]

unterlassende Geisteshaltung wird als die befreiende Qualität des heilsamen Verhaltens erklärt.“

Ich hoffe, ihr versteht die Bemerkung von Shantideva über die Fische. Egal, wohin wir Fische bringen:

wenn es da Menschen mit einer Geisteshaltung gibt, die den Fischen Übles zufügen will, sind sie nie in

Sicherheit. Das Beste ist, wir ändern unsere Geisteshaltung, dann können die Fische bleiben, wo sie

sind.

So bewahren wir achtsam und sorgfältig die Gelübde eines Laienpraktizierenden „Freund des

Heilsamen“ und üben uns in den verschiedenen weiteren Gelübden, die wir erhalten haben.

Gestern bei der Zufluchtszeremonie habe ich euch die Übersetzung der Formel gegeben. Da hieß es: …

und von jetzt an, bis wir das Herz des Erwachens verwirklicht haben, führt mich als eine Praktizierende

des Heilsamen in der dreifachen Zuflucht. Das war der letzte Satz. Damit ist genau das hier gemeint:

Freund des Heilsamen, genyen, das ist der Ausdruck für die Laien-Praktizierenden, die alles Schädliche

unterlassen und das Heilsame üben.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 91

Die Gelübde, die man zusätzlich zum Zufluchtsgelübde nehmen könnte, wären: alles Töten zu unterlas-

sen, nicht zu nehmen, was einem nicht gegeben ist, nicht in Beziehungen einzudringen, also nicht fremd-

zugehen, nicht zu lügen und eventuell noch zur Unterstützung dieser vier: auf Alkohol und andere Sub-

stanzen zu verzichten, die den Geist trüben. Das sind die klassischen Grundgelübde, um Schädliches zu

unterlassen.

Eigentlich geht es aber um die Praxis der zehn heilsamen Handlungen, die ich schon erklärt habe. Die

Regeln bezüglich dessen, was wir nicht tun, schaffen nur den unbedingt notwendigen Rahmen, damit

sich Dharmapraxis überhaupt entfalten kann, damit wir einander vertrauen können.

Gewissenhaft unterlassen wir alle „nicht zu preisenden“ Leid verursachenden Handlungen und

pflegen ein vortreffliches heilsames Verhalten. Im Brief an einen Freund - schreibt Nagarjuna:

„So wie die Erde alles Belebte und Unbelebte trägt, ist heilsames Verhalten die Grundlage aller

Qualitäten.“

Im Sūtra Heilsames Verhalten Besitzen steht:

„So wie man ohne Augen keine Formen sehen kann, kann man ohne heilsames Verhalten den

Dharma nicht sehen.“

Für mich ist das so klar und deutlich gesagt, dass ich keine Notwendigkeit für einen weiteren Kommen-

tar sehe. Und ich denke, wir haben schon eine gute Basis in unserem Leben geschaffen, sodass wir eine

gute Basis heilsamen Verhaltens haben, um praktizieren zu können.

Ich habe mir als Grundregel gemerkt: Meditieren fällt dann leicht, wenn man so lebt, dass man nichts

zu verheimlichen hat, also jederzeit die Polizei oder sonst jemand ins Haus kommen kann und alles ist

klar. Man hat nichts, worüber man sich schämen müsste, das Leben ist offen und transparent. Wenn es

so ist, dann ist es auch ganz leicht, in meditative Versenkung zu finden, in tiefe Geistesruhe.

Zweitens: Die Sinnestore zügeln

Da geht es wahrscheinlich ans Eingemachte. Mal sehen, was gemeint ist.

Auf der Grundlage der sechs Sinnesobjekte (Formen - die wir mit den Augen wahrnehmen, Geräu-

sche, die wir mit den Ohren wahrnehmen - usw.) und sechs Sinnesorgane (Augen usw.) entstehen die

sechs Arten Sinnesbewusstsein (Sehen - Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen im Körper plus geis-

tig Wahrnehmen – usw.). Hierauf reagiert das geistige Bewusstsein mit Verlangen nach Objekten,

die als angenehm empfunden werden, und Abneigung gegen Objekte, die als unangenehm emp-

funden werden.

Objekte sind hier keine Gegenstände, sondern der Gegenstand der Wahrnehmung. Es kann also auch

ein Mensch sein. Menschen, die ich als angenehm erlebe, als unangenehm. Es können Situationen sein,

es kann auch das Wetter sein… Alles, was die Sinne wahrnehmen, wird hier Objekt der Sinne genannt.

Daher reagiert das geistige Bewusstsein mit Anhaften und Abneigung.

Wenn wir - statt anzuhaften - nicht an Merkmalen haften und diese nicht für wirklich existent

halten, schützt das unseren Geist nicht nur vor Verlangen und Abneigung, sondern lässt ihn in

heilsame oder zumindest neutrale Geisteszustände eintreten. In einem Sūtra lesen wir:

„Die Augen sehen Formen, aber sie haften nicht an Merkmalen und halten sie nicht für wirklich

existent.“

Das können wir üben in der Meditation. Eigentlich üben wir es ständig beim Meditieren, wenn ich euch

sage, mit offenen Augen zu meditieren. Wir meditieren jetzt gerade nicht, aber ich bitte euch, die Augen

in dieser Richtung mal entspannt offen zu halten. Wenn ihr so entspannt schaut, gibt es ganz viele Far-

ben. Ohne, dass wir etwas dafür tun müssten, sortiert unser visuelles Bewusstsein, verbunden mit dem

mentalen Bewusstsein, diese Farben in Flächen und Formen. Tatsächlich sehen wir nicht nur Farben

und Formen, sondern haben das Gefühl, da sind Menschen und Balken usw. Wir sehen einiges, was wir

interpretieren.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.92 Beim Meditieren üben wir uns, einfach nur zu schauen, ohne das mentale Bewusstsein so stark zu sti-

mulieren, dass es immer am Identifizieren und Gucken ist und Unterscheiden: mag ich, mag ich nicht…

Einfach schauen, ohne in ein Greifen, Benennen, Anhaften und Abneigen zu kommen.

Das Gleiche üben wir beim Meditieren mit den anderen Sinnen: also Hören, ohne in Reaktionen zu

kommen auf die Schallwellen, die da kommen.

Den Körper spüren, ohne zu unterscheiden zwischen angenehm und unangenehm - und wenn die Un-

terscheidung schon stattfindet, nicht weiter zu reagieren, entspannt zu bleiben.

Bei Gerüchen entspannt zu bleiben - es kann euch passieren, dass ihr in eine Toilette kommt, die gerade

vorher jemanden beherbergt hat, der ein ordentliches Geschäft abgesetzt hat. Da könnt ihr gut üben,

entspannt zu bleiben. Es sind nur ein paar Geruchspartikel in der Luft, das ist alles, und reine Interpre-

tationssache, ob man das mag oder nicht mag. Entspannt bleiben, auch bei angenehmen Düften.

Genauso bei Geschmäckern: immer wieder die wahre Natur dessen betrachten, was eigentlich wahrge-

nommen wird.

Das gilt auch für den sechsten Sinn: das Wahrnehmen von Denkbildern, Ideen, all das, was an Impulsen

auftaucht, diese innere Welt. Einfach lassen, ohne zu reagieren.

Wir nennen das das Öffnen der sechs Sinnestore. Alle sechs Sinne werden aktiviert und sind offen. Wir

schließen sie nicht, aber wir reagieren auch nicht. Wenn ich so schaue mit offenen Augen, bin ich ge-

nauso entspannt, als wenn ich die Augen geschlossen hätte. Das gilt es zu lernen: wahrzunehmen und

genauso entspannt zu bleiben, als wenn wir nicht wahrnehmen würden. Aber der Vorteil ist, dass wir

wahrnehmen. Wir nehmen wahr und gehen nicht in die impulsiven, zwanghaften Reaktionen.

Das brauchen wir, wenn wir als Bodhisattvas in dieser Welt hilfreich sein wollen. Denn wir werden

Sinneserfahrungen haben. Wir führen Gespräche mit Leuten, wir begleiten sie irgendwo hin, wir begeg-

nen ihnen irgendwo, wir schauen ihnen in die Augen, wir trinken vielleicht einen Kaffee, der Körper ist

mit dabei, die Gerüche, alle Sinne. Es findet Kommunikation statt und dabei bleiben wir offen, so offen

wie in der Meditation. Da wir so offen und entspannt sind, kommt es nicht zu den normalen zwanghaften

Reaktionen.

Der ganze Austausch kann jetzt frei gestaltet werden. Die Kräfte des Mitgefühls und der Weisheit kön-

nen diese Situation frei gestalten, ohne abgelenkt zu werden von den einschießenden, impulsiven Reak-

tionen.

Es ist nicht sehr hilfreich, als Bodhisattva abgelenkt zu werden vom starken Parfum einer Person, sodass

man gar nicht mehr mit ihr reden kann. Es ist gut, wenn man das entspannen kann. Es ist gut, wenn man

auch einer hübschen Frau helfen kann, obwohl man Mann ist und dabei entspannt bleibt. Das hat alles

mit Sinneseindrücken zu tun. Oder dass man auch jemandem helfen kann, der zunächst Abneigung,

Widerwillen in uns auslöst, wenn wir diesen impulsiven Reaktionen aufsitzen würden.

Je entspannter wir bleiben können mit den verschiedenen Sinneseindrücken, desto mehr Menschen kön-

nen wir helfen, denn schlussendlich sind Menschen Sinneseindrücke. So banal das klingt: es findet alles

irgendwo in den sechs Sinnen statt und wird emotional verarbeitet. Wenn wir in unsere Muster einstei-

gen und nicht wissen, wie man das entspannt, dann engt es unsere Fähigkeit zu helfen erheblich ein.

Dann helfen wir nur den Leuten, die wir mögen, die uns angenehm sind. Und wenn sie nicht mehr

angenehm sind, dann helfen wir ihnen nicht mehr. Dann ist es vorbei, weil jetzt die Sinneserfahrungen

unangenehm werden. Das wäre schade, denn das ist genau, was wir als Therapeuten lernen müssen - es

sind viele Therapeuten hier -: offen und entspannt zu bleiben, die Dinge nicht persönlich zu nehmen und

am Ball zu bleiben; zu schauen, wo lässt sich diese Person weiter unterstützen, auch wenn sie gerade

etwas unangenehme Seiten von sich zeigt.

Bodhisattvas sind Therapeuten. Das sind Helfer/-innen auf dem Weg des Erwachens und das ist die

ultimative Therapie, um ganz frei und ganz gesund zu werden. Deswegen brauchen wir all diese Fähig-

keiten, die auch Therapeuten in sich entwickeln. Das üben wir in der Meditation.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 93

Drittens: Mit Sorgfalt handeln

Bei jeder Handlung, ob mit Körper, Rede oder Geist, geht es darum, achtsam, sorgfältig und ge-

wissenhaft bewusst zu sein, was man tut und nicht tut, was man kultiviert und was man lässt. So

sagt Eintritt in die Bodhisattva-Praxis:

„Körper und Geist in jeder Situation immer wieder zu untersuchen, das ist einfach und kurz, was

mit ‚Sorgfalt wahren‘ gemeint ist.“ Das heißt, ich überprüfe immer wieder, wie ich gerade unterwegs

bin. Es geht nicht darum, achtsam zu sein, sondern auch zu schauen, ob ich mich so verhalte, wie ich

mir das vorgenommen habe.

Zusammenfassung der Befreienden Weisheit:

„Ob gehend, liegend oder sitzend – sei stets voller Sorgfalt.“

Ein Sūtra sagt, wie viele andere auch:

„Beim Handeln seid weise gewahr „Ich handle“, beim Aufstehen seid weise gewahr „ich stehe

auf“, beim Sitzen seid weise gewahr „Ich sitze“.“

Warum Sorgfalt so wichtig ist, beantwortet Gipfel der Sutrenschätze:

„Wo stets achtsames und sorgfältiges Gewahrsein ist, können die Merkmale verkehrten Denkens

nichts ausrichten.“

Achtsamkeit bedeutet, präsent zu sein, dort dran zu bleiben, wo ich meine Aufmerksamkeit hinrichten

möchte. Und Sorgfalt schaut, ob sich jetzt alles so vollzieht, wie meine ursprüngliche Motivation ist.

Das sind zwei Fähigkeiten, die zusammenarbeiten.

Ich gebe euch ein Beispiel. Ich hätte vor, jemandem ein Geschenk zu machen. Ich würde dir voller

Achtsamkeit, voller Präsenz dieses Geschenk überreichen. Und die Sorgfalt schaut, ob ich das wirklich

so mache, dass es dich erreicht, es als Geschenk ankommt, und würde unter Umständen sehen, ich war

zwar achtsam und im Moment, aber habe nicht darauf geachtet, ob du gerade Zeit hast.

Die Sorgfalt achtet darauf, ob es mit der entsprechenden Geste, der entsprechenden inneren Haltung

getan wird. Sie ist nicht nur das Sein im Moment, sondern schaut auf die Qualität dieser Präsenz, die

Qualität dieser Handlung.

Es ist eine zusätzliche Form der Achtsamkeit, die eine gewisse Selbstüberprüfung ermöglicht. Und da

geht es vor allem darum, ob die Handlungen so ausgeführt werden, wie wir das ursprünglich beabsichtigt

haben. Das Ziel war, dich glücklich zu machen mit dem Geschenk, aber wenn das völlig daneben geht,

obwohl ich zwar schön im Moment war, aber kein umfassendes Gewahrsein: dann sagt mir die Sorgfalt,

nein, da hättest du es besser machen müssen, innehalten, etwas warten müssen und verlangsamen usw.

Das ist die Sorgfalt bei Handlungen.

Pure Achtsamkeit ist, wenn wir ein Fenster putzen, dass ich dabei bin und spüre, wie sich meine Hand

bewegt, wie der Kontakt mit dem Schwamm ist, mit dem Fensterleder usw. Ich bin präsent, es ist eine

volle Erfahrung.

Die Sorgfalt schaut, ob das Fenster auch sauber wird, denn das war das ursprüngliche Anliegen. Sorgfalt

ist nicht die bloße Achtsamkeit, beim Fensterputzen präsent zu sein. Sorgfalt ist zu schauen, ob es auch

so gemacht wird, wie die ursprüngliche Motivation war.

Das sind zwei sich ergänzende Fähigkeiten.

Viertens: Weiser Umgang mit Nahrung

Sehr wenig zu essen macht hungrig und hat unter anderem zur Folge, dass die (Meditations-)

Erfahrungen schwächer werden. Sehr viel zu essen macht den Körper schwer und vermehrt unter

anderem schläfrige Dumpfheit. Unverträgliche Nahrung oder Essen von schlechter Qualität zu

sich zu nehmen, bewirkt das Auftauchen neuer und alter Krankheiten und führt dazu, dass wir

körperlich nicht in der Lage sind, uns heilsamen Aktivitäten zu widmen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.94 Das ist 16. Jahrhundert. Essen von schlechter Qualität gab es auch damals schon. Das ist auch heute ein

Riesenthema. Wir wollen das Erwachen verwirklichen, wir wollen lange leben, um den Dharma prakti-

zieren zu können: lasst uns Nahrung von guter Qualität essen. Schluss mit der Industrienahrung, mit den

ganzen Zusatzstoffen. Lasst uns natürliche Produkte essen. Das ist gemeint.

Von Emotionen wie Begierde, Abneigung und dergleichen getrübt Nahrung zu sich zu nehmen,

führt zu „nicht zu preisenden“ Geisteszuständen, wo wir geistig nicht fähig sind, heilsam zu han-

deln.

Mit Begierde eine Tafel Schokolade nach der anderen zu verschlingen, vernebelt den Geist. Es erhöht

nicht unsere Fähigkeit, heilsam zu handeln, denn Nahrung soll unsere Fähigkeit zu heilsamem Handeln

erhöhen. Wenn wir uns streiten während wir essen: ihr wisst, wie schlecht wir dann verdauen. Die meis-

ten von uns merken das sofort. Sie bekommen Durchfall oder Verstopfung, es gibt Sodbrennen. Mit

Stress zu essen führt schnell zu Sodbrennen. Dieselbe Nahrung ruhig, entspannt eingenommen, führt

nicht zu Sodbrennen. Diese Symptome kennt ihr. Das ist hier gemeint.

Also lasst uns das Essen mit Freude einnehmen, mit heilsamen Geisteszuständen. Das gehört zu einem

weisen Umgang mit Nahrung.

Es wird deshalb empfohlen, mit Maß - nicht zu viel, nicht zu wenig - verträgliche Nahrung guter

Qualität zu essen, so als würden wir eine Arznei einnehmen, um unseren Körper am Leben zu

halten - Nahrung ist Medizin, ist Arznei -. So empfiehlt es der Brief an einen Freund (Nagarjuna)-

im zweiten Jahrhundert -:

„Betrachte Nahrung als Heilmittel und nimm sie frei von Begehren und Abneigung zu dir. Nähre

mit dem Essen nicht deinen Stolz, nähre nicht deine Arroganz, nähre nicht die eigene Bedeutung

– nähre einfach nur deinen Körper.“

Er schrieb an einen König, einen Maharaja, der extrem reich war und sich ohne weiteres nicht nur 5-

Gang-Menüs auftischen lassen konnte, sondern unbegrenzt viele Gänge, Zutaten usw. und damit ange-

ben konnte vor anderen, wie toll seine Küche ist.

Ihr wisst, die ungesündesten Essen sind die, zu denen wir andere einladen. Das ist doch seltsam, völlig

verrückt: die großen Festessen sind immer die ungesündesten. Da geht es um Ansehen, gut dazustehen

als Koch/Köchin, Eindruck zu hinterlassen. Es geht um die eigene Bedeutung. Es geht gar nicht darum,

gesund zu essen. Es geht nicht mehr darum, den Körper so zu nähren, dass er heilsam denken und han-

deln kann.

Das führt oft in so unheilsame Geisteszustände, dass der Streit beim Familienessen zu Weihnachten fast

schon programmiert ist. Das ganze Drumherum ist emotional so aufgeladen. Und das war schon im 2.

Jahrhundert nach Christus der Fall. Damals kannten sie das Problem schon.

Also: entspannt essen, gute Qualität, verträgliche Nahrung und nicht, um irgendetwas anderes zu nähren

als diesen kostbaren Körper, der uns ermöglicht, den Dharma zu praktizieren. So einfach ist das. Es

könnte so einfach sein.

Wenn wir die Nachteile der Esslust kontempliert haben, werden wir auf diese Weise essen. Be-

denke: Zuviel zu essen, führt zu einer Abneigung wie Erbrechen, es begünstigt Krankheiten und

belastet den Körper mit dem Verdauen und Ausscheiden von all dem Überfluss. Obendrein kostet

das Kultivieren und Herstellen von Nahrung viel Mühe und Leid. Viele Lebewesen und Menschen

sind an der Produktion solch überflüssiger Nahrung beteiligt.

Zu viel zu essen, vermehrt Anhaften, Ablehnung und Dumpfheit. Diese tragen zu Schädlichem bei

und fördern letztlich eine Wiedergeburt in den niederen Daseinsbereichen. Wo wir aufgrund von

Gier hinkommen oder aufgrund von Mangelgefühlen.

Der Edle Asanga riet: „Erfreue dich mit Maß, sei dir dankbar des Geschenkes der Nahrung be-

wusst, kümmere dich darum, dass die kleinen Lebewesen im Körper am Leben [und im Gleich-

gewicht] bleiben - damit sind die kleinen Lebewesen, die Mikroben, Bakterien gemeint - und iss mit

der Motivation, das Wohl der Lebewesen zu bewirken.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 95

Das macht doch alles Sinn. Es ist, als wäre es für heute geschrieben und es zeigt uns, dass das immer

schon ein Thema war. Wir haben hier einen Text vor uns aus dem armen Tibet. Tibet war kein reiches

Land, Tibet hatte wenig Nahrung - und trotzdem dieselben Themen wie wir. Wo die Tibeter konnten,

wenn sie es mal konnten, haben sich vollgestopft mit Fleisch, dass es triefte.

Patrul Rinpoche beschreibt, wie die gierigen Mönche sich ihr Übergewand über den Kopf ziehen, um

sich unter dem Gewand das Fleisch reinzustecken - und dann sprechen sie wieder mit den anderen und

dabei laufen ihnen die Fetttropfen den Hals runter. Das war ein Festessen. Es gab nicht so häufig ein

Yak, das geschlachtet wurde. Das musste für eine Familie ein ganzes Jahr reichen. Aber die Gier war

immer schon genauso, überall auf dem Planeten, immer dasselbe Thema.

Also nehmt es euch zu Herzen, wenn es überhaupt noch nötig ist. Wahrscheinlich seid ihr ohnehin schon

so unterwegs. Und wenn es nötig ist, nehmt es euch zu Herzen und tut es der Dharmapraxis zuliebe, um

mehr Kraft zu haben für die Praxis, die uns selbst befreit und für die Praxis, die anderen gut tut - für

eure heilsame Aktivität in dieser Welt. Wir halten uns nicht nur für uns selbst gesund, sondern wir halten

uns auch gesund für alle, die uns umgeben.

Meditation

Stille Meditationsphase.

Wer interessiert ist, kann mit der Meditation einfach sitzenbleiben, einfach weiter meditieren: einfach

sein - und ihr werdet merken, dass sich Dumpfheit, Trägheit, aufgewühltes Sein, alle Gedanken, alle

Emotionen, alles was auftaucht von selbst auflöst. Es tauchen Schmerzen im Körper auf, sie lösen sich

auf, auch wenn man sich nicht bewegt. Das alles löst sich einfach auf.

Das waren nur 35 Minuten, aber ihr könntet einfach weitermachen, nicht jetzt, aber wenn sich das richtig

anfühlt. Einfach sitzen bleiben, wach bleiben und quasi zuschauen, erleben, wie sich alles von selbst

auflöst.

Was auch auftaucht, auf alles antworten wir mit noch ein bisschen mehr Entspannung. Noch ein bisschen

mehr sich öffnen, noch ein bisschen mehr nachgeben, egal was es ist. Wir öffnen uns in das wache Sein

hinein. Wir brauchen nichts zu suchen. Egal was auftaucht, es ist einfach eine Herausforderung, wach

zu bleiben und uns noch ein bisschen mehr zu öffnen.

Zu Anfang wird euch das nur für kurze Strecken möglich sein. Aber dann merkt ihr, dass das eigentliche

interessante Meditieren beginnt, wenn ihr euch durch die anfänglichen Schwierigkeiten bereits hindurch

entspannt habt.

Ich war jetzt gerade müde und jetzt würde es anfangen, interessant zu werden. Interessant im Sinne von:

jetzt hat sich die Müdigkeit aufgelöst, jetzt beginnt der Geist wach und klar zu werden und eigentlich

wäre es schön, weiter zu sitzen. Wenn man mit diesen Prozessen vertraut ist, weiß man, dass es immer

so ist. Man braucht nur die Geduld und die Entspannung, damit es sich so manifestieren kann.

Einige von euch dürften dazu in der Lage sein, es einfach mal auszuprobieren. Dabei ist es gar nicht

wichtig, ob ihr auf dem Boden sitzt oder im bequemsten Relax-Sessel. Egal welche Haltung, es wird

immer nach relativ kurzer Zeit unangenehm. Wir suchen uns einfach die bequemste aus. Wir können

auch im Liegen meditieren, so lange wir wach bleiben. Auch das wird unangenehm mit der Zeit.

Wir können nicht davonlaufen. Einfach bleiben und uns in das hinein öffnen, was gerade stattfindet,

ohne zu kämpfen, ohne etwas anderes haben zu wollen. Voller Interesse zu entdecken, was dann kommt,

wie es dann ist, wenn wir uns auch noch in diese Welle hinein öffnen und noch einmal … und dann

merken wir, dass innerlich alles allmählich beginnt, sich auszugleichen.

So entsteht mit der Zeit das, was in den alten Texten Samadhi genannt wird, meditative Versenkung

oder Vertiefung oder einfach tiefe Geistesruhe bei offenem Geist. Da haben wir schon einiges verstan-

den. Das ist möglich, weil wir die Einsicht haben, dass nichts ein Problem ist, gar nichts.

Alles löst sich genauso auf, wie es entstanden ist. Das ist sehr überraschend. Wir denken, wir müssten

etwas tun, damit sich etwas auflöst. Genau diesen Irrtum berichtigen wir, indem wir mal ein bisschen

forschen, was passiert, wenn wir mal nichts tun.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.96 Das wollte ich euch noch mit auf den Weg des Forschens geben.

Fragen

Teilnehmer/-in: Bei den Christen spricht man vom Bruch mit Gott durch Adam und Eva. Ich glaube,

damit ist die Vertreibung aus dem Paradies gemeint. Wie erklären sich die Buddhisten, dass wir von

Anfang an von unserer göttlichen Natur getrennt sind? Was ist eigentlich passiert?

Es geht um die Ursünde. Aus buddhistischer Sicht gibt es eine einfache Erklärung dazu. Die Vertreibung

von Adam und Eva aus dem Paradies, hat etwas mit einem Apfel zu tun - also ein Symbol des Greifens

in dieser Legende. Vermutlich hat es ja nie stattgefunden. Damit kommt zum Ausdruck, dass Anhaften,

Begierde, Greifen geweckt wurde.

Durch das Greifen, Anhaften, durch das Wissen-Wollen, das mehr Wissen-Wollen, das mehr Haben-

Wollen entstand der Bruch mit dem, was wir Gott nennen. Dann war das Paradies zu Ende. Das nennt

man Ursünde.

Für uns Buddhisten ist es das dualistische Greifen. Wenn wir in die Trennung gehen von Subjekt und

Objekt und in der Haltung sind: hier ich, Beobachter, hier ich, Wollender, Nichtwollender und das, was

in meinem Geist auftaucht als Objekt des Anhaftens und des Ablehnens. Dazu braucht es keine Männer

und Frauen. Es ist völlig unabhängig davon, nur ist es das stärkste Symbol dafür.

Auch der Wissensdurst - die Schlange und der Apfel -, das besser Wissen-Wollen, ich will und ich will

herrschen… all das ist Ausdruck dieser Trennung.

Für uns gibt es keine Ursünde, sondern nur einen schon ewig lang bestehenden Irrtum: zu meinen, das

Ich sei eine getrennte Entität, ein Etwas, ein Jemand, den man finden könne, den es wirklich gäbe. Das

ist eigentlich das Urproblem, das es schon immer gibt, solange Samsara existiert. Also genauso lange

wie die Christen sagen, dass wir aus dem Paradies vertrieben worden sind. Ungefähr so lange existiert

Samsara.

Tatsächlich gibt es einen Weg zurück ins Paradies. Und zwar, das Greifen, die Ich-Bezogenheit aufzu-

lösen, das zeitlose Gewahrsein, die Natur des Geistes, zu erfahren, die uns nie verlassen hat, wo nie eine

wirkliche Trennung stattgefunden hat. Damit eröffnet sich uns wieder die erwachte Dimension. In der

christlichen Sprache sind wir sind dann wieder zur Rechten Gottes oder wo auch immer: bei Gott, in

Gott, wenn ihr wollt. Oder Gott ist in uns. Das ist damit gemeint, so einfach ist das.

Wie ihr an diesem Kernbeispiel erkennen könnt, ist der Dharma, die buddhistischen Unterweisungen,

extrem hilfreich, die zum Beispiel schwierig zu verstehenden Passagen der Bibel zu verstehen. Es wird

ganz leicht, ganz offenkundig, was damit gemeint ist.

Es wird auch klar, dass niemand grundlegend Sünder ist, sondern einfach nur, dass wir durch und durch

- aber doch nicht ganz - von diesem dualistischen Greifen bestimmt sind. Aber in der Tiefe bleibt das

Greifen selbst immer das erwachte Gewahrsein, das zeitlose Gewahrsein. Es kann sich jederzeit auflö-

sen. Es gibt keinen Zeitpunkt, bis zu dem es unbedingt dauern müsste. Es kann sich jetzt auflösen.

Für mich macht das Sinn, für mich hat sich auch diese schwierige Passage gelöst. So könnte man viele

Passagen aus der Bibel nehmen und durch den Dharma zu einem klaren Verständnis kommen. Das ist

das intellektuelle Verständnis, aber es braucht die Erfahrung, dass es tatsächlich so ist.

Teilnehmer/-in: Wie konnte oder wollte etwas so Perfektes sich in etwas so Imperfektes wandeln? Wie

kommt es, dass sich unser Geist gewandelt hat?

Du meinst, wie es dazu kommt, dass wir aus diesem zeitlosen Gewahrsein herausgefallen sind? Diese

Frage wurde schon vielen Meistern gestellt, auch dem Buddha schon. Er sagt, man weiß nicht, wann es

angefangen hat - und er möchte nicht darüber spekulieren.

Ein Nyingma-Meister hat einmal darauf geantwortet: das kann man sich so vorstellen. Erst war alles ein

Spiel mit den Erscheinungen, so wie Kinder im Sandkasten spielen. In diesem Spiel wurde es irgendwie

plötzlich ernst, man hat sich verheddert im Spiel der Erscheinungen und sich selbst und die Erscheinun-

gen für getrennt gehalten. Dieser Irrtum ist jederzeit wieder aufzulösen. Man kann ins frei fließende

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 97

Spiel zurückfinden. Aber manchmal bleibt man auch verstrickt und es kann sehr lange dauern, wie Kin-

der, die sich im Sandkasten streiten. Mehr kann ich dazu auch nicht sagen.

Fünftens: Sich bemühen, nicht von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang

durchzuschlafen

Wir sind auf Seite 15 und kommen zum 5. Punkt dieser fünf Prinzipien, die als Vorbereitung der Medi-

tation helfen, in die Befreiung zu finden. Da muss ich direkt etwas im Titel verbessern:

Als Yogis machen wir Anstrengungen in der Praxis, nicht nur den ganzen Tag über zu praktizie-

ren, sondern mit freudiger Ausdauer das Gewahrsein auch während des ersten und letzten Drit-

tels der Nacht zu wahren.

Dazu müsst ihr wissen, wie die Tibeter ihren Tag eingeteilt hatten. Es gab drei Drittel für den Tag von

je vier Stunden und dreimal vier Stunden nachts. Wenn man also im ersten und letzten Drittel der Nacht

nicht schläft, bleiben nur noch vier Stunden Schlaf übrig.

Das war die normale Zeitdauer für ein Dreijahres-Retreat. Da wurden alle angehalten, erst um elf Uhr

ins Bett zu gehen und um drei Uhr schon wieder aufzustehen. Das war klassisch. Bei uns wurde das

alles sehr gemäßigt gehandhabt, wir mussten erst um vier Uhr dreißig aufstehen. Später wurde es noch

etwas gelockerter.

Heute überlassen wir es im Grünen Baum dem Biorhythmus der Praktizierenden. Aber die Ermutigung

ist immer noch, die erste Meditationssitzung um fünf Uhr morgens zu beginnen oder früher.

Hierzu finden wir in Zusammenfassung der Befreienden Weisheit:

„Freudige Ausdauer verhindert das Abnehmen der Qualitäten - weil wir ständig am Ball bleiben -

und lässt uns den Schatz der Siegreichen finden, das grenzenlose, zeitlose Gewahrsein.“ Also nicht

faul sein, sondern freudig ausdauernd so viel wie möglich praktizieren.

Der Brief an einen Freund empfiehlt:

„Meister der Bewusstheit, meditiere nicht nur den ganzen Tag, sondern nutze auch das erste und

letzte Drittel der Nacht, nach Untergang und vor Aufgang der Sonne, um Früchte hervorzubrin-

gen. Dazwischen schlafe mit Gewahrsein.“

Der Schlaf mit Gewahrsein bedeutet, dass wir im Tiefschlaf im klaren Licht weilen und im Traum be-

wusst sind, luzide träumen oder gar nicht träumen, die Träume sich gar nicht mehr formen, weil es

niemanden mehr gibt, der an diese Illusionen glaubt.

Bei der Praxis im Schlaf – falls das von Interesse ist – sind vier Aspekte zu beachten.

1) Körperhaltung: In der mittleren der drei Phasen der Nacht legen wir uns in der „Löwenhal-

tung“ auf die rechte Seite, das linke Bein [leicht angewinkelt] auf dem rechten - eine sanfte Löffel-

stellung, nicht so stark angezogen -. So wie es heißt, bewirkt diese Praxis, dass der Körper nicht

schlaff wird, der Schlaf nicht dumpf wird, auch beim Schlafen nicht das Bewusstsein verloren

wird und es nicht zu negativen Träumen oder Traumhandlungen kommt.

Das ist die Haltung, in der der Buddha gestorben ist und die liegenden Buddha-Statuen sind ungefähr

so. Ich will euch dazu gar nicht viel mehr erzählen, denn es ist gar nicht so hilfreich, sich zu zwingen,

so zu schlafen. Wichtig ist, dass euer Schlaf leicht ist, leichter wird, ihr nicht wie Steine schlaft, sondern

dass allmählich Bewusstsein hineinkommt. Aber das lohnt sich nur, wenn ihr intensiv praktiziert. Bei

intensiver Praxis werden wir sogar ermutigt, sitzend zu schlafen, damit wir nicht so tief einschlafen und

wacher bleiben.

2) Gewahrsein: Tagsüber, solange wir nicht schlafen, sind wir kontinuierlich dessen gewahr, wo-

rauf wir unseren Geist ausrichten. Und auch wenn wir einschlafen, ist das Gewahrsein in der

Lage, den Geist auf heilsames Handeln ausgerichtet zu halten.

Heilsame Geisteszustände sind die Praxis im Tiefschlaf, das Gewahrsein, in erhellender Klarheit zu

ruhen und im Traum heilsame Handlungen auszuführen, den Dharma zu praktizieren usw.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.98 3) Sorgfältige Achtsamkeit: Wenn wir gewahr sind, wird das Auftauchen von emotionaler Ver-

strickung und dergleichen bemerkt und aufgegeben. Im Schlaf und Traum führt solche Achtsam-

keit dazu, dass die Verwirrung klein bleibt.

Es ist so, dass Yogis nachts wahrnehmen können, wenn ihr Geist sich verstrickt, unter Anspannung

kommt und ein subtiles Haften an Gedankenformen in den Träumen und auch im Halbschlaf stattfindet.

Man hat sogar im Tiefschlaf einen Sensor dafür. Das kann man bemerken und sich sogleich tiefer ent-

spannen. Dadurch bleibt die Verwirrung klein.

4) Vorbereitung des Aufwachens: Damit sich der Körper im Schlaf erholen und neue Kraft schöp-

fen kann, gehen wir rechtzeitig schlafen und geben uns vor dem Einschlafen den Impuls aufzu-

stehen, sobald wir wach werden, um eifrig mit der Praxis des Heilsamen fortzufahren.

Wenn der erste bewusste Gedanke kommt – in dem Moment werden wir wach. Dann nicht mehr um-

drehen, sondern raus aus dem Bett, keine Trägheit kultivieren. Unser Organismus signalisiert uns, dass

wir jetzt wach sind und dann sollten wir uns nicht anstrengen, mangelndes Gewahrsein zu kultivieren.

Rechtzeitig schlafen ist für die meisten früher, als was wir normalerweise tun. Im Moment liegt die

Mitte der Nacht ungefähr bei Ein Uhr dreißig. Die Mitte ist nicht Mitternacht, es ist die Mitte zwischen

Dunkel- und Hellwerden. Sie liegt etwas später. Ein Yogi versucht, mehr Schlaf vor der Mitte zu be-

kommen, nicht so spät ins Bett zu gehen, denn der Schlaf nach der Mitte ist etwas weniger erholsam.

Es ist besser, schon um zehn, halb zehn oder gar neun Uhr ins Bett zu gehen, als das Wachsein nachts

auszudehnen und dafür in den Morgen hinein zu schlafen. Tendenziell braucht man da mehr Schlaf und

ist nicht so ausgeruht. Wer früh schlafen geht und früh aufsteht, braucht weniger Schlaf als derselbe

Mensch, der spät ins Bett geht und dann auch später aufwacht. Er braucht oft eine Stunde mehr als er

brauchen würde, wenn er früh ins Bett gehen würde.

Achtet darauf, wie es bei euch ist. Findet euren Biorhythmus heraus, aber im Moment ist er geprägt von

euren Gewohnheitsmustern. Wenn ihr die Gewohnheit habt, abends nach 20 Uhr euch noch zu stimu-

lieren mit Lesen, Unterhaltungen, Fernsehen, Internet, Emails beantworten, dann bleibt ihr viel länger

wach, als euer normaler Biorhythmus wäre.

Achtet darauf, was sich einpendelt, wenn ihr euch über längere Zeit abends nicht mehr künstlich stimu-

liert. Erstmal werdet ihr merken, dass ihr Schlaf nachholt. Ihr seid früh müde, dann schlaft ihr und stellt

keinen Wecker in der Umstellphase. Steht einfach auf, wenn ihr wach werdet. Bleibt tagsüber wach,

abends meditiert und seit achtsam darauf, wann die ersten Zeichen kommen, dass ihr eigentlich gerne

ins Bett gehen würdet. Geht dann ins Bett.

Macht das viele Male, bis ihr merkt, euer Biorhythmus hat sich eingependelt, ihr kennt ihn ungefähr.

Dann wisst ihr, was euch gut tut. Die meisten von uns leben einen entfremdeten Biorhythmus, der ihnen

gar nicht so gut tut, sind zu lange abends auf und schlafen zu weit in den Morgen hinein. Es ist unnatür-

lich, in unseren Breitengraden noch zu schlafen, wenn es draußen schon hell wird. Aber auch im Winter

ist es völlig natürlich: der innere Rhythmus wird dazu führen, dass ihr wach werdet, lange bevor es hell

wird.

Wir brauchen gar nicht so viel Schlaf, wenn wir uns tagsüber nicht so aufputschen und stressen. Je

entspannter wir durch den Tag gehen, desto weniger Schlaf brauchen wir. Achtet auch darauf, wenn ihr

morgens wach werdet: versucht ohne Kaffee auszukommen, ohne aufputschende Getränke, damit ihr

euch spüren könnt. Wie geht es eigentlich, wenn ich mich nicht immer künstlich stimuliere? Was ist

eigentlich los mit meinem Organismus?

Ich selbst lebe jetzt seit 40 Jahren ohne Wecker. Der Biorhythmus hat sich ganz stabil eingependelt.

Ganz stabil, auch wenn ich später ins Bett gehe. Ich brauche keinen Wecker morgens, um aufzustehen.

Das ist der innere Rhythmus. Das ist wunderbar, wenn die innere Uhr ganz vertraut wird. Es macht die

Praxis ganz leicht. Ich wünsche euch allen, dass ihr auch diese Unabhängigkeit von Weckern und Auf-

putschmitteln findet und spürt, was euer Organismus wirklich braucht.

Natürlich haben nicht alle von euch Berufe, die das ermöglichen, aber viele müssen ja erst um acht Uhr

bei der Arbeit sein. Da ist noch jede Menge Zeit, wenn sich euer Biorhythmus eingespielt hat, davor zu

praktizieren, ohne sich anzustrengen. Das sind so ein paar Tipps aus den Erfahrungen der Yogis.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 99

Beim Einschlafen visualisieren wir helles Licht und lassen den Geist darauf gerichtet, wenn der

Schlaf kommt. So fällt der Geist nicht in Dunkelheit, der Schlaf ist erholsam, wir erwachen mor-

gens zur rechten Zeit und können uns voller Energie der Praxis widmen.

Das ist für die Tiefschläfer, für die, die sonst in völlige Unbewusstheit versinken. Diejenigen, die Mühe

haben einzuschlafen, sollten ein dunkles Licht, zum Beispiel ein tiefblaues Licht visualisieren, das be-

ruhigend wirkt und ihnen hilft einzuschlafen. Die Farbe, die Helligkeit des Lichtes passen wir dem an,

was wir beabsichtigen.

Tagesablauf und Struktur der Meditationssitzungen

Eigentlich würden zwei oder drei [lange] Meditationssitzungen ausreichen -

Zwei Sitzungen würde bedeuten, dass die Praktizierenden morgens beim Aufwachen um fünf Uhr an-

fangen zu praktizieren und dann durchpraktizieren bis 12 Uhr mittags. Das ist eine Meditationssitzung,

die dauert sechs, sieben Stunden. Dann kommt nachmittags die zweite Sitzung von 14 Uhr bis 21 oder

22 Uhr. Das sind nochmal sieben Stunden. Das würde ausreichen.

So pendelt es sich ein bei erfahrenen Praktizierenden, die sehr entspannt sind. Sie strengen sich beim

Praktizieren nicht an, sodass sie nicht ständig aufhören müssen, um Pause zu machen. Sie sind entspannt

und die Praxis entspannt noch mehr. Es gibt gar nichts noch Entspannteres als die Praxis. Deswegen

kann man durchpraktizieren.

Das hat Gendün Rinpoche uns empfohlen und so haben wir tatsächlich praktiziert im zweiten, dritten,

vierten Retreat - oder wenn man endlich mal Zeit hat, ungebunden von diesen ganzen Gongs, die in den

Retreatzentren immer erklingen, um die Dreistunden-Sitzungen zu beenden und Pause und die nächste

… dann kann man einfach durchpraktizieren.

Es gibt auch Praktizierende, die aus dem ganzen Tag eine Meditationssitzung machen. Das würde ei-

gentlich reichen, man kann auch drei daraus machen -

doch viele Lehrer und auch die Praxislinie empfehlen vier Sitzungen: morgens - von 5 bis 8 Uhr -,

vormittags - von 9 bis 12 Uhr -, nachmittags von 14 bis 17 Uhr, dann meistens die Gruppenpraxis -

und abends – nochmal von 19 bis 22 Uhr. Das sind die üblichen vier Sitzungen à drei Stunden. Jede

dieser Meditationssitzungen sollte aus den drei Phasen Vorbereitung, Hauptpraxis und Abschluss

bestehen.

Vorbereitung: dazu gehört immer Zuflucht und Bodhicitta. Abschluss ist immer die Widmung und even-

tuell noch Wunschgebete. Die Hauptpraxis ist die Praxis, die unsere zentrale Praxis ist, die auch ein

nicht-begriffliches Verweilen beinhalten kann, das heißt Phasen, in denen wir alles Tun seinlassen und

nur im natürlichen Sein sind. Das sollte auf jeden Fall in der Hauptpraxis dazugehören. Die darf nicht

nur aus Ritual bestehen oder aus irgendeiner Mantra-Rezitation, Herzensgebete, alles was noch mit Tun,

Machen, Wollen verbunden ist. Es ist ganz wichtig, damit die Praxis ins Erwachen führt, dass das

Nichts-Tun, nichts-mehr-Wollen, das natürliche Sein, Teil der Hauptpraxis ist.

Jetzt kommen etwas ausführlichere Erklärungen dazu.

1)Vorbereitung: Falls es die drei Stützen gibt - auf deinem Altar. Damit sind die Stützen für Körper,

Rede und Geist des Erwachens gemeint: eine Statue als Ausdruck der körperlichen Präsenz des Erwa-

chens, Dharma-Texte als Ausdruck der Rede des Erwachens und ein Stupa als Ausdruck für den Geist

des Erwachens -, arrangieren wir vor ihnen die üblichen, ständig präsenten Opfergaben. Das werde

ich jetzt nicht alles erklären: einfach eine Reihe von Opfergaben, mit denen wir die Gegenwart der

Buddhas einladen.

Dann lassen wir auf einem angenehmen Sitz Körper und Geist in natürliche Gelöstheit eintreten

- wir beginnen mit natürlicher Gelöstheit -, wobei das ausschweifende Denken des Anhaftens, Ab-

lehnens usw. durchtrennt werden muss - also unterbunden werden muss. Wir müssen uns darum

kümmern, dass wir nicht ewig weiterdenken und in unseren täglichen Gedankenketten, Verdauung usw.

verweilen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.100 Wenn ausschweifendes Denken hier nicht durchtrennt wird, wird sich bei der Hauptpraxis des

Heilsamen der Fehler zeigen, dass wir diese nicht [vor Ablenkung] bewahren können. Mit dem

Geist des Erwachens (Bodhicitta) treten wir dann in die Praxis des Heilsamen ein, wobei alles, was

wir praktizieren, dank des Bodhicitta zu einer Ursache der Erleuchtung wird.

Natürliches Verweilen ist das erste. Leider vergessen die meisten von euch diesen Startpunkt. Ihr setzt

euch hin und wollt direkt loslegen. Dabei ist das erste, was wir machen, wenn wir uns hinsetzen, Nichts-

tun. Natürliches Verweilen. Das ist das Allerwichtigste.

Wenn wir im natürlichen Sein angekommen sind, wenn der Geist frisch wird, dann legen wir die Hände

zusammen, nehmen unsere Zuflucht, entwickeln Bodhicitta und gehen in die Hauptpraxis über. Da sind

die meisten von uns zu hastig. Wir geben uns nicht ausreichend Zeit, anzukommen auf dem Sitz.

Gendün Rinpoche hat uns das immer bildlich vorgemacht. Ihr wisst ja, diese tibetischen Praxistexte sind

so längliche Texte, die man aufmachen kann. Dann hat er uns vorgemacht: und dann setzt du dich hin

und willst direkt loslegen. Nein, lass den Text zu. Komm erst einmal an, spür dich überhaupt erst einmal.

Lass den Atem zur Ruhe kommen. Gib dem Geist Zeit, sich zu sammeln und zu öffnen. Dann unterbre-

che das ausschweifende Denken, stabilisiere ihn noch etwas. Dann, wenn die Lust, die Freude kommt

zu praktizieren, öffne den Text, dann beginne. Das ist der richtige Moment.

Das Problem ist, das wir eng getaktet sind. Wir gucken auf die Uhr: verflixt, ich habe nur noch 55

Minuten, bevor ich zur Arbeit muss. Und wir wollen sofort loslegen. Wir vergessen, uns die Zeit zu

geben, damit die Seele nachkommt. Wir sind noch nicht ganz da und legen schon los. Da müssen wir

etwas aufpassen, nehmt euch die Zeit. Seid nicht so eng getaktet.

Wenn ihr 55 Minuten habt, nehmt euch nur eine 30-minutige Praxis vor; keine, die eine Stunde und zehn

Minuten dauert und die ihr dann komprimieren müsst. Immer etwas weniger, als ihr Zeit habt, damit ihr

ganz geruhsam in die Praxis einsteigen könnt. Nicht wie sonst: was eigentlich zu groß ist, noch irgend-

wie reinquetschen in unseren Zeitrahmen, sondern etwas Kleines nehmen und reinstellen und es kann

sich ausweiten. Das hat viel bessere Ergebnisse. Gebt euch Zeit und Ruhe.

2) Hauptpraxis: So wie bereits bei den Kontemplationen über Unbeständigkeit und dergleichen

erwähnt - Vorbereitungen -, halten wir unseren Geist ausgerichtet. Dabei nutzen wir die erläuter-

ten Meditationsmethoden mit und ohne Merkmale in ihrer jeweiligen Reihenfolge und mit Sys-

tem, so wie es den Geist sicher stabilisiert.

Das wurde in den letzten Kursen schon beschrieben, ich wiederhole es. Meditationsmethoden mit Merk-

malen besitzen entweder Worte, Visualisationen, wir benutzen Gebete oder Mantras, innere Vorstellun-

gen. Da macht man etwas, man richtet den Geist auf etwas aus. Das sind viele der Meditationsmethoden.

Auch der Atem, die Atemmeditation, ist eine Praxis mit Merkmalen, weil wir auf die Empfindungen des

Ein- und Ausstreichens des Atems meditieren. Das sind die Merkmale, die wir als Stütze nehmen für

die Praxis.

Meditation ohne Merkmale ist, wenn wir den Geist so weit werden lassen wie der Himmelsraum, wenn

wir nichts Spezielles mehr meditieren, sondern einfach das natürliche Entstehen und Vergehen der Er-

scheinungen zulassen. Und so weiter… Wir werden dazu noch kommen. Nur dass ihr den Unterschied

schon kennt.

Diese Meditationsmethoden mit und ohne Merkmale wurden aufgrund der Erfahrungen der Praktizie-

renden in eine Reihenfolge gebracht, so wie ihr das im Ozean des Wahren Sinnes vom 9. Karmapa lesen

könnt. Das Buch gibt es auf Deutsch und Englisch. Das ist eine strukturierte systematische Darstellung,

wie man meditieren kann.

Da ist es wichtig, dass wir uns durcharbeiten in der Reihenfolge und mit System. Davon haben wir mehr

Erfolg, als wenn wir hin und her springen und uns manchmal überfordern, manchmal unterfordern, ver-

suchen mit Meditationsmethoden zu praktizieren, für die wir noch nicht vorbereitet sind, andere noch

gar nicht stabilisiert haben, die wir nur kurz berührt haben.

Wichtig ist: mit System eine Methode, die uns inspiriert, so lange zu praktizieren, dass wir sie jederzeit

zur Verfügung haben. Wenn ich zum Beispiel mit dem Atem praktiziere, auf die Atembewegungen,

suche ich mir eine Form von Atemmeditation aus - und die praktiziere ich so lange, bis ich sie jederzeit

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 101

auch bei der Arbeit, in einer Teambesprechung, auf dem Fahrrad usw. aktivieren kann, damit sie mir

auch beim Sterben zur Verfügung steht, sie mir einfach richtig vertraut geworden ist.

Dann kann ich mir eine andere aussuchen, zum Beispiel die Meditation auf den Raum. Auch die mache

ich so lange, bis es mir ganz vertraut ist, mit Raumwahrnehmung zu meditieren. Nur um zwei Beispiele

zu nennen.

Ich mache das nicht nur kurz für eine Sitzung oder kurz für eine Woche, sondern so lange, bis mir das

so vertraut ist, dass ich nur daran zu denken brauche - und schon finde ich Zugang zu dieser Art des

Seins, der Achtsamkeit, des Gewahrseins.

Die Voraussetzung muss sein: ich muss diese Meditationsmethode mögen, sie sollte mir gut tun und

Freude machen, wenn ich sie einsetze. So arbeite ich mit jeder, die mich inspiriert, so lange, bis ich mich

nicht mehr von ihr getrennt fühle. Das ist gemeint mit: in der richtigen Reihenfolge und mit System.

Mit intensiver Achtsamkeit achten wir darauf, dass der Geist nicht von einer Methode in irgend-

eine der vielen anderen abschweift.

Was oft passiert: wir sind mit dem Atem und dann kommt ein starkes Geräusch und wir denken: ah,

jetzt meditiere ich auf Geräusche. Dann kommen starke Gedanken: dann meditiere ich mit dem, was

auch immer auftaucht. Nein.

Wenn wir eine Meditationsmethode haben, kommen wir während der ganzen Sitzung zu dieser Medita-

tionsmethode zurück. Wir lassen uns nicht in eine andere hineinziehen. Wir bleiben immer bei einer. Da

brauchen wir eine gesunde Disziplin, sonst ziehen uns unsere Muster in die eine oder andere Richtung

und wir lernen es nicht, die Kraft einer Methode an den verschiedenen Herausforderungen zu üben.

Kaum wird es ein bisschen intensiver, schweifen wir von unserer Methode ab und nehmen etwas ande-

res. Das ist nicht gut.

Bleibt also bei dem, wofür ihr euch entschlossen habt, für die Zeit, die ihr euch gesetzt habt. Wenn ihr

euch sagt: ich mache jetzt 15 Minuten Praxis mit dem Atem, dann praktiziert für die 15 Minuten mit

intensiver Achtsamkeit genau das, was ihr euch vorgenommen habt und nichts anderes. Bei der nächsten

Sitzung könnt euch ihr gern für etwas anderes entscheiden, aber auch nicht ständig wechseln, sondern

maximal zwei oder drei Meditationsmethoden im Laufe eines Tages zum Einsatz bringen. Nicht so viel

Verschiedenes.

Mit Achtsamkeit und Sorgfalt halten wir die Aufmerksamkeit bei der jeweiligen Methode ent-

sprechend der Reihenfolge und Vorgehensweise, denen wir folgen. Wenn wir nicht stabil bei der

Methode verweilen und von ihr abschweifen, dann beeinträchtigt dies, so wird erklärt, das ganze

Leben unsere Praxis des Heilsamen.

Wir werden immer schwankend bleiben in unserer Praxis. Um euch ein anderes Beispiel zu geben: wenn

jetzt jemand von euch die Chenresig-Praxis ausführt mit dem Mantra OM MANI PEME HUNG, dann

nehmen wir sie als unsere Hauptpraxis in jede Situation des Lebens hinein. Wir machen dann nicht

plötzlich wieder etwas anderes, sondern bleiben den ganzen Tag über dabei. Das ist unsere Hauptpraxis

und alles wird in diese Praxis hineingeholt.

Da machen wir nicht ein bisschen Atemmeditation, ein bisschen Raummeditation - und jetzt ist es wie-

der entspannter, ich kann wieder Mantra machen. Die ganze Zeit dranbleiben und alles in diese Praxis

hineinholen, denn sie ist komplett, wir können alle Situationen damit meistern.

Dann erst lernen wir die Kraft einer Methode kennen, wenn wir sie wirklich in jeder Situation anwenden.

Dann wissen wir, was sie wirklich bewirken kann. Sonst sind wir unser ganzes Leben schwankend,

hüpfen von einem zum andern. Das wird leider auch Auswirkungen in anderen Bereichen des Lebens

haben. Es wird uns an der Kraft fehlen, an etwas dran zu bleiben. Wir werden immer ein bisschen un-

seren Vorlieben und unseren Abneigungen folgen.

Es ist also ein wichtiger Schlüssel, von Anfang an den Geist ganz in die jeweilige Meditations-

methode hineinfinden zu lassen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.102 Wenn nun aber Anfänger schon zu Beginn den Geist für lange Zeit in der - Meditations- Methode

halten wollen, führt dies zu Dumpfheit und Wildheit, weil sie sich zu sehr anstrengen. Deshalb ist

es sinnvoll, viele kurze Sitzungen zu machen, wobei gilt:

Kürze hält Sitzungen frei von Fehlern und Häufigkeit stärkt die Qualitäten.

Ihr habt vorhin schon gelächelt, als ich euch von den langen Sitzungen erzählt habe. Wir sind nicht

entspannt, wenn wir lernen zu meditieren. Wir sind stark angespannt. Das ist unsere Ausgangsbasis.

Auch wenn wir uns einigermaßen entspannt fühlen, werden wir im Lauf der Jahre entdecken, wie ange-

spannt wir waren, als wir begonnen haben zu meditieren. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen.

Meditationsübung auf den Atem

Ein angespannter Mensch setzt sich zum Meditieren hin. Er sollte das nicht zu lange machen. Auch die

Übungen des Entspannens und Loslassens werden als anstrengend empfunden. Jede kleine Visualisati-

onspraxis und Mantrapraxis wird als anstrengend empfunden. Deswegen erstmal kurz, alles kurz.

Es kann sein, dass unsere ersten Übungen gerade mal einen Atemzug lang sind, also ganz achtsam zu

bleiben bei einem Einatmen.- -

Und wenn es geht, auch noch beim Ausatmen. - -

Und dann Pause. - -

Und wieder: Einatmen und Ausatmen.

Schafft ihr es, für diese zehn Sekunden unabgelenkt dabei zu bleiben? Versuchen wir es noch einmal,

völlig unabgelenkt bei den Empfindungen des Atems zu bleiben, für einen langsamen Einatem- und

Ausatemzyklus. - -

Und wieder Pause. - -

Und dann noch einmal. - -

Dabei sind wir in jeder Phase des Einatmens sowie am Umkehrpunkt und in jeder Phase des Ausatmens

voll gewahr. Schaut, ob ihr jede Phase des Einatmens, den Umkehrpunkt und des Ausatmens bewusst

erleben könnt. - -

Wenn euch das mehrfach gelungen ist, könnt ihr es auch mit zwei Atemzügen versuchen. Wollen wir

das zusammen machen?

Zwei Atemzüge. - -

Seid ihr unabgelenkt dabei geblieben, ohne an irgendetwas anderes zu denken? Weil es so schön war,

machen wir es noch einmal. - -

Und wieder Ausatmen. - -

Und wieder Pause.

Wir müssen diszipliniert sein mit der Pause, genauso wie mit der Achtsamkeit, während wir darauf

meditieren. Die Versuchung ist, direkt weiter zu machen - und in Kürze werden wir uns in Ablenkung

verlieren. Langsam steigern, von einem Erfolgserlebnis zum nächsten gehen, so dass es Freude macht.

Jetzt lasst uns zwei Atemzüge machen und dabei darauf achten, dass wir so atmen, dass es ein Genuss

ist. Unabgelenktes genussvolles Atmen, das uns gut tut. - - -

Und wieder Pause.

Wir müssen diszipliniert sein mit der Pause genauso wie mit der Achtsamkeit, während wir darauf me-

ditieren. Die Versuchung ist, direkt weiter zu machen und in Kürze werden wir uns in Ablenkung ver-

lieren. Langsam steigern. Von einem Erfolgserlebnis zum nächsten gehen. So, dass es Freude macht.

Jetzt lasst uns zwei Atemzüge machen, und dabei darauf achten, dass wir so atmen, dass es ein Genuss

ist. Ohne Ablenkung, genussvolles Atmen, das uns gut tut. - -

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 103

Und wieder Pause. - -

Wenn ihr das hinbekommt, entspannt achtsam zu sein, sodass es ein Genuss ist zu atmen, dann merkt

ihr, dass ihr die Pause gar nicht so nötig braucht wie sonst.

Wir machen drei Atemzüge. Und wieder geht es los. - -

Und wieder Pause. - -

Wie ist es euch gegangen, als unser kleines Baby hier gekräht hatte? Konntet ihr beim Atem bleiben?

Das war eine Herausforderung. Das müssen wir schaffen, unabgelenkt beim Atem zu bleiben, ohne über

irgendetwas nachzudenken. Wenn laute Geräusche kommen, sind sie auch kein Anlass, darüber nach-

zudenken.

Teilnehmer/-in: Ich habe mich gerade gefragt, wie ist das mit dem Nachdenken? Natürlich habe ich das

Kind gehört, und ich habe trotzdem den Atem wahrgenommen. Ich habe etwas die Konzentration auf

den Atem verloren, aber keinen weiteren Gedanken gedacht. Ich finde das schwierig.

Gut beobachtet. Das ist es genau. Natürlich nehmen wir es wahr - und schon kehrt die Aufmerksamkeit

zum Atem zurück. Das heißt, es gibt keine weiteren kommentierenden Gedanken über das Geräusch,

das gerade aufgetreten ist.

Noch einmal drei Atemzüge, ohne an irgendetwas anderes zu denken, einfach volles Interesse auf dieses

entspannte genussvolle Atmen. - - -

Habt ihr gemerkt, dass vermutlich die meisten von euch subtil den Atem beeinflussen? Ihr atmet nicht

natürlich, da hat sich etwas geändert. Es ist, als ob ihr ihn etwas verlangsamen würdet, damit die Auf-

merksamkeit folgen kann.

Bevor wir mehr machen, macht mal ein paar tiefe Atemzüge - -

dann lasst den Atem, wie er ist - -

und jetzt richtet die Aufmerksamkeit ganz leicht auf den Atem - und der Atem darf unregelmäßig sein,

mal schneller, mal langsamer, mal tiefer, mal oberflächlicher - - -

Wie geht es euch am unteren Umkehrpunkt? Der untere Umkehrpunkt ist ein Punkt, wo man sich auch

gerne verliert und wo sich gerne Gedanken einschleichen. Habt ihr das gemerkt? Unterer Umkehrpunkt

und oberer Umkehrpunkt. Da passiert nicht so viel. Das sind Erfahrungen von: nicht so viel los. Es

könnte auch ein Moment der Offenheit sein.

Untersucht das noch einmal: Ganz entspanntes Ein- und Ausatmen mit den beiden Umkehrpunkten. –

Das ist die Bedeutung der ersten beiden Zeilen im Anapanasati Sutta:

„Lang einatmend weiß ich, dass ich lang einatme. Lang ausatmend weiß ich, dass ich lang ausatme.

Kurz einatmend weiß ich, dass ich kurz einatme. Kurz ausatmend weiß ich, dass ich kurz ausatme.“

Wir nehmen die Schwankungen im Atem wahr, wir erlauben sie, kontrollieren sie nicht und sind dabei

völlig unabgelenkt. Wenn das Anstrengung braucht, kann es sein, dass wir relativ schnell Erschöpfung

spüren. Deswegen kurz halten.

Dass Gedanken dazwischen kommen, ist ein Zeichen, dass wir nicht mehr voll bei der Sache sind. Wir

haben das Interesse verloren, etwas anderes wird interessanter. Kurz Pause machen, das Interesse schär-

fen - und wieder dabei sein.

Meint ihr, ihr schafft schon 10 unabgelenkte Atemzüge?

Wollen wir es probieren? Zehn ist ziemlich viel. Das sind ungefähr anderthalb Minuten unabgelenktes

Sein. Da müsst ihr euch richtig für die Erfahrungen des atmenden Seins interessieren, ganz dabei sein.

Es ist das Wichtigste der Welt. Es gibt nichts anderes, was jetzt für anderthalb Minuten wichtiger ist.

Ihr braucht nicht zu zählen, ich zähle für euch meinen Atem. Einfach ganz aufmerksam sein. Und los

geht es. - - - -

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.104 Wie viele Gedanken habt ihr gehabt? Einen, zwei, drei, fünf? Es ist gut, sie wahrzunehmen. Auf dem

Hintergrund der Achtsamkeit auf den Atem nehmen wir wahr, wie einzelne Gedanken auftauchen. Weil

wir so aufmerksam beim Atem sind, wachsen sich die Gedanken nicht zu Gedankenketten aus. Sie tau-

chen auf und verschwinden schon wieder. Das ist eine wichtige Erfahrung.

Die Gedanken stören nicht, weil wir uns nicht wirklich für sie interessieren. Sie kommen und gehen.

Aber das tun sie nur, weil wir beim Atem bleiben, also bei der Meditationsstütze. Haltet das also kurz,

macht nicht länger. Drei Atemzüge sind schon viel. Bei zehn Atemzügen haben die meisten, wenn sie

ehrlich sind, kurze andere Gedankengänge. Das ist normal.

Schärft eure Achtsamkeit, dass ihr ganz dabei sein könnt. Die Übung geht noch weiter und weiter. Wenn

ihr mehr dazu wissen wollt, schaut in die Unterweisungen vom Anapanasati Sutta, zu der „Lehrrede des

Kultivierens von Gewahrsein mit dem Ein- und Ausatmen“. Es ist in unserer Mediathek, es steht allen

zur Verfügung.

Fortsetzung: Tagesablauf und Struktur der Meditationssitzungen

Ich gehe zurück zum Text.

Kürze hält Sitzungen frei von Fehlern - kurz und präzise. Drei Atemzüge voller Präzision, aber häufig.

Viermal drei Atemzüge voller Präzision ist viel effektiver als dreißig Atemzüge, wo wir es nicht schaf-

fen, diese Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten.

Wenn wir in dieser Weise die Meditation unterbrechen, solange sie noch klar und freudig ist,

werden wir kaum müde und freuen uns schon darauf, erneut zu meditieren. Lange Sitzungen

hingegen erschöpfen uns eher und wir verlieren die Lust am Üben. Es empfiehlt sich also, mit

kurzen Sitzungen zu beginnen und diese allmählich auszudehnen, wenn sich eine gewisse Stabili-

tät einstellt. Mit der Gewöhnung werden wir dann tiefer in die Meditation eintreten. Aber keines-

wegs sollten wir ständig bei kurzen Sitzungen bleiben, sonst gewöhnen wir uns daran und werden

nie für längere Zeit im gelösten Sein verweilen können. Wir sollten uns also keine Gewohnheit daraus

machen, immer kurz zu meditieren, sondern mit wachsender Stabilität die Dauer auch ausdehnen.

Dann der Abschluss der Praxis:

3) Abschluss: Wenn die Freude an der Praxis nachlässt, widmen wir das Heilsame, das aus unse-

rer Dharmapraxis entstanden ist, wie gewöhnlich der unübertrefflichen Erleuchtung aller Lebe-

wesen und machen reine Wunschgebete in diesem Sinne. Dies verhindert, dass die Wurzeln des

Heilsamen verloren gehen, und bewirkt, dass sie unerschöpflich werden und immer mehr anwach-

sen. All die positive Kraft, die da entstanden ist, wird gewidmet und sozusagen enteignet: das bin nicht

mehr ich, der das gemacht hat, das gehört jetzt allen Lebewesen - und damit kann sie nicht von unseren

Ich-bezogenen Emotionen zerstört werden.

4) Zwischen den Sitzungen: Wie bereits erklärt, kultivieren wir heilsames Verhalten - zwischen

den Sitzungen -, zügeln unsere Sinnestore und praktizieren eifrig – je nachdem, was gerade sinn-

voll erscheint – die zehn heilsamen Verhaltensweisen, Niederwerfungen, Umwandlungen und an-

dere Aktivitäten, die eine Ansammlung [des Heilsamen] und Reinigung bewirken. Aus Sicht des

Autors füllen wir unsere Pausen mit Niederwerfungen, Umwandlungen, Gehmeditation usw.: das ist die

Pausenaktivität. Oder machen sonst heilsame Aktivitäten. Ein Retreat-Alltag in der Tradition sieht so

aus, dass die Pausen nur eine andere Form der Meditation sind. So können wir auch unseren Arbeitsall-

tag betrachten, dass er unaufhörliche Praxis darstellt.

Wenn wir uns jedoch nach der Sitzung nicht bemühen, die Achtsamkeit und Sorgfalt, die wir mit

der Meditationsmethode kultivieren, weiter zu stabilisieren und so in einen glücklichen Geist hin-

einzufinden, dann wird es kein Anwachsen des Heilsamen geben. So geht es also darum, eifrig bei

allen Aktivitäten zwischen den Sitzungen die Sicht, Motivation und immer wieder die momentane

Achtsamkeit und Sorgfalt zu kultivieren. Angefangen bei den Kontemplationen zur Unbeständig-

keit bis hin zu der Sicht und den Meditationen des Mahamudra ist dies die Art und Weise, wie

wir uns in die Aktivität einbringen, unabhängig davon, was gerade die eigene Meditationsmethode

ist und die spezifischen Instruktionen, sie zu kultivieren.

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Dies beendet die kurzen Erläuterungen der Vorbereitungen der stufenweisen Meditation.

Wenn wir also Meditation in die Aktivität integrieren wollen, müssen wir das auch wirklich wollen und

immer wieder zum meditativen Gewahrsein zurückfinden bei den verschiedenen Aktivitäten, uns also

ständig daran erinnern. Dann wird das allmählich passieren. Je häufiger wir uns daran erinnern können,

desto besser.

Nehmen wir das einfache Beispiel der Atem-Achtsamkeit: das Kultivieren von Gewahrsein mit dem

Atem. Das können wir in jeder Situation üben - wenn wir mit jemandem sprechen und zuhören, wenn

wir am Computer sitzen, wenn wir Autofahren oder sonst irgendwohin gehen, wenn wir uns einen Kaf-

fee ziehen, all das, immer … Wir können die ganze Zeit zu dieser Präsenz zurückfinden.

Wenn unsere Praxis Tara ist, können wir jederzeit in jeder Situation dieses Tara-Gewahrsein aktivieren.

Oder unser Herzensgebet. Oder oder oder, es gibt keine Grenzen des Möglichen. Wir müssen es wollen

und tun. Dann wächst die Praxis in jeden Bereich unseres Seins hinein. So viel für heute.

Fragen

Teilnehmer/-in: Bei der Einladung, den Atem zu beobachten, ertappe ich mich dabei, das zu tun, dass

ich bewusst ein- und ausatme und auch den Umkehrpunkt bemerke. Aber es ist kein „mich atmen lassen“

oder den „Atem atmen lassen“, sondern es ist bewusst. Damit geht eine Grundanspannung im Bauch-

bereich einher. Die wäre ich gerne los.

Ja, lockerer werden in der Aufmerksamkeit. Das geht allen so. Im Englischen würden wir sagen, es ist

ein bisschen ‚heavy handed‘, ein bisschen übertrieben, die Aufmerksamkeit ist stärker als was es

braucht.

Nun ist es ganz schwierig, Körperprozesse wie das Atmen ins Gewahrsein zu holen, ohne sie zu beein-

flussen – aber es tut gut, das zu üben. Denn schließlich wollen wir Gewahrsein in allen Bereichen unse-

res Lebens und wenn wir immer künstlich werden, bloß weil wir bewusst sind, wäre es total schade.

Deswegen ist es gut, schon bei kleinen Dingen zu üben wie Atem-Gewahrsein: einladen, dass der Atem

sich verändern darf, dass er tiefer sein kann usw. - und das braucht Hunderte Stunden Praxis, um ganz

natürlich zu werden und sich die Achtsamkeit, das Gewahrsein mit dem Atem zusammen entspannt und

ganz stabil bleibt.

Für mich war das jahrelang eine Hauptpraxis. Das ist total hilfreich. Jahrelang morgens und abends und

tagsüber. Das kann man mit dem Herzatem verbinden, mit Tonglen, mit anderen weiteren Übungen

verbinden, aber die Grundübung ist, des Kommens und Gehens gewahr zu sein.

Teilnehmer/-in: Ich habe eine Frage zur Vorbereitungsphase. Bietet sich der kurze Guru-Yoga an?

Ja, der bietet sich gut an. Wenn du einen kurzen Guru-Yoga machen kannst als vorbereitende Phase, ist

das wunderschön. An welchen Guru-Yoga denkst du da?

Den wir immer rezitieren.

Du meinst die vier Zeilen, die wir machen. Das ist ein Mini-Guru-Yoga, der sich gut anbietet. Oder

überhaupt die drei Gebete, die wir zu Anfang machen, wären ein guter Einstieg, wenn wir mit dem Herz

verbunden sind.

Teilnehmer/-in: Mir kam diese hundertprozentige Aufmerksamkeit auf den Atem sehr anstrengend vor,

ich habe das nicht länger aufrechterhalten können. Ich hatte es aber so verstanden, dass der Hauptteil

der Praxis eher 20 bis 30 Prozent der Aufmerksamkeit hat und all die anderen Prozesse, die während-

dessen laufen, auch da sein dürfen - aber, dass man sich nicht in ihnen verliert.

Das hast du richtig verstanden. Wenn wir das als Dauerpraxis machen, als etwas, das uns durch den Tag

begleitet und auch bei Meditationssitzungen, dann reichen 30 Prozent aus - wenn wir zu den späteren

Stufen kommen. Zum Beispiel die nächsten Stufen im Anapanasati sind:

Beim Ein- und Ausatmen bin ich mir des ganzen Körpers, aller Körperempfindungen gewahr, aller kör-

perlichen Gestaltungen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.106 Ein- und ausatmend beruhigen sich alle körperlichen Gestaltungen.

Ein- und ausatmend nehme ich die Freude wahr und die geistigen Gestaltungen.

Zu Anfang haben wir die volle Aufmerksamkeit und dann nehmen wir mehr und mehr anderes wahr

und das Ein- und Ausatmen ist nur noch der Hintergrund, auf dem die anderen Prozesse deutlich werden.

Wir kehren immer wieder zum Atem zurück, damit wir uns in keinem der anderen Prozesse verlieren.

Deswegen spricht man da von 20 oder 30 Prozent der Aufmerksamkeit beim Atem - und der Rest ist

frei, alle anderen inneren Prozesse mitzubekommen. Aber erst einmal brauchen wir die Fähigkeit, volle

Aufmerksamkeit, unabgelenkte Aufmerksamkeit zu haben. Denn damit geht einher, dass wir die Fähig-

keit entwickeln, Gedankenketten zu unterbrechen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Das brauchen

wir, das ist wichtig für unsere innere Freiheit.

Wenn man das mit zehn Atemzügen kann, reicht es dann?

Können bedeutet, dass man sie jederzeit kann, egal welche Gedanken gerade im Geist sind, dass man

sie jederzeit lassen und zum Atem zurückgehen kann. Das bedeutet können: jederzeit, egal was dich

beschäftigt, immer die Fähigkeit zu haben, die Gedanken sein zu lassen, diesem Denken nicht weiter zu

folgen und einfach präsent zu sein.

Teilnehmer/-in: Du hast von den Meditationsmethoden mit und ohne Merkmal gesprochen und dass man

die ohne Merkmale jedes Mal einbeziehen soll. Ich habe nicht verstanden, was es heißt „ohne Merk-

male“.

Ohne Merkmale bedeutet, dass der Geist auf nichts Spezifisches gerichtet ist. Zum Beispiel im natürli-

chen offenen Sein zu verweilen.

Und wenn dann da Sachen kommen?

Dann bist du in eine Meditation mit Merkmalen gerutscht.

Also ist das eine große Herausforderung.

Das ist ein großes Loslassen.

Integration der vorbereitenden Übungen in die tägliche Praxis

Bevor wir in die Hauptpraxis einsteigen, möchte ich euch ein paar Sätze dazu sagen, wie wir die vorbe-

reitenden Übungen in unsere tägliche Praxis integrieren können.

Mir wurde erzählt, dass das Thema in der französischen Gruppe große Wellen schlägt. Wieviel Stunden

Praxis müssen wir da machen? Und wenn wir noch zum Chenresig-Kurs gehen, müssen wir wahrschein-

lich noch eine Stunde mehr praktizieren… Zwei Stunden für die Vorbereitung, eine dritte Stunde für

Chenresig und wer weiß, was die Zukunft bringt.

Ihr denkt so, weil ihr gewohnt seid, es so anzugehen, als würdet ihr in die Schule gehen. Da muss man

ein Pensum schaffen.

Ich versichere euch, es geht wirklich so, wie ich es euch immer unterrichte. Ihr geht mit dem Herzen,

jede/-r geht einen etwas anderen Weg. Wir gehen einen individuellen Weg. Wir gehen nicht en bloc, als

ganze Gruppe: alle machen hunderttausend Niederwerfungen, dann macht die ganze Gruppe hundert-

tausend Dorje Sempa, Vajrasattva, und nächstes Jahr machen alle Mandala-Opferungen.

Das habe ich versucht mit Leuten, mit Gruppen. In Griechenland und Brasilien habe ich versucht, dass

ein Engagement genommen wird: „Ich praktiziere auf jeden Fall dies und das und so-und-so-viele Stun-

den“. Es fällt immer auseinander, es scheint so nicht zu funktionieren.

Es geht im Dharma wirklich so. Es geht mit der Freude, es geht mit eurer eigenen Motivation und dem

tiefen Verständnis, dass ihr habt, warum diese Praxis sinnvoll ist. Dann macht ihr etwas Platz dafür.

Vermutlich wird es für alle Berufstätigen unter uns so sein, dass ihr nie mehr als diese ein, zwei Stunden

herausholen könnt in eurem Alltag. Damit müssen wir zurechtkommen. In dieser Stunde, oder auch

mehr, der persönlichen Praxis müssen wir das unterbringen, was größte Aussicht hat, uns innerlich zu

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 107

transformieren, uns wirklich mit der Essenz zu verbinden. Was es da für den Einzelnen genau braucht,

ist eben individuell unterschiedlich.

Deswegen ist die Empfehlung zwar schon, durch diese vorbereitenden Übungen durchzugehen. Ich habe

große Nutzen davon gehabt und andere auch. Man kann sie zweimal, dreimal, viermal, fünfmal machen,

da ist keine Grenze gesetzt.

Aber es ist nicht gesagt, dass das für jeden von uns hier im Saal die richtige Praxis ist. Manche spüren

jetzt schon eine kleine Abneigung: Ich mag mich nicht in so eine Struktur setzen. Wenn man versucht,

sich gegen seinen Willen etwas aufzudrängen, geht das vielleicht für eine Weile. Das kann man auch

paar Jahre lang machen, aber irgendwann kommt die große Rebellion. Dann lässt man wieder alles

fallen. Dann bricht alles auseinander.

Wenn man sich nicht mit dem Herzen, mit der Essenz der Praxis verbunden, sondern sich an äußere

Regeln gehalten hat, hält das kein ganzes Leben. Ich möchte mit allen, die ich begleite, ein ganzes Leben

freudig praktizieren. Freudige Praxis mit tiefer Inspiration und ohne Druck, ohne erhobenen Zeigefin-

ger: „Hast du schon wieder nicht deine zwei Stunden gemacht?“

Das brauchen wir nicht. Wir freuen uns über jede Minute, die wir praktizieren können, jeden Moment

der Aufmerksamkeit.

Um das Ganze auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen: ich wünsche mir sehr, dass jede/-r

versucht, diesem ersten Punkt Raum in seinem Leben zu geben. Die vorbereitenden Übungen, die sechs

Kontemplationen, die den Geist auf den Dharma ausrichten, über kostbares Menschendasein, Unbestän-

digkeit usw. (auf Seite 5 im deutschen Text). Denn daraus kommt der Saft für eure Praxis, indem ihr

diese zunächst mal intensiv praktiziert, ausführlich bedenkt und auch lernt, wie man das macht, dass sie

ganz natürlich werden. Wenn man sich daran gewöhnt hat, genügen ein paar Minuten zu Anfang der

Praxis, die uns helfen, ausgerichtet zu bleiben.

Dann wünsche ich mir natürlich, dass jeder von euch sich innerlich ausrichtet und die Praxis für das

Wohl aller Lebewesen öffnet, also Zuflucht und Bodhicitta. Das braucht ihr aber nicht mit 111.000

Niederwerfungen zu begleiten.

Es muss von Herzen kommen: einmal zu Beginn der Praxis aufrichtig Zuflucht nehmen. Wenn Ihr könnt:

dreimal, ist auch gut. Wichtig ist, dass es von Herzen kommt, es einen Moment gibt, in dem ihr aufrichtig

daran denkt: Ja, was immer jetzt Gutes dadurch entsteht, möge es allen Lebewesen zugutekommen.

Aufrichtigkeit. Qualität geht vor Quantität. Deswegen - stellt mir nicht so viele Fragen zur Quantität.

Die Quantität wird sich danach richten, wieviel Zeit ihr habt und wie lange ihr die Qualität aufrecht-

erhalten könnt. Es bringt gar nichts, so lange zu praktizieren, wenn wir nicht richtig bei der Sache sind.

Kleine Übungen wie gestern mit dem Atem: ein Atemzug, zwei Atemzüge, drei Atemzüge, zehn Atem-

züge mit hoher Qualität. Das hinterlässt tiefe Spuren. Praktiziert immer, wenn es euch möglich ist, mit

hoher Qualität.

Zwischendurch gibt es auch Phasen, wo man nicht total präsent ist. Die nehmen wir auch mit. Aber es

darf nicht ohne Qualität sein, einfach nur aus Pflichtbewusstsein. Das geht gar nicht, dann lasst es lieber

sein. Ich möchte nicht, dass ihr hier - wie soll man sagen - ich sage es mal psychoanalytisch: dass ihr

den Druck des Über-Ichs erhöht. Das brauchen wir nicht.

Wir brauchen nicht noch mehr Kritiker, noch mehr Richter, noch mehr Müssen. Es kommt von innen

her. Der Dharma ist ein Geschenk, und wir versuchen ihn so zu integrieren in unserem Leben, dass sich

das Geschenk entfalten kann.

Das ist der schnellste Weg des Erwachens. Schneller geht es nicht. Es hängt gar nicht von den Stunden

ab. Es hängt davon ab, dass das, was wir praktizieren, sich in unser Herz integriert und uns zu uns selbst

führt und nicht von uns selbst wegführt.

Ich verstehe, dass andere Lehrer es so versuchen, wie ich es früher auch versucht habe: Jetzt machen

wir dies Paket und das Paket. Bei einem Lehrer gab es so ein Engagement: „Ich mache ein Zwei-Stun-

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.108 den-Retreat, ein Drei-Stunden-Retreat, ein Vier-Stunden-Retreat an jedem Tag meines Lebens. Ich ver-

pflichte mich, so-und-so-viele Stunden zu praktizieren. Ich muss meine Stunden aufschreiben. Ich muss

sagen, wie viele Stunden ich tatsächlich praktiziert habe. Wenn ich mich so verpflichte, darf ich die

Unterweisungen hören, dann werde ich freigeschaltet für die Audios usw.

Ich kenne das alles, aber ich möchte es nicht. Wir gehen unseren Weg anders. Einige von euch werden

große Energie freisetzen, andere werden ein bisschen Mühe haben, aber jede/-r geht auf seine Art und

Weise. Wenn ihr eine Verbeugung machen könnt voller Hingabe, dann kann das transformierender sein,

als wenn ihr hundert macht. Geht also mit der Qualität und arbeitet mit euren inneren Widerständen und

Bedürfnissen.

Bitte vergleicht euch nicht mit anderen. Sich mit anderen in der Gruppe zu vergleichen, ist wirklich

fatal. Es tötet die Praxis. Wenn wir schlechter wegkommen in dem Vergleich, haben wir Gefühle, nicht

zu genügen und dass etwas verkehrt ist mit uns. Wenn wir besser wegkommen in dem Vergleich, erhöht

das den Stolz. Insgesamt schafft es eine Atmosphäre von Vergleichen, was ein bisschen in Richtung

Wettbewerb geht.

Wir sind eine Sangha in dem Sinn, dass wir einander unterstützen, das Beste in uns freizusetzen. Das

Beste ist, mit Freude die Praxis zu entdecken und uns nutzbar zu machen, sodass wir jeden Tag schon

wieder Lust haben, ein Stückchen weiter zu gehen. Manchmal gibt es Tage, an denen wir nicht so viel

Lust haben. Dann rettet uns die Disziplin.

Aber Disziplin ist nur ein Brückenschlag über die Tage hinweg, an denen wir eventuell die Praxis lassen

würden, weil wir gerade traurig oder gestresst sind. Disziplin ist nur für diese Momente da. Der Rest ist

von Weisheit, Mitgefühl und Freude getragen, weil es uns gut tut. Wie einige von euch Sport machen,

weil es gut tut, wie andere gerne mit anderen sprechen, weil es gut tut, oder sich die Zähne putzen, weil

es ein gutes Gefühl gibt.

Genauso praktizieren wir den Dharma: weil es gut tut.

Man nennt das den spürbaren Nutzen, den fühlbaren Nutzen der Praxis. Dazu wünsche ich mir für jede/-

n, dass ihr herausfindet, was euch gut tut. Ihr habt ja schon eine Praxis, das heißt, ihr seid schon irgend-

wie unterwegs mit einer spirituellen Praxis. Da schaut ihr, ob sich kleine Anpassungen ergeben, ob ihr

Elemente hinzunehmt, die vorher noch nicht so stark vertreten waren. So entwickelt sich eure Praxis

wie eine Pflanze, die wächst, stärker wird, mehr Äste und Blätter bekommt und irgendwann Blüten treibt

und Früchte bekommt. Diese Pflanze der Praxis gießen wir jeden Tag.

Wir sind Gärtner im eigenen Garten. Es ist der Garten unseres eigenen Geistes und darin wächst dieser

große Baum des Heilsamen. Erst als kleines Pflänzchen, dann immer größer, bis dieser Baum des Heil-

samen - der unseren Geist darstellt - zu einem Zufluchtsbaum geworden ist und auch anderen Zuflucht

geben kann.

Dann werdet ihr anderen das so weitergeben, dass es nicht über Stress geht. Über Stress kann man nicht

aus Stress aussteigen. Das geht nicht. Samsara ist Stress. Stress ist auf Pali, Sanskrit Dukkha, oft als

Leid übersetzt.

Man kann aus dem Leid nicht herausfinden, wenn man mehr Stress ins System bringt. Das geht nicht.

Das heißt, die Praxis, die uns aus Samsara, der Welt der Verstrickungen und des Stresses, der Anspan-

nung, der Kontrolle, der Angst befreien soll, muss notwendigerweise stressfreier sein als der Rest - und

immer weniger stressvoll sein.

Ein bisschen Disziplin ist gut, aber das ist eher freudige Ausdauer, dass wir uns dazu bringen, zu tun,

was gut ist. Es ist genauso, wie wenn wir uns sagen: es tut dir gut, dich jetzt noch ein bisschen zu

bewegen, mach mal einen Spaziergang. So viel Stress ist das nicht, sich zu motivieren, einen Spazier-

gang zu machen, wenn es einem doch gut tut. Spätestens wenn man vom Spaziergang zurückkommt,

hat man das Gefühl, es hat einem gut getan.

So gehen wir jeden Tag mit unserer Praxis auf einen wohltuenden Spaziergang. Der führt uns durch die

vorbereitenden Kontemplationen, führt uns am Zufluchtsbaum vorbei, führt uns ins Bewusstsein, dass

wir mit allen Lebewesen verbunden sind, führt uns an einen Ort des Verweilens, wo wir Gebete machen,

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vielleicht Mantras, wo wir ganz eins werden mit uns und dem Geist des Erwachens und in die Stille

einkehren. Dann geht der Spaziergang weiter und wir widmen das Ganze zum Wohl der Lebewesen.

Aber der Spaziergang hört gar nicht auf, sondern geht noch weiter und zwar in unsere täglichen Aktivi-

täten. Es ist der tägliche Dharmaspaziergang, der ganz bewusst mit den Dingen anfängt, die uns beson-

ders gut tun, uns gut einzustimmen auf den Tag. Er geht dann durch den ganzen Tag weiter und nach

Möglichkeit in die Nacht hinein, setzt sich die ganze Zeit fort. Das nennt man den Weg des Erwachens.

Das ist ein Spaziergang. So wünsche ich mir, dass ihr praktiziert: mit wirklicher Freude.

Vielleicht seid ihr schon mal in den Bergen unterwegs gewesen. Unser Leben ist nicht immer ein Spa-

ziergang auf ebener Strecke, sondern auch mal eine Gebirgstour. Da muss man sich die Kräfte gut ein-

teilen. Es passiert manchmal, wenn man als erfahrener Bergläufer gut unterwegs ist, dass junge Leute

vorbeisausen. Aber drei Kurven weiter findet man sie beim Bierchen und sie müssen sich erstmal wieder

erholen. Wir gehen mit unserem steten Tempo an ihnen vorbei, sagen hallo. Dann sausen sie wieder an

uns vorbei. Irgendwann sind sie erschöpft oben. Und auch wir sind mit unserem gemütlichen Tempo

angekommen. Geht also das Tempo, wie ihr wollt, aber geht den Weg - und schaut, dass ihr nicht zu

viele Bierpausen habt, sondern einfach gelassenen Schrittes den Weg des Erwachens ins Erwachen geht.

Man geht nirgendwohin. Das Erwachen ist jetzt. Wir gehen auf diesem Weg nirgendwohin, sondern

gehen immer in die Öffnung. Die ist schon da. Wir gehen in das, was sowieso schon da ist. Egal welcher

Schritt, ob es das Kontemplieren der Unbeständigkeit ist oder die Erinnerung an die Zuflucht: alles dient

der Öffnung im Jetzt. Es hat sofort die Wirkung, uns zu öffnen. Das ist nicht für später. Die Dharma-

praxis ist immer für jetzt.

Also gewöhnt euch daran, dass ihr von mir keine Quantitäten gesagt bekommt, sondern ihr einfach sagt:

ich gehe den Weg mit hundert Prozent meines Seins. Ihr kommt nicht weg damit, nur drei von 24 Stun-

den am Tag zu praktizieren. Es wird ganztägig praktiziert - und das muss entspannt sein. Wir machen

alles zur Praxis, egal welchen Beruf, egal wie viele Kinder und Enkel wir haben, egal was uns zustößt,

wir machen alles zur Praxis.

Wieviel formelle Praxis wir haben, entscheidet unser Tagesablauf; wieviel wir unterbringen können.

Der dient der inneren Öffnung genau wie jeder andere Schritt im Tag. Jede Situation dient dazu, sich zu

öffnen und daran zu erinnern, dass man das Ganze auch ohne Stress leben kann.

Habe ich mich klar genug ausgedrückt, was das angeht? Ich hoffe, ich habe euch Sorgen nehmen und

gleichzeitig auch zeigen können, dass es den ganzen Menschen braucht und man das gar nicht in Stunden

beschreiben kann.

Es war eine super Einführung in die Hauptpraxis.

Teilnehmer/-in: Mir sind die vier Kontemplationen vertraut, die den Geist auf den Dharma ausrichten.

Ja, im klassischen Text sind es vier, hier sind es sechs.

Vielleicht noch eine persönliche Bemerkung dazu. Als ich früher mit den Schülern quasi in die Erleuch-

tung rennen wollte, sie an der Hand nehmen und so schnell wie möglich ab in die Erleuchtung: da war

ich ziemlich streng, habe viel von ihnen verlangt.

Es ging aber gar nicht schneller als jetzt. Es war nur immer ein seltsames Gefühl, dass ich als Lehrer

und die mit mir immer ein bisschen Stress hatten. Jetzt, wo sich mein Stil verändert hat, habe ich nie

Stress mit euch und habe selbst keinen Stress nachzuschauen: praktizieren sie auch genug?

Es macht mich höchstens traurig, wenn ich sehe, dass irgendwo so eine Bierpause eingelegt wird oder

jemand völlig überflüssige Anstrengung macht. Manchmal bin ich ein bisschen amüsiert, aber ich habe

keinen persönlichen Stress damit. Ich bin nicht bemüht zu schauen, ob die Schüler gut praktizieren. Das

müssen sie selbst. Und sie brauchen auch keine Schuldgefühle mir gegenüber zu haben. Es ist schließlich

ihr Leben. Ich bin nicht verantwortlich für ihr Leben. Das macht jede/-r selbst.

Das hat die Beziehung von diesem ganzen Erfüllungsstress befreit: dass man dem Lehrer gegenüber

Versprechen erfüllen muss und der Lehrer schaut, ob man diese auch erfüllt. Es ist alles unnötig. Wir

sind erwachsene Menschen und ihr nehmt die Versprechen eurer eigenen wahren Natur gegenüber. Ihr

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.110 kümmert euch darum, dass ihr zu euch selbst erwacht, in diese Öffnung hineinfindet, in dieses Fließen,

das eure eigene Grundnatur ist.

Das hat für mich eine große Veränderung in der Atmosphäre geschaffen, wie ich mit sogenannten Schü-

lern zusammen sein kann, denn eigentlich sind wir Erwachsene, die auf dem Weg unterwegs sind, jeden

Moment in die Öffnung zu gehen. Das ist unser gemeinsamer Weg.

DIE HAUPTPRAXIS DER STUFENWEISEN MEDITATION DES MA-

HAMUDRA

Verschiedene stufenweise Meditationen des Mahamudra

Nun kommen wir zum dritten Punkt in diesem Kapitel:

Die Hauptpraxis der stufenweisen Meditation des Mahāmudrā

und zunächst eine Einführung in

Verschiedene stufenweise Meditationen des Mahāmudrā

Bei der Meditation des wahren Sinnes - darum geht es im ganzen Buch, Mahamudra wird hier „das

Eigentliche“ genannt oder „der wahre Sinn“ - werden im Allgemeinen diejenigen mit der höchsten

Fähigkeit zu augenblicklicher Verwirklichung zunächst in die Sicht eingeführt, die irrige Annah-

men auflöst. Man erklärt ihnen, wie der Geist wirklich ist. Das nennt man die Einführung in die Sicht.

Danach meditieren sie mit der Methode, den Geist in der Sicht weilen zu lassen. Das ist die Me-

thode. Da gibt es nicht noch eine andere Methode. Sie bekommen gesagt: Jetzt, wo du nicht nur intel-

lektuell verstanden hast, wie es ist, sondern jetzt, wo sich das in dir geöffnet hat, besteht deine Medita-

tion darin, in diesem offenen non-dualen Sein zu verweilen. Eine andere Methode gibt es gar nicht.

Hingegen:

Diejenigen mit mittleren und geringen Fähigkeiten, die stufenweise zur Erkenntnis gelangen, wer-

den zunächst Geistesruhe und dergleichen üben, bevor sie die Sicht zu verstehen suchen.

Ich spreche häufiger über die Natur des Geistes und führe euch in die Sicht ein - ihr merkt vielleicht

manchmal, dass der Geist irgendwie nicht so ganz da ist. Ihr merkt, ihr kriegt es nicht so ganz. Die

Worte kommen zwar an, aber so ganz rein geht es nicht. Es kommt noch nicht so ganz von innen und

schon gar nicht, wenn ihr alleine seid zu Hause.

Deswegen braucht man die schrittweise Praxis von Geistesruhe mit dem Entwickeln von Einsichtsme-

ditation, damit sich das vorbereitet. Wenn der Geist über einige Jahre der Praxis von ruhiger Einsicht

vorbereitet ist und man die Natur des Geistes erklärt bekommt, versteht man alles, dann geht es durch.

Das hat es gebraucht. Dieselben Erklärungen. Plötzlich versteht man sie.

Einige von euch kommen schon seit vielen Jahren - und ihr merkt, dass ihr jedes Jahr ein bisschen mehr

versteht, weil ihr zwischendurch praktiziert habt und ein bisschen offener, ein bisschen klarer geworden

seid. Dann zeigt sich mehr Verständnis. Das ist die Frucht eurer Praxis und die bleibt, wenn ihr nach

Hause geht, weil ihr eine Grundlage in Geistesruhe und Einsichtsmeditation habt.

Die Unterweisungen von Saraha, Ṥavari, Indrabodhi, Tilopa und Maitripa wenden sich, so wie

bereits gezeigt wurde, an Praktizierende mit den höchsten Fähigkeiten. Die Lehren von Maitreya,

die Werke zu den Stufen [von Asaṇga], die Stufen der Meditation von Kamalaśīla und die Essenti-

ellen Unterweisungen zur Befreienden Weisheit von Ṥāntipa wenden sich alle an Praktizierende

mittlerer oder geringerer Fähigkeiten. Darin wird dieser stufenweise Weg beschrieben.

Einige frühere tibetische Kadampa-Meister lehrten die Meditation der essentiellen Bedeutung in

der Überlieferung, die von Indrabodhi über Dombipa zu Meister Atīśa ging und die auch essenti-

elle Unterweisungen in Mahāmudrā beinhaltete. Diese Linie ging dann weiter zu Atīśas Schülern

Naldjorpa und Gönpawa. In den meisten anderen Unterweisungen Atiśas, die sein Schüler Drom-

tönpa an die drei Brüder [Potowa, Putschungwa und Tschän-ngawa] weitergab, scheint es vor-

wiegend um die Stufen der Meditation gemäß dem Weg der Sūtras zu gehen.

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Das alles kann euch ziemlich egal sein. Wenn ihr euch im Dharma auskennt, sind das interessante In-

formationen – also wenn ihr euch mit der Geschichte der Übertragungslinien auskennt.

Für eure Praxis ist das nicht sehr relevant. Wichtig zu wissen ist: es gibt Übertragungsströme mit direk-

ten Unterweisungen zur Natur des Geistes, die zum augenblicklichen Erwachen führen. Das ist eine der

Möglichkeiten von Mahamudra-Übertragung. Dann gibt es einen Übertragungsstrom mit mündlichen

Unterweisungen für recht begabte Schüler, die nur noch ein bisschen Unterstützung brauchen. Dann gibt

es einen Strom von Unterweisungen, in denen Schritt für Schritt der Weg ganz ausführlich beschrieben

wird für diejenigen, die es anders gar nicht verstehen würden.

Zum Glück kommen alle diese Übertragungsströme sowieso bei uns zusammen und werden euch gege-

ben, je nachdem, was ihr gerade braucht. Als Gruppe gehen wir den Weg der schrittweisen Unterwei-

sungen und im Einzelgespräch bekommt ihr die mündlichen zusätzlichen Unterweisungen, die für euch

geeignet sind.

Obwohl die Tradition der Kommentare Gampopas, wie bereits erwähnt, beide Ansätze lehrt und

auch die Vollendungsphase der Tantras darin gelehrt wird, finden sich dort viele essentielle Un-

terweisungen und es werden hauptsächlich die stufenweisen Meditationen des Mahāmudrā ge-

lehrt. Dabei werden zunächst mit der Sicht alle irrigen Annahmen aufgelöst und darauf folgt die

Praxis mit den Methoden, den Geist darin verweilen zu lassen.

Dies ist eine Möglichkeit, die Gampopa oft benutzt hat. Er hat seinen Schülern - die waren zum Teil

noch recht jung, da gab es Schüler, die waren nur 16, 17, 18 Jahre alt - zunächst ausführlich den Geist

erklärt und mit ihnen diskutiert, hat ihre Fragen beantwortet und gesagt: Und jetzt geh. Geh und sitze in

der Höhle und praktiziere. Denk an das, was du verstanden hast, praktiziere das.

Er hat ihnen eine kleine Praxis gegeben, gar nicht so ausführlich, und hat diese jungen Leute praktizieren

lassen im Vertrauen in ihre eigene Buddhanatur, die wahre Natur des Geistes, die er ihnen vorher gut

erklärt und ihre irrigen Anschauungen intellektuell schon aufgelöst hatte, ohne große Umwege. Dafür

wurde Gampopa von zeitgenössischen Meistern, Kadampa-Meistern, sehr kritisiert: Wie kannst du nur

so junge Leute ohne ausreichendes Studium schon in die intensive Praxis schicken? Das geht doch nicht.

Dazu sagte er: Wartet mal ab. Die brauchen nicht immer erst zehn Jahre intensives Dharma-Studium,

bevor man sie praktizieren lässt. Die können das auch so. Dann sind aus diesen jungen Leuten viele,

viele Verwirklichte hervorgegangen, die dann in ganz Tibet die Mahamudra-Tradition verbreitet haben,

die Tradition, die erst durch den Lehrer von Gampopa, Milarepa, und dessen Lehrer Marpa nach Tibet

gekommen war. Sie verbreitete sich wie ein Feuer in einem Leben in alle Landesteile von Tibet mit

ungeheuer vielen Praxiszentren und erbrachte ganz viele Verwirklichte. Das alles geschah im Vertrauen

darauf, dass jeder erwachen kann und es als erstes braucht, die Sicht zu klären. Dann kann man medi-

tieren. Man braucht nicht den ganzen Dharma zu studieren. Man muss die essentiellen Punkte verstan-

den haben.

Das mache ich mit euch. Diese Kurse, die wir miteinander machen, sind weniger Praxiskurse, sondern

vor allen Dingen geht es dabei um das Klären der Sicht, um das Auflösen irriger Anschauungen. Wie

zum Beispiel vorhin die irrige Anschauung, mit mehr Anstrengung und mit mehr Stunden pro Tag

könnte ich schneller ins Erwachen kommen. Das ist nur bedingt richtig und ist auch ziemlich falsch. So

geht es immer darum, zu einem essentiellen Verständnis zu kommen. Das ist der typische Stil dieser

Übertragung, in der ihr hier gelandet seid.

Die Schüler in der Linie Maitrīpas, wie der indische Vajrapāni, verbreiteten in Tibet die Vajra-

Gesänge (dohās), die Wurzeln der Symbole und die essentiellen Unterweisungen zu den geheimen

Praktiken, die allesamt mit der Kommentar-Tradition Gampopas übereinstimmen, was deren

große Glaubwürdigkeit unterstreicht.

Jetzt sagt der Autor Tashi Namgyal: Für dieses Vorgehen von Gampopa gibt es eine Menge Belege auch

aus der indischen Tradition, dass früher andere Meister es auch schon so gemacht haben. Und er zitiert

einige von ihnen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.112 Einige [Lehrer] sind der Meinung, die Meditation des reinen Sinnes müsse ausschließlich den Ab-

handlungen der Sutra-Tradition folgen - also nicht auch die Tantras einbeziehen -. Diese Ansicht ist

aber nicht in Übereinstimmung mit den essentiellen Unterweisungen der großen Verwirklichten

- der indischen Mahasiddhas -, wonach es möglich ist, schon zu Anfang intuitive Einsicht zu finden.

Ich will den Satz kurz erklären. Wenn man diese Abhandlungen liest, diese Lehrreden, die Sutras über

den stufenweisen Weg, bekommt man den Eindruck, man muss erst all die Erfahrung der Geistesruhe

machen bis hin zu tiefen Samadhis, den Dhyanas, den Absorptionen in Geistesruhe - und dann erst

kommt die Einsicht, dann entwickelt sich die Einsicht so und so. Dieser Eindruck ist falsch, denn es gibt

auch viele Ausnahmen dazu.

Es kann sein, dass ihr jemanden kennt, der spontan oder mit relativ wenig Praxis, nur mit ein paar Un-

terweisungen, die er oder sie gehört hat, echte intuitive Einsicht erfahren hat, der Geist für einen Moment

vollkommen aufgegangen ist im non-dualen Gewahrsein. Das kann passieren. Das kann während einer

Unterweisung passieren, es kann beim Studium eines Textes passieren. Es kann mit relativ wenig Praxis

passieren. Das gibt es und ganz so selten ist es nicht.

Einsicht kann also durchaus entstehen, bevor überhaupt irgendeine Geistesruhe verwirklicht wurde.

Deswegen kann man nicht sagen, dass man nur den schrittweisen Weg gehen muss, sondern diese Men-

schen müsste man dann anders anleiten. Die müssen mit der Einsicht nicht nur die Einsicht stabilisieren,

sondern auch in eine innere Stabilität finden, bei der die Einsicht die Geistesruhe ermöglicht, sodass sie

allmählich stabil, durchgehend in allen Situationen des Lebens in dieser Offenheit sein können. Diese

Menschen werden etwas anders geführt, weil sie schon wissen, worum es geht, während die anderen

Geistesruhe praktizieren, ohne eigentlich schon zu wissen, worum es geht.

Wenn also behauptet wird, man müsse ausschließlich dem stufenweisen Weg der Sutra-Tradition folgen:

Darin zeigt sich eine gewisse Abschätzung gegenüber den Mahāsiddhas - den großen Verwirklichten

- und den Verfassern der zahlreichen essentiellen Unterweisungen der tantrischen Tradition, wie

die Sieben Körbe der Verwirklichung und die Sechs Zyklen zur Essenz. Sie scheinen die Bedeutung

von Ausführungen wie in den früheren und späteren Einführungen für Anfänger nicht verstanden

zu haben - wo es heißt -:

„Was für Praktizierende des schrittweisen Weges ein starkes Heilmittel ist, ist starkes Gift für

Praktizierende des augenblicklichen Weges, und was für Praktizierende des augenblicklichen We-

ges ein starkes Heilmittel ist, ist ein Gift für Praktizierende des schrittweisen Weges.“ Erinnert ihr

euch? Das habe ich euch schon erklärt. Das Zitat wird zweimal eingeführt.

Nur wenn wir vorher die Geschmeidigkeit von Körper und Geist erlangt haben, ist gemäß den

Kommentaren der Sūtra-Tradition Geistesruhe möglich – und nur wenn wir Geistesruhe erlangt

haben, ist intuitive Einsicht möglich – und nur wenn wir beide [Geistesruhe und intuitive Einsicht]

erlangt haben, kann das Sosein verwirklicht werden. Jene, die dieser Sicht folgen, schlussfolgern,

dass Verwirklichung heute und in Zukunft unmöglich ist und dass diese [degenerierten] Zeiten

heutzutage und in Zukunft nicht für Meditation geeignet sind.

Es gibt tatsächlich Lehrer, die damals in Tibet und auch heute in unserer modernen Zeit zu dem Schluss

gelangen, dass es eigentlich gar nicht mehr möglich ist zu meditieren, es nicht mehr möglich ist, all das

zu erfahren und zu verwirklichen, von dem in den alten Texten die Rede ist.

Sie wenden sich von der Meditation ab und bewirken auch, dass andere dies tun. Sie gehen völlig

in die Irre und der Anschein entsteht, dass die vielen Unterweisungen des Buddhas zu den ver-

schiedenen, gestuften Fähigkeiten der Praktizierenden falsch seien. Diese Haltung erzeugt auf-

grund eines kleinen Fehlers große karmische Auswirkungen, denn das Verwerfen der essentiellen

Unterweisungen der Tantras und der bahnbrechenden, auf erleuchteter Erfahrung beruhenden

Wege der Mahāsiddhas entspricht einem Verwerfen des Dharmas.

Das ist das Schlimmste, was man tun kann.

So war die Diskussion untereinander. Dieser Text wurde teilweise geschrieben, um irrige Meinungen,

die in Tibet im Umlauf waren, aufzulösen. Das ist eine Passage, wo es darum geht.

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Aber auch heute ist das so. Es kann sein, dass ihr Lehrern begegnet, die sagen: so wie ihr lebt, könnt ihr

den Dharma gar nicht wirklich praktizieren. Ihr müsst erst das, das und das studieren und praktizieren -

und dann gebe ich euch vielleicht Erklärungen zu den tieferen Themen des Dharmas.

Wenn wir ganz genau hinschauen, verleugnet das die Fähigkeit der Buddha-Natur, unserer wahren Na-

tur, sich in jedem Moment zu zeigen. Diese Möglichkeit besteht und manchmal blitzt es durch, zeigt

sich für einen Moment in uns das erwachte Sein. Vielleicht merken wir es gar nicht, aber es ist immer

da und hängt nicht davon ab, wieviel wie studiert haben.

Die Mahamudra-Tradition, in der ich unterrichte, lebt in dem Vertrauen, dass jetzt gerade jeder hier im

Saal die Möglichkeit hat loszulassen, einen Moment völliger Offenheit zu erfahren. Das einzige, was

euch daran hindert ist, dass ihr euch viel zu sehr anstrengt, da immer noch so viel Wollen ist … und

Angst: Angst, sich ganz zu öffnen. Das ist das einzige, was euch daran hindert.

Dieses Hindernis kenne ich auch - es ist nicht so leicht aufzulösen. Aber wenn man die Erfahrung hat,

wie es ist, dann weiß man, dass dieses scheinbar große Hindernis gar kein großes Hindernis ist. Grob

könnte man sagen, ist das einfach der Unterschied zwischen einer angespannten Hand, einer Faust, die

nicht loslassen will, und dieselbe Hand, wenn sie sich öffnet und entspannt. Eigentlich ist es nur das.

Die Dhagpo [Kagyü] Praxislinie führt ihre Schüler mit zwei unterschiedlichen Ansätzen: Der zu

augenblicklicher Verwirklichung befähigte „Auf-einmal“-Typ wird von Anfang an angeleitet, alle

irrigen Annahmen über die zugrundeliegende Basis – die zugrundeliegende Natur des Geistes – auf-

zulösen und bekommt dann gezeigt, wie er den Geist [in der Sicht] ruhen lassen kann. Der „stu-

fenweise“ Typ wird zunächst in die Geistesruhe eingeführt und dann allmählich in die Intuitive

Einsicht. Der erste Ansatz ist heutzutage hauptsächlich geeignet für Menschen mit einem beson-

ders klaren Verstand und angeregtem (wach interessiertem) Geist. Doch der zweite Ansatz ist hier

sehr bekannt geworden und sei er nun, wie auch schon zuvor, weiter erläutert.

Soviel hierzu. Dann werden wir jetzt anfangen, mehr zu üben.

Meditation

Nehmt eine Haltung ein, die für die Praxis förderlich ist. Das bedeutet: eine Haltung, die Klarheit und

Entspannung ermöglicht. -

Dann legt all das beiseite, was euch vielleicht beschäftigt, was sonst in eurem Leben wichtig sein könnte.

Jetzt ist nicht die Zeit, wo ich mich darum kümmern werde. Ich kümmere mich darum nach der Medi-

tation, wenn diese Sitzung vorbei ist. -

Mit diesem klaren Entschluss wende ich mich der Meditation zu in dem Bewusstsein, was für eine kost-

bare Gelegenheit das jetzt gerade ist. - Ich bemerke schon, wie ich mich fühle, wie der Atem ein- und

ausfließt. Ich komme ganz an in dieser Situation. -

Ich weiß, das ist der Beginn einer kostbaren Übungsperiode und ich frage mich: was möchte ich jetzt

üben? - Es ist wichtig, dass wir bei jeder Übungsperiode wissen, worum es jetzt gerade geht. -

Diesmal gebe ich das vor und sage: Wir üben uns in entspanntem Gewahrsein. Entspanntes unabgelenk-

tes Gewahrsein, das wird die Überschrift sein.

Und schon beginnen wir damit, entspannt zu bemerken, wie es sich anfühlt, jetzt hier zu sein. -

Entspannt und zugleich aufmerksam nehme ich wahr, wie es sich anfühlt, körperlich präsent zu sein.

Kontakt mit dem Boden und mit der Sitzfläche, vielleicht mit der Lehne, Empfindungen überall im

Körper. Ich übe mich darin wahrzunehmen, ohne ins Kommentieren zu kommen. -

Entspanntes Wahrnehmen körperlicher Empfindungen. -

Damit der Geist unabgelenkt darin verweilt, braucht es Interesse. Es interessiert mich zu spüren. Je

entspannter ich spüre, desto mehr gehe ich im Spüren auf. Es ist so, als würde ich im Spüren aufgehen,

mich in das Erleben hinein öffnen. -

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.114 Immer wenn sich Denken einstellt, komme ich zurück zum Spüren - und jetzt zum Hören – offenes

Hören, völlige Präsenz im Hören – entspannt, ohne Kommentare, ohne Bewertungen. -

Immer wieder, ganz entspannt, bringen wir die Aufmerksamkeit ins Hör-Erleben und öffnen uns da-

hinein. -

Dann richten wir die Aufmerksamkeit ins Sehen - wie es ist zu sehen, ohne zu benennen, ohne zu kom-

mentieren - ganz entspanntes weites Sehen. -

Unabgelenkt gewahr. -

Sehen, hören und spüren zugleich - ganz offen. -

Wir nehmen wahr, wie wir uns fühlen, wie wir uns innerlich fühlen - Stimmungen, Gefühle, alles ohne

Kommentar. Wir öffnen uns ins Erleben. -

Entspanntes und unabgelenktes Gewahrsein, wo alle Sinne offen sind, auch das Riechen und Schme-

cken. -

Könnt ihr so offen und abgelenkt verweilen, gewahr sein? Oder braucht ihr eine Stütze, etwas Konkre-

teres als Hilfe, um präsent zu bleiben? Schaut mal selbst: was würdet ihr euch verschreiben? Geht es so

oder braucht ihr einen Anker für eure Aufmerksamkeit? -

Und schon ist diese kleine Übungsphase vorbei.

Diese Grundübung, entspanntes unabgelenktes Gewahrsein mit Öffnen der sechs Sinne war eine ge-

führte Meditation. Das ist ein bisschen leichter, als wenn ihr das allein macht. Habt ihr am Ende das

Gefühl gehabt, ihr braucht einen Anker?

Ein paar heben die Hände, wir rechnen noch ein paar dazu. Wenn ihr es zuhause macht, ist das die

Grundübung. Das wäre das Eintreten in Geistesruhe mit offenen Sinnen, ohne etwas abzuwehren.

Wir öffnen, öffnen, öffnen, aber in diesem Öffnen ist kein Haften, kein Festhalten. Deswegen beruhigt

sich der Geist. Es ist das genaue Gegenteil von dem, was wir gestern gemacht haben: mit der Fokussie-

rung auf die Atmung haben wir uns eher konzentriert, unabgelenkte Konzentration geübt.

Beide sind Meditationen: die konzentrative Meditation mit einem klaren Anker, wie dem Atem, und

diese weit offene Meditation ohne speziellen Anker. Beides sind Übungen in Geistesruhe. Es fühlt sich

ganz unterschiedlich an und zeigt euch das große Spektrum dieser Methoden.

Man kann sie aber auch zusammenbringen, es ist nicht so, dass sie getrennt bleiben. Das machen wir

gleich in der nächsten Übungsphase.

Habt ihr euch trotz allem angestrengt in der Praxis? Fühlt mal hin. Seid ihr froh, dass es jetzt Pause gibt,

oder würdet ihr unangestrengt einfach weiter so gewahr sein? Spürt mal hin. Falls ihr Spuren von An-

strengung spürt, versucht rückblickend herauszufinden, ob irgendetwas von dieser Anstrengung über-

flüssig war.

Um das herauszufinden, gehen wir wieder in diese Art zu meditieren - alle Sinne offen. Wir versuchen

herauszufinden, ob es mit noch weniger Anstrengung möglich ist, ob wir noch mehr entspannen können.

-

Der Maßstab dafür, wieviel wir entspannen können, ist die Ablenkung, wieviel gedankliche Prozesse

anfangen. Wenn der Geist ganz ruhig ist, können wir noch mehr entspannen, wir brauchen ihn nicht

gezielt auszurichten, weil er in sich selber ruht. Wenn er schnell auf Reisen geht und in allem Möglichen

landet, brauchen wir etwas mehr Ausrichtung. -

Ausrichtung findet immer dann statt, wenn wir für etwas Interesse aufbringen. Hier ist das allgemeine

Interesse einfach, entspannt zu bleiben, offen zu sein, zu erfahren, wie es ist, gar nichts Spezielles zu

tun. Dieses Interesse muss stärker sein als das Interesse zu denken. Dann funktioniert es. -

Das Interesse ist hier auf eine Qualität des Seins gerichtet und nicht auf einen spezifischen Inhalt. Wir

interessieren uns dafür, wie es ist, entspannt, gewahr und offen zu sein. - -

Wieder eine kleine Pause, eine Pause von der Pause.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 115

Grundprinzipien zur Entwicklung von Geistesruhe

Der Trick bei dieser Art von Meditation - wenn man davon sprechen kann - ist zu wissen, wo unser

Interesse ruht, wo unsere Aufmerksamkeit ruht. Sie ruht hier bei etwas nicht Fassbarem. Sie ruht hier

bei einer Qualität des Seins. Das ist eine sehr anspruchsvolle Form, Geistesruhe zu praktizieren.

Wir begeistern uns, wir interessieren uns dafür, so entspannt, so offen, so natürlich, so gewahr wie mög-

lich zu sein. Dann kommen Geräusche, wie von den Leuten draußen, dem Auto … Die hören wir. Die

habt ihr wahrscheinlich alle wahrgenommen.

Gleichzeitig ist das große Interesse daran, offen zu bleiben, gewahr zu bleiben, und das bewirkt, dass

wir durchlässig sind. Wir nehmen es wahr, aber es entstehen nicht jede Menge Gedankenketten. Wir

brauchen nichts zu tun.

So ist das Leben überhaupt. Wir sind gewahr, offen - und dann passiert etwas. Irgendetwas passiert

immer, und wenn es nur Grashalme sind, die sich bewegen, wenn wir draußen in der Natur meditieren.

In der Natur draußen ist es selten unbewegt. Da regt sich immer irgendwas, überall, wo es lebt, ist immer

etwas los.

Jetzt haben wir die grundlegende Praxis, entspannt, unabgelenkt gewahr zu bleiben. Das Schöne an

dieser Praxis ist, dass sie ganz nah dran ist, wie wir ohnehin wären, wenn wir jetzt schon erwachte

Buddhas wären. Es ist ganz nah dran, so nah dran, wie wir im Moment gerade gehen können. Ich kann

euch noch ein bisschen näher heranführen, aber nicht mehr viel.

Das heißt, diese Form von Geistesruhe ist schon Ausdruck unseres natürlichen Seins. Wir machen noch

ein bisschen Anstrengung: zu Anfang legen wir all die Dinge auf die Seite, die uns beschäftigen, schie-

ben das ein bisschen weg, und bleiben sorgfältig gewahr, dass wir nicht abdriften. Das ist das bisschen

Anstrengung, was wir noch machen.

Aber eigentlich ist das schon so, wie ein Erwachter ohnehin ist: einfach präsent, mit völlig offenen

Sinnen, ohne etwas zu blockieren. Das geht, es ist möglich, ihr habt es gerade erfahren. Aber es ist sehr

herausfordernd, weil wir keinen Anker haben. Wir sind es sonst immer gewöhnt, auf irgendetwas zu

gucken, auf irgendetwas zu hören, auf irgendetwas zu reagieren. Deswegen ist es für die meisten von

uns schwer, das über lange Zeit aufrecht zu erhalten, weil wir nicht gewöhnt sind, so offen gewahr zu

sein.

Dann gibt es die Angebote der verschiedenen Methoden aus verschiedenen Traditionen, wie wir das ein

wenig stabilisieren können. Wir bekommen das Angebot, auf den Atem zu achten, Gehmeditation zu

machen, auf die Abläufe beim Gehen zu meditieren, wir bekommen angeboten, Mantras zu machen.

Wir bekommen das Angebot, etwas zu visualisieren, ein Licht oder eine Buddha-Gestalt. Wir bekom-

men das Angebot, ein visuelles Objekt außen zu nehmen, um den Blick drauf zu richten. Wir bekommen

ein Angebot, auf den Raum zwischen zwei Bäumen zu meditieren oder, oder, oder.

Unzählige Angebote, die nur dazu dienen, unsere Aufmerksamkeit zu stabilisieren, damit sie nicht ins

Kommentieren der Sinneseindrücke geht. Das ist der Sinn aller Methoden der Geistesruhe, ausreichend

das Interesse zu bündeln, zu sammeln, damit wir diese unabgelenkte Präsenz erfahren.

Da müsste man selbst wissen: wie viel von dieser verankernden Methode brauche ich? Wie viel brauche

ich, auf den Atem zu meditieren? Das müssen wir selbst rausfinden. Die Antwort kommt von unserer

Fähigkeit, unabgelenkt, offen, entspannt gewahr zu bleiben.

Wenn es ohnehin so ist, dass der Geist einfach in sich ruht, brauchen wir keine dieser Methoden der

Geistesruhe. Aber da es nur selten der Fall ist, dass unser Geist unabgelenkt, offen in sich selbst ruht,

brauchen wir die Methoden.

Welche Methode wir nehmen, entscheidet sich ein wenig nach unserem Gefühl, wo wir uns wohlfühlen.

Die Methode sollte uns gelegen sein, sollte etwas sein, was wir gerne machen. Die Wahl entscheidet

sich auch danach, wo es uns möglich ist, ausreichend Interesse aufzubringen. Das Interesse am Medita-

tionsobjekt, an der Methode, an der Stütze muss größer sein als unser Interesse, zu denken und in die

Ablenkung zu gehen. Das ist der kritische Punkt, um den es geht.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.116 Es muss unsere Aufmerksamkeit ausreichend binden - und das ist nicht etwas, was vom Objekt ausgeht.

Eine Klangschale könntet ihr vor euch setzen und auf sie als ein visuelles Objekt meditieren. Aber in

einer Klangschale ist nichts, was mich wissen lässt, wie viel Interesse sie bei euch auslöst. Sie ist einfach

ein Objekt, genauso wie der Stock und das Papier. Die haben in sich nichts, was Interesse bewirkt, es

sei denn, wir geben diesem Meditationsobjekt eine Wichtigkeit.

Eigentlich ist es völlig unwichtig. Wir könnten jeden Gegenstand aus unserer Umgebung oder irgend-

eine Körperempfindung als Meditationsobjekt nehmen. In dem Moment, wo wir sie auswählen, geben

wir ihr so viel Wichtigkeit, dass es ausreicht, um den Geist zu stabilisieren. Das heißt, wenn ich mich

entscheide, auf die Klangschale als visuelle Stütze für meine Achtsamkeit zu meditieren, dann schaue

ich sie an, ohne ihre Merkmale zu analysieren. Darum geht es gar nicht.

Denn das Verweilen auf dieser visuellen Stütze ist jetzt das Wichtigste der Welt. Nichts anderes ist

wichtiger. Das müsst ihr für jede andere Methode auch machen. Wenn ihr zum Beispiel Gehmeditation

macht oder joggen geht und sagt, jetzt ist das Gehen oder Joggen meine Meditation, dann muss der

Aspekt, auf den ihr euch ausrichtet, das Wichtigste der Welt sein. Das wird ausreichend stark sein, um

alles andere wegfallen zu lassen. Nur wenn wir das schaffen, wird es funktionieren.

Wenn wir mit einem Mantra praktizieren, einem Herzensgebet, und nehmen das Mantra als Stütze für

Geistesruhe, dann muss das Herzensgebet oder Mantra das Wichtigste der Welt sein. Alles andere tritt

zurück. Das ist unser Anker. Dann entwickelt es die Kraft, zur Absorption zu führen. Samadhi ist Ab-

sorption, Absorption in Geistesruhe, ohne sich noch mit irgendetwas zu befassen.

Da kann es sein, dass wir so absorbiert sind im Schauen, dass wir gar nichts mehr hören. Da kann es

sein, dass wir so im inneren Sein absorbiert sind, dass wir weder sehen noch hören noch sonst etwas

mitkriegen. Da kann es sein, dass wir so in der Liebe aufgehen - denn man kann auch auf Qualitäten wie

Liebe und Mitgefühl meditieren, so dass dies das Wichtigste der Welt ist -, dass alles andere wegfällt.

Da kann es sein, dass man sich gar nicht mehr ärgern kann, gar keine sonstigen Gedanken an Vergan-

genheit, Gegenwart und Zukunft auftauchen, weil die Liebe alles ausfüllt.

Das ist das Prinzip des Entwickelns von Geistesruhe. Wir können in eine weite offene Geistesruhe ein-

treten, wo alle Sinne offen sind, wo wir uns auf gar nichts konzentrieren, ohne Anker. Das Interesse ruht

nur in der Offenheit. Offenes unabgelenktes Gewahrsein, da ist das Interesse.

Wenn wir das nicht durchgehend praktizieren können, suchen wir uns einen Anker. Dieser Anker hilft

uns, dabei zu bleiben. Wir werden verschiedene solche Anker kennenlernen. Aber zuerst müssen wir

das Prinzip verstehen, was wir da machen.

Wir können uns im Körper mit den Körperempfindungen verankern. Der Atem ist das häufigste Bei-

spiel. Wir könnten genauso auch auf die Empfindungen in den Handflächen meditieren. Ich könnte auf

die Kontaktempfindung mit der Rückenlehne meditieren. Das ist vollkommen egal. Es ist nur ein Anker

in den Körperempfindungen.

Wir können visuelle Verankerungen vornehmen, können uns mit Geräuschen stabilisieren, mit Gerü-

chen, mit Geschmäckern, mit Gedanken oder Vorstellungen. Visualisieren ist Prozess im Geist, ein in-

neres Bild: stellt euch eine leuchtende Sonne oben im visuellen Raum vor. Dann sehen wir eine leuch-

tende Sonne. Das ist eine Vorstellung, eine Unterform des Denkens, die aber nichts mit den Augen zu

tun hat. Die Sonne ist strahlend hell über uns. Wir können uns auch einen weißen oder einen blauen

Buddha vorstellen.

Das ist das Stabilisieren unserer Präsenz mit dem mentalen Sinn, mit dem sechsten Sinnesfeld. Wir

meditieren auf etwas, das wir uns innerlich immer wieder in Erinnerung rufen. Das bleibt und zieht

ausreichend Aufmerksamkeit auf sich. Es ist also egal, welchen von den sechs Sinnen wir nehmen: wir

können uns darin stabilisieren.

Innerhalb des sechsten Sinnes gibt es nicht nur die Vorstellungen - zum Beispiel einen Buddha über

dem Kopf zu haben, ist so eine Vorstellung -, sondern die Vorstellungen können auch in Richtung Qua-

litäten gehen. Wir können uns zum Beispiel vorstellen, den Geist weit wie der Raum werden zu lassen,

obwohl wir in einer geschlossenen Halle sitzen. Das ist ein Bild. Zunächst mal ist es das Bild des offenen

Himmels. Selbst, wenn wir ihn nicht sehen, löst das eine Qualität von Öffnung aus. Dann bleiben wir

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 117

innerlich verbunden mit dieser Qualität, dass der Geist so offen wie das All ist, wie der Himmelraum.

Wir brauchen den Himmelsraum gar nicht mehr zu visualisieren. Die Qualität von Weite dient uns als

Anker.

Das können wir auch mit allen anderen Qualitäten machen. Wir können Mitgefühl zunächst visualisie-

ren, indem wir Leid kontemplieren und Mitgefühl entwickeln. Wenn wir Mitgefühl als Qualität erfassen

können, wenn wir spüren, wie sich das anfühlt, können wir uns mit Hilfe der Qualität von Mitgefühl in

Geistesruhe stabilisieren.

Ich spreche jetzt nur über Geistesruhe. Das mit der Einsicht wird noch kommen.

Merkt ihr die Spanne der Methoden und möglichen Anker, die uns offensteht, um den Geist zur Samm-

lung zu bringen? Es geht immer über den entscheidenden Faktor, ausreichend Interesse aufzubringen.

Wenn jemand sagt, ich kann nicht auf den Atem meditieren, ich bin immer so schnell abgelenkt, dann

hört sich das an, als ob dieser Mensch Opfer seiner Ablenkung ist. Ist er gar nicht. Er hat mehr Interesse,

über alles Mögliche nachzudenken, als beim Atem zu bleiben. Das ist die Tatsache: das Interesse für

den Atem ist zu gering.

Es ist vielleicht nicht das richtige Meditationsobjekt, weil dieser Mensch nicht ausreichend Interesse

dafür aufbringen kann. Vielleicht hatte er auch gar keine Lust, Interesse an irgendetwas aufzubringen,

sondern denkt einfach gerne. Das muss ich dann nüchtern sehen, dass das Interesse für meine spirituelle

Übung nicht auf derselben Höhe ist wie das Interesse für meine Gedanken, für meine sonstige Welt.

Wenn ich daran etwas ändern möchte, muss ich schauen, dass ich mit Hilfe von etwas meditiere, wo ich

Interesse verspüre, wo es leicht ist, dieses Interesse aufzubringen. Dann wird es möglich sein, Geistes-

ruhe zu entwickeln.

Das sind die Grundprinzipien der Entwicklung von Geistesruhe. Jetzt könnt ihr euch vorstellen, dass

nicht alle 250 Leute hier im Raum für dasselbe Meditationsobjekt, für denselben Anker dasselbe Inte-

resse aufbringen können. Die Neigungen sind unterschiedlich. Nicht jeder möchte mit Körperempfin-

dungen wie Atmen meditieren. Für manche ist Raum viel zu abstrakt - und andere lieben es, auf Raum

zu meditieren. Manche lieben es, auf Geräusche, auf Klänge zu meditieren und sich damit zu stabilisie-

ren. Andere sind sehr gerne im Visuellen…

Deswegen ist es gut, verschiedene Anker für unsere Meditation kennenzulernen und sich einen auszu-

suchen und damit intensiv zu praktizieren, wenn wir merken, da geht unser Interesse ganz leicht hin,

dafür kann ich mich erwärmen, es macht mir Freude, zu diesem Meditationsanker zurückzukehren.

Der Atem hat unter den verankernden Meditationsmethoden eine herausragende Stellung. Er wird von

allen Traditionen gelehrt, von allen Lehrern, weil die Meditation auf den Atem viele, viele Vorteile hat.

Der Atem bewegt sich, das heißt, die Atemempfindungen wechseln ständig.

Wir Menschen haben es leichter, aufmerksam zu bleiben mit etwas, was sich verändert. Das ist leichter,

als mit etwas aufmerksam zu bleiben, was statisch ist. Das könnt ihr beim visuellen Sinn sehr deutlich

erleben, dass wir in eine Landschaft gucken - und kaum bewegt sich etwas, ist unsere Aufmerksamkeit

da, wo die Bewegung ist. Beim Hören ist es genauso. Sich verändernde Geräusche - der Extremfall ist

die Musik - ziehen unsere Aufmerksamkeit an. Gleichbleibende Geräusche sind schwieriger als Stütze

der Meditation, haben aber natürlich den Vorteil, dass Veränderung, Modulationen, uns nicht zu Inter-

pretationen und Kommentaren veranlassen.

So ist es in jedem Sinn: Etwas, was sich bewegt und verändert, bekommt von Natur aus mehr Aufmerk-

samkeit als das, was gleich bleibt. Das ist sinnvoll so, weil es für unsere Vorfahren, die noch in der

Natur lebten, ganz wichtig war mitzubekommen, was sich verändert. Das, was gleich bleibt, ist keine

Gefahr. Das, was sich verändert, ist entweder interessant, weil es vielleicht eine Beute ist oder vielleicht

eine Bedrohung. Immer dort, wo Veränderung ist, musste der Mensch aufmerksam sein. Und bis heute

funktioniert so der Geist.

Unser Denken verändert sich ständig, da ist ständig was los. Deswegen sind wir ziemlich begeisterte

Denker. Da ist immer ordentlich was los und das hat guten Unterhaltungswert. Das ist auch wichtig,

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.118 wenn wir daran denken, wie wir unsere Meditationsobjekte aussuchen. Atem ist zum einen etwas, was

sich verändert, und hat zum anderen die Qualität, dass er immer da ist, und drittens, dass er eigentlich

total langweilig ist, keine besondere sonstige Bedeutung hat: es atmet ja sowieso.

Eigentlich sollten Meditationsobjekte so gewählt sein, dass sie nicht in sich schon Anlass für Begierde,

Anhaften oder Abneigung sind. Wir meditieren als visuelles Objekt nicht auf ein Foto von einem ge-

liebten Popstar oder so. Das machen wir nicht. Oder unserer Geliebten, auch nicht auf die Bilder unserer

Enkel. All das, bei dem starke Anhaftung entsteht, ist kein gutes Meditationsobjekt.

Wenn wir auf einen Buddha meditieren, dann weil uns in der Buddha-Statue oder der Visualisation die

Qualitäten des Erwachens gespiegelt werden. Das ist der Grund dafür, dass wir diese aussuchen. Aber

falls wir auf Fotos von Familienmitgliedern meditierten, käme etwas ganz anderes in Bewegung. Das

ist erstmal nicht Sinn der Sache. Wir können das später mal machen.

Meditationsobjekte sollten emotional neutral sein und trotzdem ausreichend Interesse binden. Der Atem

ist so: Atem ist dynamisch, verändert sich ständig und ist eigentlich emotional neutral.

Jetzt üben wir eine Weile mit dem Atem.

Meditation

Sucht euch einen Ort, eine Gegend im Körper aus, in der ihr den Atem gerne spürt. Das kann vorne an

der Nasenspitze sein - das können die Nasenflügel sein - das kann weiter hinten im Nasenraum oder im

Rachenraum sein - das kann im Brustkorb sein - das könnte auch im Bauch sein, denn auch die Bauch-

decke hebt und senkt sich mit den Atembewegungen und dadurch entstehen Berührungsempfindungen

mit der Kleidung, innere Empfindungen…

Es ist möglich, auf all diese Orte der Atemempfindung gleichzeitig zu meditieren, aber das lassen wir

heute. Wir suchen uns einen Ort aus. An diesem Ort installieren wir unsere Aufmerksamkeit. Das ist so,

als würden wir dort unser Interesse verankern. Die Texte nennen das manchmal den „Wachtposten der

Achtsamkeit“. -

Wir bleiben jetzt an dem Ort, in dieser Region. -

…. und bemerken die Empfindungen des einströmenden und ausströmenden Atems. -

Das ist jetzt das Wichtigste der Welt - aber das Wichtigste der Welt braucht uns nicht zu verspannen.

Wir sind ganz entspannt, gelöst, offen, gewahr, wie sich die Empfindungen verändern. -

Vielleicht könnt ihr sogar Freude entwickeln, möglichst viele Veränderungen wahrzunehmen. -

Wieder erneuern wir unser Interesse. Zu Anfang fühlt sich das so an, als würden wir forschen…, erfor-

schen, was es für Empfindungen zu entdecken gibt. - Das bedeutet aber nicht, dass wir diese Empfin-

dungen benennen oder uns irgendwie daran erinnern müssten. -

Wir gehen völlig in diesen Empfindungen auf. Die Empfindungen des Ein- und Ausatmens und der

Übergänge sind jetzt die Welt des Erlebens. -

Immer wieder erneuern wir das Interesse. - -

Schaut mal, ob ihr die Empfindungen des Ein- und Ausatmens genauso gut spüren könnt mit offenen

Augen wie mit geschlossenen Augen. -

Schaut mal, wieviel von eurer Aufmerksamkeit tatsächlich bei den Atemempfindungen ist und wieviel

es dafür braucht, unabgelenkt zu bleiben. -

Manchmal müsst ihr vielleicht die Aufmerksamkeit kurzfristig erhöhen – dann könnt ihr wieder mehr

entspannen und bleibt trotzdem unabgelenkt. -

Könnt ihr diese Aufmerksamkeit auf den Atem mit großer Weite und Öffnung verbinden?

Jetzt untersucht mal, was passiert, wenn ihr das Atmen, die Atemempfindung symbolisch mit Bedeutung

verbindet: Einatmen als Symbol dafür, mich zu öffnen für alles, was ist. -

Ausatmen als Symbol dafür, alles so zu lassen, wie es ist: Zulassen - fließen lassen - öffnen und lassen.

-

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 119

Gestaltet das Ganze so, dass es total angenehm für euch ist. -

Meditiert genau so, wie es euch Freude macht … und merkt euch mit eurem ganzen Wesen, wie sich

das anfühlt – sodass ihr leicht dahin zurückkehren könnt. Eure Zellen, jede Zelle des Körpers, die Ener-

gieströme, Geisteshaltung, … so, dass es wirklich heilsam ist.

Die Erinnerung ist jetzt noch ganz frisch und vermutlich wird es euch jetzt - probiert es mal - noch ganz

leichtfallen, wieder dahin zurückzufinden. Um zurückzufinden, benutzt ihr vielleicht ein paar Brücken:

Körpergefühl, Erinnerung an Weite, vielleicht die Worte: öffnen, zulassen - fließen lassen - und schon

seid ihr wieder da.

Ich gebe euch eine kleine Aufgabe mit: einmal in der Mittagspause dahin zurückfinden.

Die Übung ist, in einer anderen Situation als jetzt diese Dimension der Erfahrung zu kontaktieren -

irgendwo, auf dem Stuhl, auf der Bank, liegend auf der Wiese … in diese Dimension der Erfahrung

hinein zu finden. Macht das, solange es noch frisch ist. Das geht viel leichter.

Erklärungen zu den einzelnen stufenweisen Meditationen

Wie Schüler schrittweise ins Mahāmudrā eingeführt werden

Einführung in Geistesruhe

Erstens: Vorbereitungen für Geistesruhe

Im Kommentar wir sind auf Seite 18 in der Mitte:

Erklärungen zu den einzelnen stufenweisen Meditationen

Wie Schüler schrittweise ins Mahāmudrā eingeführt werden

Einführung in Geistesruhe

Das richtet sich an Menschen, die intensiv Geistesruhe praktizieren möchten.

Als Vorbereitung ist es wichtig, die Ursachen für das Entstehen von Geistesruhe zu beherzigen,

insbesondere das Identifizieren und Auflösen der Ursachen von Dumpfheit und Wildheit und ein

gutes Verständnis der anderen Aspekte der Praxis, wie sie bereits in den allgemeinen Erläuterun-

gen zu Geistesruhe und Einsichtsmeditation erklärt wurden. Der Ort der Praxis sollte wirklich

zurückgezogen sein, tagsüber ohne das Gehen und Kommen von anderen Leuten [die nicht mit

uns praktizieren] - Geistesruhe braucht Abgeschiedenheit. Wenn wir uns immer wieder auf Neues

einstellen müssen, werden wir immer wieder aus der Praxis herausgeholt. Es geht hier darum, dass wir

bei wochenlanger, monatelanger und jahrelanger Praxis gute Bedingungen haben. - nachts still, ohne

Geräusche von Menschen, mit ausreichend Wasser, Holz und den anderen notwendigen Dingen

[wie Nahrung, Kleidung, Schutz und dergleichen].

Das ist die Beschreibung eines Retreat-Ortes. Es sind Bedingungen, in denen wir entspannen und uns

öffnen können. Das sind übrigens gute Bedingungen, um überhaupt zu leben.

Dann geht es darum, alles aufzugeben, was Körper und Geist in die Ablenkung führt.

An was denkt ihr da? Smartphones abgeben, nicht mal in der Nähe haben. Ihr könnt euch über

eine Telefonnummer und einen Anrufbeantworter irgendwo kontaktieren lassen und jemanden

finden, der den Anrufbeantworter abhört und euch eine eventuell wichtige Nachricht bringt. Na-

türlich kein Fernsehen, kein Internet, keine Zeitungen. Auch eure geliebten Hobbys werden weg-

gelassen. Bleiben wir nochmal beim Lesen: keine Romane, keine Zeitschriften, auch nicht viel

Dharma-Literatur. Am besten gar keine Dharma-Literatur oder nur ganz wenig. Sein gelassen

werden auch Basteleien, Handwerken, Malen, Musizieren. All das, mit dem man sonst seine Zeit

füllt.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.120 Da merke ich, es geht einigen schon an den Kragen. Es ist die Frage, wie tief ihr in die Geistesruhe

hinein möchtet. Aber alle Aktivitäten, welche die Ich-bezogenen Muster stimulieren, entspannen wir,

lassen wir draußen – auch längeres nutzloses Diskutieren mit anderen Leuten, also Gespräche, die nicht

praxisförderlich sind, gehören dazu.

Manchmal kann es hilfreich sein, ein wenig zu schreiben. Aber wenn es um eigentliche Geistesruhe

geht, machen wir nicht einmal mehr Tagebucheinträge, schreiben auch keine Briefe. Das können wir

irgendwann einmal, wenn wir eine größere Pause machen, sich Zeit nehmen, jemandem zu schreiben.

Aber eigentlich fällt alles weg. Wir machen nur noch das, was wirklich nötig ist. Ein bisschen für sich

kochen, ganz einfach, heizen, ein bisschen Bewegung, vielleicht ein bisschen Yoga, Chi Gong …

Wir tun alles sanft, langsam und fließend, als würden wir von einer Krankheit genesen.

Unsere Krankheit nennt man samsarischen Burnout. Aus der Perspektive des Erwachens betrachtet sind

wir ziemlich krank. Jetzt kommen wir in die Klinik und der Genesungsprozess beginnt. Das beginnt wie

in jeder guten Suchtklinik mit Entzug.

Es gibt Suchtkliniken, da muss man den Entzug zuvor hinter sich bringen. In anderen kann man ihn vor

Ort durchführen. Dann kommen wir allmählich bei uns an. Geistesruhe ist einfach nur das Wort für die

erste Phase der Genesung. Es ist in inneren Frieden zu finden.

Frieden ist heilend. Die subtilen inneren Energien beginnen wieder ungestörter zu fließen. Die Atmung

befreit sich. Der Körper wird wieder frischer. Der Schlaf verändert sich. Das Gedankendrehen, dieses

Hamsterrad, kann zur Ruhe kommen, weil es nicht mehr angestoßen wird.

Es wird in der Praxis der Geistesruhe nur noch durch all die Eindrücke in Bewegung gesetzt, die wir in

unserem Unterbewusstsein haben. Das ist so viel, ist genug. Wir müssen Raum geben. Die idealen Be-

dingungen für die Praxis von Geistesruhe sind: ganz viel Raum geben, sodass sich alles zeigen kann,

was wir an Eindrücken, an Verletzungen, an belastenden Emotionen angehäuft und angesammelt haben.

Das ist Teil der Praxis, um in Frieden zu finden. Es gehört mit dazu. Die Praxis von Geistesruhe ist eine

Praxis, sich zu entspannen, sich zu öffnen, zuzulassen und zu merken, dass sich das alles auflösen kann.

Es ist nicht getrennt von Einsichtspraxis. Es ist die Praxis, alles kommen zu lassen und anzuschauen.

Manchmal braucht es ein Gegenmittel, oft braucht es keines, es löst sich von selbst. Mit der Zeit kom-

men wir in die Einsichtspraxis.

So wie bereits erklärt, zügeln wir die Sinnestore - eigentlich öffnen, entspannen wir die Sinnestore -

, handeln mit Sorgfalt, halten Maß beim Essen und kultivieren das, was wirklich die Praxis för-

dert, denn alles, was dem zuwiderläuft, würde das Entwickeln von Geistesruhe erschweren. Atīśa

schreibt:

„Wenn die Bedingungen für Geistesruhe nicht erfüllt sind, könnt ihr euch noch so sehr an-

strengen beim Meditieren – ihr werdet selbst nach tausend Jahren keine meditative Versen-

kung erfahren!“

Manchen fällt es leichter, in gewisse Geistesruhe hinein zu finden, aber um in tiefe Geistesruhe hinein

zu finden, müssen wir die Bedingungen für Geistesruhe sehr konsequent einhalten. Sonst, sagte Gendün

Rinpoche, ist das immer, wie wenn man beim Nähen mit der Nadel in den Stoff sticht, aber den Faden

nie durchzieht und vernäht. Es bleibt immer lose. Es ist ein bisschen Entspannung da, ein bisschen Öff-

nung, ein bisschen Geistesruhe, aber es geht nie wirklich in die Tiefe. Da braucht es schon auch Konse-

quenz.

Zweitens: Körperliches Verhalten, das meditative Sammlung fördert

- wie wir mit dem Körper meditative Sammlung fördern können.

Hierzu sagt Naropa:

„Die richtige Körperhaltung ist ein Schlüssel zur Meditation.“

In der Praxislinie heißt es:

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 121

„Wer den Geist sammeln möchte, sollte die körperlichen Yogas meistern.“

Das tibetische Wort dafür ist trul khor. Das meint zunächst die Sieben-Punkte-Haltung und darüber

hinaus eine Serie von sehr intensiven körperlichen Übungen, mit denen wir die Spannung aus dem Kör-

per herausnehmen und die uns helfen, in Offenheit zu finden.

Die Sieben-Punkte-Haltung ist eine Körperhaltung, die es uns ermöglicht, ganz schnell in Geistesruhe

zu finden. Wir müssen ein bisschen erhöht sitzen, sodass wir den Körper mit den durchgedrückten Ar-

men wie abhängen können, als würden wir einen Mantel auf einen Ständer hängen. Die Wirbelsäule

wird dabei ganz langgestreckt. Es geht darum zu schauen, dass der Körper gerade sitzt, die Wirbelsäule

möglichst gerade. Das schafft Platz für die inneren Organe. Es ermöglicht, dass alles gut zirkuliert. Dazu

kommen eventuell die Atemübungen und andere Pranayama-Übungen, die Heiko euch heute Morgen

gezeigt hat.

Das ist alles dafür, um die körperlichen Energien ins Fließen zu bringen. Es ist sehr hilfreich. Wenn der

Körper schön gerade ist und gut sitzt, wenn Raum ist für die inneren Organe, dann ist es viel leichter zu

meditieren. Später, wenn man den Geist gemeistert hat, kann man in jeder Haltung meditieren. Dann ist

es wichtiger, dass wir entspannen und in jeder Körperhaltung weiter meditieren.

Da gibt es einiges, was man tun kann, und es ist sehr förderlich, die schon erwähnten Yogaübungen zu

machen, Chi Gong oder andere Formen der Praxis, die uns helfen, dass der Körper mit auf den Weg

kommt.

Ihr gehört vielleicht zu denen, die gerne joggen oder Radfahren, also intensivere Sportarten machen. Da

müsst ihr genau hinschauen, was euch wirklich gut tut. Wenn wir wirklich Geistesruhe praktizieren, ist

es nicht so sinnvoll, ganz intensiv zu laufen oder intensiv Rad zu fahren.

Wir setzen beim Gehen und Laufen die Praxis der Geistesruhe fort. Das heißt, wir laufen friedlich, wir

gehen friedlich, fahren mit innerem Frieden Rad. Da machen wir keine Anstrengungen, da versuchen

wir nicht, unsere Rundenbestzeit zu erhöhen. Wir wollen nichts erreichen.

Wir setzen die körperliche Bewegung ein, um die Energien ins Fließen zu bringen. Da müssen wir un-

sere Einstellung ändern. Das ist eine andere Art der Körperbewegung, als wie wir es normalerweise gern

tun, wo wir gerne mal an der Obergrenze entlang gehen. Das ist da nicht so sinnvoll, denn es stimuliert

die Energien, die wir gerade ein wenig beruhigen wollen. Es sind auch wieder Ich-bezogene Muster, die

dazu führen, dass wir überhaupt so schnell rennen oder so schnell fahren wollen. Das alles entspannen

wir.

Es heißt weiterhin:

„Wenn die Bedingungen abhängigen Entstehens auf passende Weise im Körper zusammenkom-

men, erscheint Verwirklichung im Geist.“

Bedingungen abhängigen Entstehens bezieht sich auf Schlüsselpunkte, welche die Zirkulation der inne-

ren Energien, des Prana, ermöglichen. Dabei wirkt unser Verständnis von Meditation zusammen mit der

Art, wie wir mit dem Körper umgehen.

Die Sieben-Punkte-Haltung

Von daher sind die Schlüsselpunkte für den Geist äußerst wichtig. Bei der „Schlüsselhaltung in

sieben Punkten“, die berühmt dafür ist, tiefe meditative Stabilität zu fördern, ist Folgendes zu

berücksichtigen:

- Auf einer weichen, bequemen Unterlage kreuze die Beine in Vajra-Sitzhaltung oder –

wenn das nicht geht – in der Bodhisattva-Sitzhaltung.

Es geht auch der halbe Vajra-Sitz, das heißt, das rechte Bein ist oben; im vollen Vajra-Sitz wären beide

oben. Das wird genügen, das ist die gekreuzte Vajra-Haltung.

- Die rechte Handfläche liegt auf der linken und die ausgestreckten Daumen berühren sich

in der Meditationshaltung vier Fingerbreit unterhalb des Nabels, am Bauch anliegend.

- Die Wirbelsäule ist gerade, sodass der ganze Körper gestrafft bleibt.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.122 Und jetzt denken wir, es wäre diese [gezeigte] Haltung. Diese ist es aber nicht, denn es ist eine andere

[gezeigte] Haltung:

- Arme und Ellbogen sind kein bisschen gebeugt, sondern formen eine gerade Linie bis hin-

auf zu den Schultern.

- Der Kopf neigt sich leicht nach vorne, so dass die Kinnpartie sanft auf die Kehle drückt.

- Die Zungenspitze liegt am Gaumen, die Zahnreihen sind geschlossen - leicht, sie drücken

nicht aufeinander - und die Lippen liegen aneinander - sanft, auch ohne Druck -.

- Der Blick geht ruhig entlang der Nasenspitze in den Raum - vor uns -, ohne dass sich die

Augen bewegen oder schließen.

Der Extrapunkt für die Hände ist, dass die Daumen sich nicht gegenseitig berühren - denn das geht auch

-, sondern da sind noch zusätzliche Energiepunkte im Ringfinger, im untersten Glied des Ringfingers

rechts und links, die gedrückt werden, sodass sich der Ringfinger ein bisschen stabilisierend um den

Daumen legt und sich dann nur der Zeigefinger und der Mittelfinger überkreuzen.

Das ist die Sitzhaltung von Buddha Vairocana, die auch als die „Sieben Dharmas von Vairocana“

bekannt wurde. Obwohl einige Lehrer erklären, dass die Lippen und Zahnreihen natürlich ent-

spannt belassen werden, so erscheint mir die obige Beschreibung dennoch vortrefflich.

Kamalaśila erwähnt in zwei Bänden von Stufen der Meditation die sanfte, lautlose, unaufgeregte

Ein- und Ausatmung als weiteren, achten Punkt zum körperlichen Verhalten, der mir vortrefflich

erscheint:

- Beim Ein- und Ausatmen finden wir in ein sanftes, langsames und anstrengungsloses At-

men hinein, dass wir die Atembewegungen nicht mehr spüren.

So sanft wird das, also ein Entspannen des Atems, bis er fast nicht mehr wahrnehmbar oder wirklich

nicht mehr wahrnehmbar ist.

Vielleicht fragt ihr euch: warum habe ich euch das nicht früher gezeigt? Da hänge ich immer in meinem

Sitz total entspannt - und jetzt plötzlich so eine Meditationshaltung? Die meisten von euch sind es nicht

gewöhnt, den Tag auf dem Boden zu verbringen. Das Wichtigste ist, dass wir entspannt sind. Dies ist

für die Meditation das Allerwichtigste. Wir müssen uns in unserem Körper wohlfühlen und leben in

unseren Breitengraden ja leider auf Stühlen. Das macht alles ein bisschen schwierig.

Wenn ihr jung seid und Zeit habt, übt euch in dieser Körperhaltung, die ich euch gezeigt habe. Ich war

damals noch jung genug und habe es noch geschafft, die Haltung hinzukriegen - und Gendün Rinpoche

hat uns empfohlen, so viel Zeit wie möglich darin zu verweilen. Ich fragte ihn, wie viele Stunden ich

diese Haltung einnehmen sollte. Dazu meinte er: die ganze Zeit. So hat er wohl praktiziert.

Das ist tatsächlich unglaublich hilfreich. Ich habe es nie mehr als drei Stunden pro Tag geschafft, aber

es war sehr hilfreich, auch aus medizinischer Sicht. Es hat zum Beispiel meine Rückenbeschwerden

kuriert. Es kommt ganz viel Gutes dadurch.

Manchmal sehe ich - wie soll man sagen - Versuche, diese Haltung zu imitieren. Die sind nicht immer

so sinnvoll.

Das Beste ist als nächste Version, einfach gerade zu sitzen, so wie ihr es vielleicht aus dem Zen kennt.

Ihr legt die Hände in den Schoß, dabei berühren sich die Daumen. Vielleicht braucht ihr auch ein kleines

Kissen, um die Hände abzulegen – besonders wenn ihr auf einem Stuhl sitzt, damit die Hände nicht

herunterrutschen.

Dann stellt euch vor, dass ihr wie am Himmel aufgehängt seid, dass ein Faden hoch geht von der Fon-

tanelle. Das bewirkt, dass das Kinn ein klein wenig nach innen kommt. Dann wird die Wirbelsäule

relativ gerade.

Es geht nicht darum, die normale S-Form der Wirbelsäule wegzudrücken. Die soll erhalten bleiben. Es

soll auch weiterhin so sein, dass in der Wirbelsäule feine Ausgleichsbewegungen stattfinden können.

Nicht fixieren, sonst wird es schmerzhaft und dann blockiert es die inneren Energien.

Also gerade sitzen - und schaut mal, wenn man gerade sitzt, da ist überall eine Beweglichkeit, auch

oben. Diese Beweglichkeit erhalten wir uns beim Sitzen. Der Körper macht das, ohne dass man es von

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 123

außen wahrnimmt, ganz von selbst, dass er innerlich immer ein bisschen beweglich bleibt, kleine schlän-

gelnde Bewegungen.

Wenn ihr auf Stühlen sitzt, die nach hinten abfallen, müsst ihr weiter vorne sitzen. Sonst legt ihr euch

ein Keilkissen auf den Stuhl, damit ihr auf dem Stuhl relativ weit nach hinten rücken könnt. Dann sitzt

ihr gerade und öffnet die Beine in einem stabilen Dreieck. Auf dem Stuhl nicht mit parallelen Beinen

meditieren, sondern mit geöffneten Knien. Wenn ihr möchtet, legt ihr euch ein Tuch darüber, falls ihr

einen Rock tragt.

Wenn ihr auf dem Stuhl das Dreieck zwischen Knien und Hüfte entstehen lässt, merkt ihr, dass ihr auf

dem Stuhl dieselbe Beweglichkeit der Hüfte habt, wie ich jetzt auf dem Boden. Darauf kommt es an.

Aus dieser ganz stabilen Dreieckshaltung mit beweglicher Hüfte steigt die Wirbelsäule auf und darauf

ruht der Kopf.

Der Kopf kann auf dem Atlas, dem obersten Wirbel völlig entspannt ruhen. Das braucht keine Anstren-

gung. Der Körper ist so gebaut, dass alles anstrengungslos in sich ruhen kann. Es geht darum, eine

Haltung zu finden, in der der Körper sich selbst trägt und keine Anstrengung mehr braucht, um gehalten

zu werden.

Wenn wir nicht gerade, ein wenig krumm oder ungünstig sitzen, braucht es Anstrengung unten in der

Lendenwirbelsäule, in der Hüfte, im Hals oder im Nacken, wenn der Körper mit dem Kopf nach vorne

ist. Da spannen wir Muskeln unnötig an, die wir eigentlich nicht brauchen.

Es geht um eine aufrechte Haltung, in der der Körper wie in sich selbst ruht und innerlich beweglich

bleibt. Ihr werdet merken, dass ihr manchmal wie einrastet. Das ist ein Gefühl wie: jetzt sitze ich aber

klasse. Dann haben wir diese klasse Haltung gefunden und innerlich bedeutet das, sich nicht weiter zu

bewegen. Das ist optimal. Wir spannen etwas an und es ist, als wäre etwas eingerastet und die Beweg-

lichkeit geht weg.

Die optimale Haltung ist eine dynamische Haltung, die sich mit den Atembewegungen mitbewegen

kann.

Könnt ihr spüren, wie sich eure Wirbelsäule mitbewegt, wenn ihr atmet? - -

Spürt ihr die feinen Bewegungen von den Lenden in den oberen Teil des Rückens bis unter die Schlüs-

selbeine?

Der Atem, solange er noch nicht ganz fein geworden ist, führt dazu, dass der Körper von innen her

immer ein bisschen massiert wird. Wenn wir da versteifen, führt das zu Spannungen und Schmerzen.

Das muss beweglich bleiben, damit mit jedem Atemzug diese innere Welle durch den Körper hindurch

gehen kann - ganz entspannt bleiben. Wenn man diese feinen Wellen deutlich wahrnimmt, wird das ein

Genuss. Es ist wirklich ein Genuss zu spüren, wie fein sich der Körper um sich selbst kümmert.

In der Vajra-Girlande finden wir:

„Die Schultern sind auf gleicher Höhe, die Zunge berührt den Gaumen, Zahnreihen und

Lippen sind entspannt, der Blick folgt der Nasenspitze.“

Acārya Amitavajra lehrt:

„Auf einer bequemen Unterlage in Vajra-Sitzhaltung, beide Hände in der Geste ausgegli-

chenen Verweilens - bitte legt die Hände ab, haltet sie nicht wie im Zen hoch, nicht die zusätzli-

che Anstrengung, sondern ablegen, entspannen - mit aufrechtem Körper, das Kinn gebeugt…“

Nāropa erklärt:

„Die Schlüsselhaltung des Körpers geht wie folgt:

Halte [die Wirbelsäule] vollkommen gerade wie aufgereihte Juwelen,

beuge [das Kinn] wie einen Haken,

bleibe innerlich aufrecht wie eine Schwertlilie,

halte [Schultern und Arme] versiegelt wie ein Knoten,

übe mit der Meditationsgeste Druck [auf den Oberschenkel] aus, -

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.124 Druck mit den Händen in diesen weichen Bereich, in die Lenden, was die Zirkulation der subtilen

Energien, also der emotionalen Energien unterbindet und andere Energiekanäle öffnet -

kreuze [die Beine] wie ein Schachbrett.“

Ob wir die Beine wie ein Schachbrett kreuzen, hängt von den besonderen Bedingungen ab, aber

die gerade Wirbelsäule, das [leicht] gebeugte Kinn, der aufrechte Oberkörper, die durchgestreck-

ten Ellbogen und die Hände in Meditationsgeste werden allgemein als verpflichtend gelehrt - die

volle Vajra-Haltung also, in der wir das so gekreuzt haben, ist nicht unbedingt notwendig -.

Diese Schlüsselhaltung für den Körper wird eingenommen, um bestimmte Nutzen zu bewirken:

Die Vajra-Sitzhaltung - der Beine - bringt die nach unten ausscheidende subtile Energie unter

Kontrolle. Es gibt einen großen Prana-Strom, der für die Entleerung von Blase und Darm verantwortlich

ist. Der wird so kontrolliert.

Der Druck der Meditationsgeste unterhalb des Nabels bringt die das innere Feuer regulierende

subtile Energie unter Kontrolle. Unter Kontrolle bedeutet, dass es in Balance kommt: wenn es zu heiß

ist, wirkt es kühlend, wenn es kalt ist, wirkt es wärmend. Es wird nicht per se warm. Wenn man bei

warmem, bei heißem Wetter in diese Haltung geht und das Zentrum hier unten aktiviert, wirkt das küh-

lend.

Die gerade Wirbelsäule und der aufrechte Körper bringen die alldurchdringende subtile Energie

[die Bewegungen reguliert] unter Kontrolle.

Die durchgedrückten, völlig geraden Ellbogen und Schultern bringen die lebenserhaltende subtile

Energie unter Kontrolle.

Der geneigte Hals und die am Gaumen anliegende Zunge bringen die nach oben bewegende subtile

Energie unter Kontrolle - subtile Energie ist einfach die Übersetzung von Prana, tibetisch lung -.

Sind diese primären subtilen Energien unter Kontrolle, kommen automatisch auch alle sekundä-

ren subtilen Energien unter Kontrolle. Insbesondere bewirkt dies aber der nicht schwankende,

ruhig verweilende Blick.

Der ruhige Blick hat eine ganz besondere Funktion. Hier hinter den Augen kommen sehr viele Energie-

kanäle zusammen. Den Blick ruhig zu lassen über längere Zeit, hat eine Auswirkung auf den gesamten

Organismus. Alles beruhigt sich. Das ist ganz, ganz wichtig. Also nicht mit schweifendem Blick medi-

tieren, es sei denn, ihr seid schon im Mahāmudrā - dann spielt das keine Rolle mehr.

Hierdurch verweilen die Energiekanäle, subtilen Energien und das Bodhicitta völlig natürlich und

stabilisieren sich. Die körperlichen Elemente kommen ins Gleichgewicht und wir bekommen eine

frische Gesichtsfarbe. Man merkt, dass jemand, der auf diese Art übt, immer frischer wird, immer

gesünder aussieht.

Da sich das Bewusstsein nicht mit den Objekten der Sinne befasst, entsteht meditative Versenkung

von selbst. Der Geist ist kaum aufgewühlt oder dumpf und die Klarheit unseres Bewusstseins zeigt

sich.

In dem anderen großen Meditationstext, im „Ozean des wahren Sinnes“ vom 9. Karmapa wird noch

beschrieben, wie diese Meditationshaltung die Emotionen unterbindet.

Als ich mit meiner Frau, Lama Irene, im ersten Retreat war, hatten wir die Abmachung: wenn es zwi-

schen uns emotional zu heiß wurde, konnte einer von uns „stopp“ rufen. Wenn einer von uns „stopp“

rief, dann hieß das: beide zurück auf unsere Meditationssitze in getrennten Zimmern. Dann sind wir in

die Meditationshaltung gegangen.

Da kann keine Emotion bleiben. Wenn man sich auf diese Haltung einlässt, löst sie sofort Ärger und

alle anderen Emotionen auf. Man muss schon verbissen festhalten, um eine Emotion weiter nähren zu

können. Das haben wir ganz gezielt genutzt. Dann klopfte 10 oder 15 Minuten später der/die erste, der

bereit war, an die Tür und fragte: „Na, bist du schon bereit zu sprechen“? Dann folgte entweder: „Nein,

noch nicht oder doch, ja.“

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 125

Das möchte ich euch sagen: diejenigen, die körperlich noch flexibel genug sind, um mit der Haltung

praktizieren zu wollen, können das einsetzen, um aus einer Emotion heraus zu finden. Es geht so einfach,

einfach die Haltung einnehmen. Und es zulassen, dass die Emotion sich auflöst. Das gehört dazu.

In dieser Haltung denken wir nicht nach. Wir machen keine Kontemplationen. Wir lassen den Geist wie

erfasst werden von der Klarheit, die durch den Körper geht. Dadurch öffnet und klärt sich der Geist.

Später, wenn wir mit dieser Haltung vertraut sind, können wir in dieser sogar Texte rezitieren. Zu An-

fang war es mir nicht möglich, Texte zu lesen, wenn ich in dieser Haltung war. Der Geist geht einfach

in eine andere Dimension, in eine entspanntere Seinsweise.

Wenn wir aber Fehler beim Einnehmen der Schlüsselhaltung machen, hat auch das Folgen: Ist

der Körper - in dieser Haltung - nach rechts geneigt, kommt es zunächst zu einer Erfahrung von

Klarheit, dann aber zu vielen Gedanken. Ist er nach links geneigt, kommt es zunächst zu Freude

und dann zu vielen Gedanken. Ist er nach vorne geneigt, kommt es zu großer Klarheit gefolgt von

Aufgewühltsein. Ist er nach hinten geneigt, kommt es zu klarer Weite und dann zu starker Ablen-

kung. Wenn der Blick schweift, beginnt das Bewusstsein, sich mit Objekten - also mit Sinneserfah-

rungen - zu beschäftigen, was viele Gedanken zur Folge hat. Dies alles sind Schlüsselunterweisun-

gen der Praxislinie, die wir berücksichtigen sollten.

Ich denke, für die allermeisten von uns in diesem Raum kommt diese Haltung etwas spät im Leben und

kommt als eine tägliche Meditationshaltung nicht mehr in Frage. Aber die Jungen unter euch ermutige

ich, diese zu lernen. Vielleicht gibt es auch ein paar Ältere, die so geschmeidig sind, dass sie davon noch

Nutzen haben können.

In Stufen der Hörer heißt es:

„Durch diese körperliche Haltung entstehen rasch Geschmeidigkeit und die Fähigkeit,

lange mit der Praxis fortzufahren, ohne groß erschöpft zu sein. Diese Haltung unterscheidet

sich von denen der Nicht-Buddhisten und verschiedener Kritiker. Allein schon diese Hal-

tung zu sehen, die vom Buddha und seinen Schülern eingenommen wird, ruft große Freude

hervor und wir sollten uns auf sie verlassen.“

Ich weiß nicht, ob das große Freude bei euch hervorgerufen hat? Abgesehen von den Werbespots, die

hier auch verpackt sind, ist das wirklich eine sehr hilfreiche Haltung, die den Weg abkürzen kann. Auch

wunderschön ist, wenn es uns nur für kurze Zeit möglich ist, in dieser Haltung zu sein, sagen wir für 5

Minuten. Wenn man 5 oder 10 Minuten in der Haltung bleiben kann, hat das schon Vorteile. Aber wenn

man dann die Haltung entspannt, bleibt von dieser noch eine lange Nachwirkung und macht die Medi-

tation ganz leicht. Achtet also auch mal auf die Nachwirkung dieser Körperhaltung.

Fragen

Teilnehmer/-in: Weil du gesagt hast, dass es Emotionen unterbindet und in die Geistesruhe führt, wollte

ich nur wissen, ob wir das am Anfang unserer Praxis praktizieren, denn sonst kann ich keine Atemedi-

tion oder so, das fällt ja dann alles weg…

Was fällt weg?

Die Atemmeditation, also wenn ich zum Beispiel mit Merkmalen meditiere, oder so?

Ja, in dieser Haltung würdest du jetzt zunächst keine sonstige Meditationsmethode verfolgen. Später

dann, wenn du geübter wärst, könntest du das machen.

Das heißt, ich mache das wie eine Vorbereitung, bevor ich in die Kontemplation gehe?

Ja, das kannst du machen, das geht. Und dann würdest du in der Haltung darauf achten, dass du dich

total entspannst. Das tut gut.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.126

Teilnehmer/-in: Zur Wildheit: ganz am Anfang dieses Kapitels zur Geistesruhe, Vorbereitung, steht als

erstes, man solle die Ursachen für Dummheit und Wildheit identifizieren und auflösen. Was machen

jetzt diese „Schnell-Blicker“, bei denen der wilde Geist ja Voraussetzung ist?

Meinst du diejenigen, die es schnell blicken? Die haben keinen wilden Geist als Voraussetzung.

In meinem tibetischen Text steht: sem gö.

Nein, sie sind angeregt. Sem gö ist nicht wilder Geist, gö-pa bedeutet angeregt, inspiriert, die Energien

sind sehr stark angeregt.

Teilnehmer/-in: Ich habe eine Frage zur Handhaltung. Es gibt in verschiedenen Traditionen verschie-

dene Handhaltungen. Ich habe das ausprobiert und gemerkt, es konzentriert noch einmal sehr stark,

wenn ich die Hände so halte, wie du es gesagt hast. Ich merke allerdings, wenn ich die Hände so natür-

lich fallen lasse, ist immer bei mir die Linke in der Rechten, umgekehrt als du es gerade gesagt hast. Ich

habe auch schon mal gehört, dass das bei Männern und Frauen unterschiedlich ist. Da weiß ich jetzt

nicht so genau…. Ich versuche es einfach so, dass ich entspannt bin.

Wenn du einfach so sitzt, kann auch die linke Hand mal in der rechten ruhen. Wenn du aber mit über-

kreuzten Beinen sitzt, dann mache es für die Hände genauso wie für die Beine. Wenn der rechte Fuß

oben ist, ist auch die rechte Hand oben und wenn der linke Fuß oben ist, ist auch die linke Hand oben.

Bei mir ist immer der rechte Fuß vorne, dann sollte also auch die rechte Hand oben sein.

Vorne oder oben? Bei Fuß vorne ist das nicht so entscheidend. Wichtig ist, dass es symmetrisch ist.

Teilnehmer/-in: Mir erscheint in der Beschreibung, wie du die Sieben-Punkte-Haltung gezeigt hast, wi-

derspricht sich das sozusagen mit dem zweiten Punkt der Beschreibung, dass die rechte Handfläche auf

der linken liegt und die gestreckten Daumen sich berühren.

Völlig richtig. Die rechte Hand liegt zwar auf der linken, aber so weit auseinander, dass sich - weil hier

diese [gezeigten] Punkte abgedrückt werden - nur die ersten beiden Finger überkreuzen.

Aber die Daumen berühren sich nicht wie in der Beschreibung…

Nein, das ist eine Zusatzinstruktion. Was da in der ersten Beschreibung beschrieben wird, wäre so eine

Haltung [gezeigt], die ich aber von keinem tibetischen Lehrer übertragen bekommen habe, denn die

sagen: Immer diese [gezeigte] Haltung. Deswegen gehe ich mit der mündlichen Überlieferung.

Teilnehmer/-in: Wenn ich zuhause bin, lege ich zuerst meine Brille ab - ich habe fünfeinhalb Dioptrien,

also ziemlich viel. Ich habe festgestellt, dass dann weniger Sinneseindrücke kommen und ich ruhiger

werde. Meine Frage: du hast gesagt, einen ruhigen Blick haben - und ich habe festgestellt, wie gut mir

das tut, mit offenen Augen zu meditieren. Würdest du dann die Brille auflassen oder abnehmen?

Wenn du dich ohne Brille wohlfühlst und es nicht zu Schiel-Effekten oder dergleichen kommt, dann

lege die Brille ab. Das ist vollkommen in Ordnung. Wenn du speziell üben möchtest, interaktiv sehend

gewahr zu sein, dann kannst du ja auch mit aufgesetzter Brille meditieren. Aber eigentlich ist das Able-

gen der Brille ganz gut.

Dann habe ich einmal gehört, man solle den Blick wie nach innen nehmen?

Das bedeutet, dass man die Aufmerksamkeit von den äußeren Objekten abzieht. Jetzt schaue ich dich

an, aber wenn der Blick nach innen geht, ist da nur noch Raumwahrnehmung und kein Fokussieren

mehr. Man zieht nicht den Blick ab, sondern man zieht die Aufmerksamkeit von all den vielen Farbfel-

dern ab, die zu sehen sind.

Aber dann werde ich wieder so Ich-bezogen, dann kriege ich Körperempfindungen: was ist das?

Die Ich-Bezogenheit ist das, was sich immer vergewissern will, was dies und das ist, die immer alles

einordnen will. Du merkst vielleicht die ohnehin vorhandene Ich-Bezogenheit stärker, weil die inneren

Prozesse deutlicher werden. Diese Ich-Bezogenheit war aber auch vorher schon da. Sie wird dadurch

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 127

nicht stärker. In diesem Benennen-Wollen und Greifen und sich-Vergewissern mit dem Sehen ist auch

ganz viel Ich-Bezogenheit.

Teilnehmer/-in: Gibt es die Möglichkeit, dass wir die Hände einfach auf den Oberschenkeln ablegen?

Das ist halt entspannt.

Klar. Schau mal, wenn du die Hände so auf den Oberschenkeln hast, ist das sehr entspannt, aber es

macht einen kleinen Unterschied gegenüber der besprochenen Haltung. Du müsstest einmal untersu-

chen, ob das bei dir auch so ist.

Im Normalfall bedeutet die besprochene Handhaltung stärkere Sammlung. Wenn du schon gesammelt

bist und dann die Hände öffnest, bewirkt das vielleicht eine zusätzliche Entspannung. Es kann aber sein,

dass du in dieser Arm- und Handhaltung merkst, dass etwas mehr Gedanken entstehen. Jede kleine

Veränderung bewirkt das. Wenn man fein genug empfindet, merkt man, dass schon die Veränderung

einer Hand oder eines Beines Auswirkung darauf hat, wie die Energien zirkulieren, und damit, was im

Geist passiert.

Meditation

Wir üben - und zwar nicht die Sieben-Punkte-Haltung. Wir üben weiter mit Geistesruhe, wie wir ange-

fangen haben. Habt ihr noch den Eindruck, wie wir eben aus der Meditation herausgefunden haben?

Könnt ihr selbst wieder hineinfinden? Ist es noch da in euch, was ihr als eure entspannte, ruhige, offene

Seinsweise gefunden hattet für Körper und Geist? -

Jetzt geht es darum, nicht zu imitieren, was mal war, sondern mit Hilfe dessen, was mal war, in ein

ähnliches, neues, frisches Erleben hinein zu finden. -

Wie ist es jetzt, so offen zu sein? Zulassen mit dem Einatmen, fließen lassen mit dem Ausatmen... -

Wie möchte der Atem jetzt fließen? Lasst ihn ganz frei, dass er genauso fließen kann, wie es euch gut

tut. -

Verankert euch wieder sanft in der Aufmerksamkeit auf dem Atem oder noch besser: im Gewahrsein,

wie es ist zu atmen. -

Wir spüren jedes Einatmen, jedes Ausatmen - und genießen es. -

Alles andere, was uns noch beschäftigen könnte, lassen wir beiseite. Jetzt geht es für eine Weile nur um

das Hiersein, jetzt gerade, mit dem Atem im Zentrum unseres Interesses. -

Immer wieder bringen wir die Aufmerksamkeit in die Atem-Erfahrung. Wir sind beim Einatmen gewahr

und beim Ausatmen. Wir merken, ob wir mal tiefer oder mal flacher atmen. -

Jetzt gehen wir ein wenig weiter in die Wahrnehmung, wie der ganze Körper einatmet und ausatmet,

wie sich der Körper anfühlt beim Einatmen und beim Ausatmen. -

Einatmend sind wir des ganzen Körpers gewahr und ausatmend sind wir des ganzen Körpers gewahr.

Der ganze atmende Körper. -

Wir bleiben fein verankert im Gewahrsein des Ein- und Ausatmens und nehmen dabei alle körperlichen

Empfindungen wahr, die feinen Veränderungen, die ständig stattfinden. -

Das machen wir so unaufgeregt und entspannt, dass der Frieden wie im ganzen Körper einzieht. Selbst

in Bereichen, in denen wir Schmerzen haben, beruhigt es sich, öffnet es sich. -

Wir sind so fein präsent, frei von Wertungen, frei von Anhaften und Ablehnen, dass es uns in Körper

und Geist gut tut. --

Beim Einatmen erfahren wir, wie gut es tut, so zu sein - und beim Ausatmen erleben wir, wie gut das

tut. -

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.128 Bleibt weiter mit dem Ein- und Ausatmen verbunden, sodass es Körper und Geist erfreut. -

Während wir weiterhin mit dem Ein- und Ausatmen verbunden sind, nehmen wir all die anderen Sin-

neserfahrungen wahr. -

Hörend atmen wir ein, hörend atmen wir aus. -

Sehend atmen wir ein, sehend atmen wir aus. -

So sind wir aller geistigen Vorgänge gewahr - immer verbunden mit dem Atem. -

Einatmend und ausatmend bemerken wir auch das Denken… was immer gerade im Erleben stattfindet.

Da wir mit den Atemempfindungen so innig verbunden sind, tragen uns diese verschiedenen Erfahrun-

gen nicht davon, sondern entstehen und vergehen fast im selben Moment. -

Ein- und ausatmend bemerken wir das ständige Entstehen neuer Erfahrungen - wie sich alles ständig

wandelt. -

Ein- und ausatmend enthüllt sich uns die Frische des jetzigen Erlebens. -

Ein- und ausatmend öffnen wir uns für das frische Erleben und entspannen uns da hinein. -

Jetzt sage ich für eine Weile nichts mehr und lasse euch ganz eintauchen, eins werden mit diesem flie-

ßenden Erleben, das wir selbst sind. - - -

Noch ein paar Atemzüge - tief entspannt, fließend, geschmeidig. Spürt es in Körper und Geist, wie das

gut tut, wie wenig Greifen gerade da ist. - -

Das war jetzt ein leichter Durchgang durch die Stufen des Anapanasati Sutta, der Lehrrede über das

Entwickeln von Gewahrsein mit dem Ein- und Ausatmen - in etwas leichter verständlichen Worten.

Alles mit dem Atem. Wir haben zunächst das Gewahrsein auf den ganzen Körper ausgeweitet, dann in

alle Sinneserfahrungen hinein, dann die geistigen Aspekte mit hineingenommen, auch das Denken, Füh-

len - und haben dann ein Element der Einsichtsmeditation hinzugenommen. Das war das Bemerken des

Entstehens und Vergehens, dass alles Wandel ist, wie alles frisch ist, immer wieder neu.

Das ist Einsichtsmeditation, so einfach, ganz natürlich. Wir bemerken, wie es ist. Während wir mit dem

Anker unserer Meditation, mit den Atemempfindungen verbunden sind, bemerken wir zugleich das, was

man die Unbeständigkeit nennt: Wandel, dynamisches Sein.

Wir gehen ganz darin auf, werden zu diesem dynamischen Sein, ohne uns dagegen zu sträuben und ohne

etwas festzuhalten. Das hilft uns, noch gelöster zu werden, weil wir in der Tiefe im Einklang sind damit,

wie es halt ist: ständiges Entstehen, ständiges Vergehen, dynamisches Sein, Wandel, frisch, immer wie-

der neu. Wir geben das Kontrollieren-Wollen auf. Wenn wir das Kontrollieren-Wollen aufgeben, kön-

nen wir eins werden mit dem Fluss, mit dieser fließenden Erfahrung. Das tut so gut.

Und jetzt eine Hausaufgabe. Einmal noch heute Abend es einladen, so offen fließend in der Erfahrung

zu sein, so wie das Ein- und Ausatmen, einfach sein, in tiefen Frieden eintauchen, wo der Kampf ein

Ende hat, wo es auch kein Greifen gibt.

Einfach sein, irgendwo auf einer Wiese liegen oder auf eurem Bett, in einem Stuhl sitzen. Und wenn ihr

euch einfach sagt: Jetzt lasst uns mal fünf Minuten ruhig sein, einfach mal sitzen… Dann kommt die

Erfahrung wieder - in neuer Form. Ähnliche Qualitäten der Erfahrung, aber immer ein bisschen anders,

denn die Situation ist anders.

Ihr werdet sehen, die grundlegenden Qualitäten des Seins sind immer dieselben. Das ist Einsichtsmedi-

tation: die immer selben Qualitäten des Seins zu erkennen und damit in tiefen Einklang zu kommen.

Geistesruhe und schon ein bisschen Einsicht.

Also heute noch einmal, damit die Brücke nicht zu groß wird bis morgen früh. Wenn ihr morgen früh

Zeit habt, auch noch morgen früh, noch im Bett oder vor dem Bett, noch einmal für fünf oder zehn

Minuten eintauchen. Wenn ihr noch mehr Zeit habt, länger - damit die Intervalle möglichst kurz bleiben.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 129

Je kürzer die Intervalle, also je häufiger wir diese Erfahrung machen, desto leichter wird es, den Weg

da hinein zu finden, ganz leicht; es wird euch ganz vertraut. Es geht dann wie mit einem Fingerschnippen

und schon kommt ihr da an, ganz leicht.

Dazu braucht es viele solche Erfahrungen in nicht allzu großen Abständen, damit sich dazwischen nicht

wieder so viel anderes Verspannendes aufbauen kann.

Drittens: Wie wir den Geist auf die Meditationsmethode ausrichten

Wir sind auf Seite 20 unten, Punkt 3., bei den Vorbereitungen für die Meditation. Die Überschrift heißt

hier für diesen Unterpunkt:

Es wird uns leichtfallen, uns mit Freude auf tiefe Meditation einzulassen und den Geist auf die

Meditationsmethoden auszurichten, wenn wir die Qualitäten von meditativer Sammlung

erkennen. Das ist eigentlich die Überschrift dieses Absatzes. Uns werden nochmal die Vorzüge der

Geistesruhe erklärt. Hierzu heißt es in einem Sūtra:

„Wenn wir den Dharma nicht üben, werden wir den Dharma nicht sehen - wir werden die

Wirklichkeit nicht verstehen -. Wasser zu sehen oder zu hören, ohne davon zu trinken, löscht nicht

den Durst.“

Wenn wir zu solch einem Kurs kommen, sind wir durstig, wir dürsten nach dem Dharma. Aber nur die

eigene Übung wird den Durst löschen, nicht das intellektuelle Verstehen. Das wird nur eine kleine

Befriedigung sein. Im Vergleich zu der Erfahrung, die aus dem Üben entsteht, ist die intellektuelle

Befriedigung, die entsteht, wenn wir Dharma hören, wie ein Trostpflaster. Den Dharma trinken bedeutet

also, ihn zu üben.

Das ist der generelle - allgemeine - Grund, den Dharma zu üben. In Zusammenfassung der

Befreienden Weisheit lesen wir:

„Meditative Sammlung verhindert, dass uns Sinnesfreuden herabziehen, sich ins Haften an

Sinnesfreuden zu verstricken, und ermöglicht, Bewusstheit, übersinnliche Wahrnehmung und

tiefe Meditation zu verwirklichen.“

Eigentlich müsste man hinzufügen, dass uns das Verlangen nach Sinnesfreuden herabzieht, also in

Verstrickung zieht. Denn die Sinnesfreuden machen gar nichts mit uns. Sie sind einfach nur, wie sie

sind. Dass wir sie überhaupt für Sinnesfreuden halten, ist unsere eigene Interpretation, weil wir diese

Sinneseindrücke für besonders angenehm halten, dann daran festhalten und mehr davon wollen, und

damit verstricken wir uns. Das ist nicht die Schuld der Sinneseindrücke, das hängt mit unserer Haltung

zusammen.

Dadurch, dass sie uns entspannt vis-á-vis aller Sinnesbereiche, verhindert meditative Sammlung, dass

wir dem Angenehmen ausgeliefert sind. Wir wissen: wenn etwas Angenehmes auftaucht, können wir

uns sofort entspannen oder einfach entspannt bleiben, weil das kein Greifen auslöst.

Das üben wir im eigenen Geist bei jeder Meditation: den Erfahrungen des Körpers, des Hörens, des

Sehens usw. bis hin zu den geistigen Erfahrungen - Bilder, begriffliches Denken, Erinnerungen, Impulse,

Wünsche usw. -, all diesen Erfahrungen gegenüber entspannt zu bleiben und nicht ins Reagieren zu

gehen.

Das ist für alle Meditationen Grundprogramm, darum geht es.

Befreiende Meditation ist also nicht das Kultivieren von Anhaftungen an hübsche Visualisationen und

Klänge usw. Darum geht es nicht. Da baut man sich eine Parallelwelt auf und das ist nicht befreiend.

Nochmal von Anfang an: „Meditative Sammlung verhindert, dass uns das Verlangen nach

Sinnesfreuden in Verstrickungen herabzieht, und sie lässt uns Bewusstheit, übersinnliche

Wahrnehmung und tiefe Meditation verwirklichen.“

Allgemein führt Meditieren zu erhöhter Bewusstheit, zu höherer Präsenz, größerer Klarheit. Wir

bekommen immer mehr mit, was passiert. Wir bekommen sogar so viel mit, dass andere Antennen in

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.130 uns aufgehen, dass wir in Bereichen Wahrnehmungen entwickeln, die wir übersinnlich nennen, die

normalerweise nicht aktiviert sind, dass wir weit weg Entferntes hören, wir hellsichtig werden, wir

vielleicht Gedanken mitbekommen, wir viel feiner Emotionen bei anderen mitbekommen usw.

Verschiedene Fähigkeiten, die wir in den übersinnlichen Bereich gruppieren.

Darauf legen wir es in der Meditation nicht an, aber wenn die Meditation ganz tief wird und ganz ruhig,

offen und entspannt, zeigen sich diese natürlichen Fähigkeiten, die wir Menschen eben auch haben. Sie

sind nicht übernatürlich, sondern sind uns aufgrund der Enge unseres Geistes normalerweise nicht

zugänglich.

Sie entstehen schon bei Geistesruhe und sind dort noch bedingte übersinnliche Wahrnehmungen,

abhängig vom Geisteszustand. Wenn wir in einer stärkeren Emotion sind, sind sie völlig weg, gehen

verloren und kommen erst wieder, wenn der Geist völlig entspannt ist.

Natürlich verwirklichen wir auch tiefe Meditation. Das sind die verschiedenen Sammlungsstufen, die

gemeint sind, die berühmten Dhyanas. All das ist Geistesruhe. Das sind viele Vorzüge, und diese

übersinnlichen Wahrnehmungen sind übrigens von daher interessant - und nur von daher -, weil sie uns

helfen, anderen zu helfen. Ansonsten können wir sie auch einfach sein lassen.

In der ersten Schule, in der ich meditiert habe - in der burmesischen Schule bei Mother Sayama - wurden

die übersinnlichen Wahrnehmungen als Feind der Praxis betrachtet. Als es damit anfing, machte ich

Wünsche, keine mehr zu haben - damit man nicht von diesem Mara der übersinnlichen Wahrnehmung

in Versuchung geführt wird, weil das für den Stolz ganz schwierig zu handhaben ist. Wenn man etwas

mehr wahrnimmt als andere Menschen, kommt sofort die Stolz-Identifikation und man hält sich für

irgendwie besonders: besser, reifer, spirituell reifer. Das ist ein sehr großes Hindernis. Das ist viel

schlimmer als der entsprechende Nutzen aus diesen Wahrnehmungen.

Im Mahayana, im Großen Fahrzeug der Bodhisattvas, werden die übersinnlichen Fähigkeiten etwas

anders eingeschätzt, denn sie helfen uns tatsächlich, anderen beizustehen, wenn wir sie stolz-frei

einsetzen. Wir wissen um das Risiko dieser Fähigkeiten, müssen ganz geschickt und demütig mit ihnen

umgehen und sie uns nicht sozusagen dem Ego einverleiben, damit wir nicht meinen, wir hätten etwas

getan. Sie tauchen auf in Situationen, wo das Herz, der Geist etwas offener ist. Wenn man in

Mahamudra-Praxis ist, werden sie bei einigen wenigen Praktizierenden offenbar stabil, so heißt es.

Ich habe bei einem Lehrer gelernt wie Gendün Rinpoche, der viele dieser Fähigkeiten hatte und sie total

ohne jeden Stolz, ohne jede Anhaftung genutzt hat, um uns zu führen. Das hat uns viel Zeit erspart, es

war sehr effektiv. Er wusste immer, was bei uns läuft, er kannte unsere Emotionen, unsere Gedanken,

unsere Meditationserfahrungen, ohne dass wir ihm diese zu erzählen brauchten.

Das war sehr hilfreich und hat uns extrem angespornt, weil wir wussten, er bekommt sowieso alles mit.

Erstmal ist klar: Ehrlichkeit ist gefragt, verstecken kann man nichts, und es ist so, als ob der Lama immer

mit einem unterwegs ist und wir uns wirklich so verhalten, als wäre der Buddha die ganze Zeit neben

uns. Das ist ein enormer Antrieb, wirklich mit den inneren Geisteszuständen aufzuräumen.

Dabei half natürlich, indem er so sehr liebevoll war, dass Schuldgefühle nie ein Thema waren, über all

dem Schrott, der uns da über das Herz und den Geist ging, indem er das alles liebevoll aufgenommen

hat und mit Humor und uns nie das Gefühl gegeben hat, wir seien irgendwie schlecht deswegen. Er

konnte uns einfach besser helfen, weil er uns durch und durch verstanden hat.

Wenn schon übersinnliche Fähigkeiten, dann immer mit Liebe und mit der Weisheit, dass es nicht die

eigenen Fähigkeiten sind, sondern natürliche Fähigkeiten des Geistes, die bei einigen wenigen

Meditierenden durch Geistesruhe entstehen, die sich einfach zeigen und ein Geschenk sind, um anderen

zu helfen.

Das sind die allgemein bekannten Vorzüge meditativer Sammlung. Zusätzlich bewirkt das

Verwirklichen von Geistesruhe, dass der Körper und Geist von Wohlgefühl und Freude erfüllt

sind und es dadurch leichter fällt, die Aufmerksamkeit in der Meditationsmethode zu halten.

Dieses körperliche Wohlbefinden kommt durch die Entspannung, das führt zum besseren Zirkulieren

der subtilen Energien, und der Geist, weil er entspannt ist, ist freudig. Die Natur eines entspannten

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 131

Geistes ist eine feine, heitere Grundstimmung, etwas ganz Leichtes, etwas, was Ausdruck dieser

Geistesruhe ist, in der wir schon viel weniger greifen, als wir bislang festgehalten haben.

Meditative Sammlung führt den Geist aus der Ablenkung heraus, vertreibt die vielen

Schwierigkeiten und Fehler, die Geistesruhe verhindern, und verwirklicht die Qualitäten von

übersinnlichen Wahrnehmungen, Wunderkräften und dergleichen. Auf dieser Basis bringt sie die

Erkenntnisse intuitiver Einsicht hervor und sorgt dafür, dass das, was hervorgebracht wurde,

stabilisiert wird, wodurch wir schnell Befreiung aus dem Kreislauf des Werdens finden und die

zeitweiligen und letztendlichen Qualitäten - des Erwachens - erfahren und ganz in sie hineinfinden,

indem wir ihrer gewahr bleiben.

Hier ist ein wichtiger Punkt: Geistesruhe oder anders übersetzt: ein klarer, offener, ruhiger Geist, der

dort bleibt, wohin wir ihn ausrichten, ermöglicht Einsicht.

Das ist wie ein stabiles Mikroskop oder Teleskop, wir können überall einzoomen, wir können Dinge

untersuchen, der Geist ist stabil und klar, er ist nicht abgelenkt, wir können lange verweilen, lange

bestimmte Geistesbereiche ausloten. Ein ruhiger, unaufgewühlter Geist ist ein wunderbares Instrument.

Alles wird klar, und es purzeln die Einsichten. Das ist wirklich vergleichbar mit einem Teich. Wenn er

aufgewühlt ist, weiß man überhaupt nicht, wie tief er ist und was darin los ist. Da ist einfach nur

aufgewühlter Schlamm. Wenn er klar wird, ist er durchsichtig bis zum Grund, alles kann man sehen.

So ist unser Geist auch. Leider ist er im Normalzustand aufgewühlt.

Gendün Rinpoche nahm bei dieser Passage der Unterweisung immer ein Wasserglas und sagte: „Unser

Geist ist wie ständig aufgewühlter Tee, da ist nichts klar zu sehen. Lasst ihn doch mal zur Ruhe kommen.

Dann werdet ihr klar sehen, wie er eigentlich ist.“

Das ist der Zusammenhang zwischen Geistesruhe und Einsicht. Wir müssen den Geist zur Ruhe kommen

lassen, damit wir alle Bereiche unseres Seins erforschen können. In der wissenschaftlichen Forschung

werden wir nicht mit einem verschmierten Mikroskop arbeiten, das geht nicht. Wir werden es putzen,

es muss absolut klar sein, dann können wir klar sehen. Mit unserem Geist ist es genauso.

Wir müssen den Geist von diesem Aufgewühltsein befreien, diesem emotionalen Wirrwarr - und auch

die Zeiten der Beobachtung ausdehnen. Manchmal ist er vielleicht klar, aber schon kommt ein anderer

Gedanke und dann ist die Zeit der Beobachtung zu kurz, um wirklich zu überzeugenden Schlüssen zu

kommen, wie er denn nun wirklich ist.

Eigentlich wäre es schön, den Geist völlig klar unbegrenzt lange dort verweilen lassen zu können, wo

es uns darum geht, etwas zu erforschen. Das ist echte Geistesruhe.

Wenn Einsicht entsteht, wenn wir die Natur des Geistes tief erkennen, geht die Geistesruhe noch weiter.

Sie hört da nicht auf, nur weil wir Einsicht entwickeln, sondern sie stabilisiert uns in dieser Einsicht.

Dieselbe Fähigkeit, dass der Geist dort verweilt, wohin wir ihn ausrichten, geht natürlich weiter.

Wir richten dann mit der Einsicht den Geist so aus, dass er in der Erfahrung des So-Seins verweilt - und

er bleibt da genauso stabil wie vorher in der noch dualistischen Geistesruhe. Jetzt handelt es sich um

eine non-duale Geistesruhe, und der Geist ruht in sich im klaren, non-dualen Gewahrsein, ohne

aufgewühlt zu sein.

Dadurch vertieft sich die Einsicht und weitet sich aus in verschiedene Lebensbereiche. Es wird uns

möglich, in immer mehr Lebensbereichen, eben dann auch in der Aktivität, den Geist völlig offen, ruhig,

präsent und ohne Greifen zu haben.

Auch das letzte Greifen, das die Geistesruhe noch trennte von der intuitiven Einsicht, ist vorbei. Diese

Fähigkeit, den Geist stabil halten zu können - er ist von Natur aus stabil, niemand braucht ihn mehr zu

halten - hilft, die Einsicht schnell sich ausdehnen zu lassen in alle Lebensbereiche. Wenn ich sage

‚schnell‘, ist das im Laufe eines Lebens – das ist ziemlich schnell. Sonst dauert es halt ein paar Leben.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.132 Auf dieser Basis bringt Geistesruhe die Erkenntnisse intuitiver Einsicht hervor und sorgt dafür,

dass das, was hervorgebracht wurde, stabilisiert wird. Und dadurch erfahren wir die zeitweiligen

und letztendlichen Qualitäten des Erwachens.

So heißt es in der Unterscheidung zwischen Mitte und Extremen:

„Ruhen und Darin-Ruhen sind die eigentliche Ursache und Frucht.“

Mit „Ruhen“ ist das gewollte Ruhen gemeint, d.h. intensiv angestrebte tiefe Meditation. Mit

„Darin-Ruhen“ ist ein großes Streben gemeint, d.h. kontinuierlich in freudiger Ausdauer [und

tiefer Meditation] bleiben zu können. „Ursache“ ist die Ursache des Sehnens, d.h. die Vorzüge

tiefer Meditation zu erkennen und dabei ein inspiriertes, freudiges Vertrauen zu spüren.

„Frucht“ ist die Frucht des Strebens: Geschmeidigkeit in Körper und Geist zu erlangen. Wenn

wir so die Vorgehensweise verstanden haben, richten wir das Bewusstsein auf die

Meditationsmethode.“

Ich erkläre euch das nochmal mit eigenen Worten.

In der ersten Phase der Praxis wird uns klar: ich möchte meditieren, ich verstehe die Vorzüge und ich

habe auch schon erste Erfahrungen davon. Da entsteht eine Inspiration, die zu einem Streben führt, zu

einer Ausrichtung. Das nennt man das „gewollte Ruhen“. Es ist mit ein bisschen Anstrengung

verbunden. Es dürfte für die meisten von euch zutreffen, dass euer tägliches Meditieren gewollt ist, mit

einer gewissen Anstrengung einhergeht. Ihr richtet euch aus, weil euch klar ist: da möchte ich lang, das

inspiriert mich, das möchte ich entwickeln.

Dann kommt es zu dem, was hier das „große Streben“ genannt wird. Man muss immer genau hinhören

und hinfühlen, wenn das Wort groß in den buddhistischen Texten auftaucht. Das „große Streben“ ist ein

Nicht-Streben, deswegen ist es groß. Es ist ein Ausgerichtet-Bleiben, ohne dass es mit Wollen zu tun

hat. Es ist so unbeschreiblich groß: wie ist es möglich, dass man ausgerichtet bleibt, ohne dass das mit

dem Willen geschieht? Das ist für normale Menschen kaum vorstellbar.

Diese große, starke innere Ausrichtung ist völlig anstrengungslos und geht immer in Richtung auf das

natürlichste Sein. Man könnte auch sagen, es ist gar kein Streben mehr, sondern wie die natürliche

Bewegung, dass alles der Schwerkraft folgt in der äußeren Welt, zum Beispiel Wasser fließt den Berg

hinunter. Alles neigt in die Zustände größter Entspannung.

So neigt auch der Geist dazu, wenn er einmal gemerkt hat, wie es geht, immer in den natürlichsten

Zustand hineinzugehen, wenn wir ihn nur lassen. Das ist dieses große Streben, das ist mit darin ruhen

gemeint, und dabei mangelt es uns nie an Freude, die wir hier freudige Ausdauer nennen: die Energie,

weiter zu praktizieren, weiter zu meditieren.

Jetzt wird Meditation zum Selbstläufer. Sie braucht nicht mehr ständig angeschubst zu werden und mit

ein bisschen Wollen umgesetzt werden, sondern sie wird ganz automatisch stattfinden. Da fehlt es uns

nie an freudiger Ausdauer, wir können in der Praxis bleiben ohne Anstrengung.

Ursache ist, dass ursprünglich, vielleicht für euch gerade jetzt, ein Sehnen entstand, eine Inspiration

durch die Vorzüge tiefer Meditation, die uns bewusst geworden sind. Dabei ist ein inspiriertes, freudiges

Vertrauen zu spüren, welches wächst durch weitere solcher Erfahrungen. Das heißt, euer inspiriertes

Vertrauen, was die Meditation angeht, ist sicherlich schon um einiges gewachsen durch die vielen

positiven Erfahrungen, die ihr damit sammeln konntet.

Die Frucht ist die Frucht der Ausrichtung, die dadurch stattfindet, und führt dazu, dass wir ganz viel

meditieren, ganz viel üben - und wir üben die ganze Zeit das Nicht-Anhaften, das Fließen-Lassen, das

Zulassen, uns zu öffnen, den Geist in seine natürliche Klarheit hineinfinden zu lassen. Das führt dazu,

dass wir immer geschmeidiger in Körper und Geist werden, immer weniger Blockaden haben, unser

Geist, weil er freier von Greifen wird, natürlich flexibler wird, beweglicher.

Das muss miteinander einhergehen: wenn wir uns daran gewöhnen, nicht zu fixieren, dann sind wir

weniger blockiert. So ist es einfach. Das ist eigentlich dasselbe mit zwei verschiedenen Worten gesagt.

Die Geschmeidigkeit nimmt zu und sie ist das wesentliche Zeichen für Fortschritte in unserer Praxis.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 133

Wenn wir uns blockierter fühlen und unflexibler oder wenn uns eventuell von unseren Partnern

gespiegelt wird, dass wir immer rigider werden und unflexibler, eventuell dogmatischer, dann ist

irgendetwas verkehrt. In unserer Praxis scheinen wir dann nicht wirklich das Fließen-Lassen zu

kultivieren, sondern wir sind vielleicht dabei, uns subtil religiös zu fixieren, dogmatisch, sektiererisch

zu werden - nehmt die Begriffe, die ihr wollt -, oder besserwisserischer zu werden, immer mehr zu

meinen, ich wüsste immer besser, was für meine/n Partner/Partnerin gut ist.

Wenn solche Prozesse stattfinden, müssen wir hinschauen: was mache ich eigentlich da? Das ist nicht

der Dharma-Weg. Dharma-Weg macht flexibler, geschmeidiger, bringt uns immer mehr in die Lage,

mit Menschen verschiedenster Art zu leben, zurechtzukommen, mit herausfordernden Situationen

geschmeidig umzugehen, macht uns toleranter, führt zu mehr Verständnis. Das sind wirklich die Früchte

der Praxis: Geschmeidigkeit in Körper und Geist.

Anmerkung zum Begriff der Sammlung

Ich möchte noch ein paar Worte über den Begriff Sammlung sagen. Sammlung ist der Oberbegriff.

Meditative Sammlung praktizieren wir immer. Meditative Versenkung ist eine tiefe Sammlung.

Ihr werdet in fast allen französischen Texten und in den meisten deutschen Texten noch sehr häufig das

Wort Konzentration finden. Ich halte das für nicht angemessen, sogar irreführend. In der Praxis geistiger

Sammlung, in der Praxis von Geistesruhe sind konzentrative Techniken nur ein kleiner Teil.

Eigentlich nutzen wir in der Praxis der Geistesruhe die natürliche Eigenschaft des Geistes zu verweilen

- nachdem wir zu Anfang oder zwischendurch uns etwas konzentriert oder fokussiert haben, damit die

auftauchenden Gedankenketten durchtrennt werden, wir uns davon befreit haben.

Der Geist ist nicht von Natur aus abgelenkt, er sammelt sich von selbst. Geistesruhe ist die Fähigkeit,

den Geist in natürliche Sammlung zu bringen. Das ist keine ständige Konzentration. Es braucht nur

genau so viel Konzentration, wie unser Greifen nach den Inhalten von Gedanken ist. Genauso groß, wie

unsere Anhaftung ist, genauso groß braucht es erstmal die Konzentration. Sie muss eigentlich etwas

größer sein. Wir richten uns bewusst aus und das Interesse geht nicht mehr in die ablenkenden Gedanken.

Jetzt ist es aber so: wenn tief in uns Entsagung entsteht - das heißt, wir sind voller Überdruss, wir haben

es satt, uns immer so in die Gedanken zu verstricken, und wir sehen, dass die Inhalte unserer

verschiedenen Gedankenformen uns überhaupt nicht weiterbringen, sie eigentlich unnütz bis schädlich

sind - entsteht so ein tiefes Loslassen durch Entsagung, also durch Weisheit, dass wir gar keine

Konzentration mehr brauchen.

Die auftauchenden Gedanken treffen nicht mehr auf einen Geistesstrom, der sich für sie interessiert. Der

Geistesstrom hat sich in der Tiefe von ihnen abgewendet, weil er sie durchschaut als im besten Fall

überflüssig, unnütz oder gar schädlich. Sie werden nicht mehr genährt.

Das heißt, wir brauchen uns nicht mehr zu konzentrieren, weil das ganze schon mit der Weisheit erledigt

ist, die Natur dieser Gedanken als Selbstbeschäftigung, als Ablenkung, als Ego-Neurose zu

durchschauen. Wir nähren sie nicht mehr und interessieren uns nicht mehr für sie. Und wenn sich

niemand mehr für sie interessiert, sind sie im selben Moment vorbei. Es braucht gar keine Konzentration.

Wenn ihr in einer Situation seid, wo ganz viel los ist wie in diesem Raum: wenn ihr euch für jeden

interessiert, der hier im Raum ist und dann meditieren wollt, müsst ihr immer ganz viel euren Geist so

konzentrieren und in Sammlung bringen. Wenn ihr aber hier seid, einfach in großer Offenheit, lasst die

anderen machen, was sie wollen, dann findet Sammlung ganz leicht statt. Das hat dann gar nichts mehr

mit Konzentration zu tun.

So ist das mit allen Sinneserfahrungen. Wenn sich innen drin niemand mehr mit ihnen engagiert, sich

für sie interessiert als jetzt gerade so wichtig, dann sammelt sich der Geist von selbst. Der Geist bleibt

von selbst ruhig und es braucht keine Konzentration mehr.

Dann ist der Geist natürlicherweise gesammelt. Das ist die anstrengungslose Geistesruhe. Die ist der

eigentlich klare Geist, mit dem die Einsichten entstehen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.134 Bei den konzentrativen Techniken ist immer noch etwas Forciertes dabei, etwas mit dem Willen. Das ist

nicht gemeint. Das ist nur das Einstiegstor, wenn wir noch stark hingezogen sind zu den verschiedenen

Inhalten unseres Denkens und Wahrnehmens.

Wer also sehr abgelenkt ist in der Praxis, viel mit Denken beschäftigt ist, mit vielen Emotionen, vielen

Bildern usw., muss einfach wissen: das hat damit zu tun, dass ich so viel Interesse für diese Gedanken,

Emotionen und Bilder habe. Nicht sie lenken mich ab, sondern ich gebe ihnen immer wieder Nahrung

und füttere sie durch meine Aufmerksamkeit. Darum gestalten sie sich immer wieder neu. Es ist ganz

wichtig, das zu sehen und diesen Prozess zu verstehen.

Meditation

Wir machen das Natürlichste der Welt. Es braucht keine spezielle Vorbereitung.

Es geht nur darum zu sein - und nichts zu beabsichtigen. -

Dann werdet ihr bemerken, dass die Aufmerksamkeit zu irgendwelchen Erfahrungen hingezogen ist.

Mal geht sie in die Körperempfindungen, mal in die Hör-Erfahrungen, dann kommen irgendwelche

Gedanken…

Dann empfehle ich euch, das Interesse zu entspannen, dieses feine Greifen, das den Sinneserfahrungen

solche Wichtigkeit gibt. - - -

Immer wieder das Interesse, das Greifen entspannen. Dort, wo ihr das wollt, erhöht ihr das Interesse.

Das sind die Bereiche, auf die ihr euch bewusst ausrichten wollt, mit denen ihr euch befassen wollt,

erforschen: dort stabilisiert ihr das Interesse.

Um euch jetzt etwas anzubieten zum Beispiel zum Erforschen: wie ist es, einfach zu sein, bei vollem

Gewahrsein, ohne zu greifen?

Kleine Geschichte über Gendün Rinpoche

Gendün Rinpoche war ein vollkommen befreiter Mahamudra-Meister. Ich habe in den elf Jahren bei

ihm keine Spur von emotionaler Verstrickung gesehen.

Er war ein unglaubliches Geschenk. Er wurde vom 16. Karmapa, dem Chef der Karma Kagyü Linie,

dem Chef dieser Übertragung, als sein bester Mann nach Europa geschickt mit den Worten: „Lama

Gendün hat in diesem Leben Vajradhara verwirklicht. Er ist wie Milarepa.“

Er ist unser Meditationsmeister gewesen – total bescheiden. Er war immer offen für alle Menschen,

immer guter Laune – und war auch in der Lage, großes Leid aufzunehmen und aufzulösen.

Ein kleines Beispiel will ich von ihm erzählen. Es war sein erstes Dreijahres-Retreat. Weil ihm beide

Eltern je ein Lebensjahr geschenkt hatten - es gibt solche „deals“ in Tibet -, konnte er mit 18 Jahren

schon die Mönchs-Ordination nehmen, die man sonst erst mit 20 nehmen kann. Dann konnte er gleich

ins Dreijahres-Retreat.

Ein Mann, der die Familie kannte, finanzierte ihm das Dreijahres-Retreat. Dieser Mann wurde sehr

krank. Er hatte eine schwere Hautkrankheit, wo überall Abszesse auftauchten. Die tibetischen Ärzte, die

konsultiert wurden, verzweifelten, weil nichts half. Er lag im Sterben.

Der junge Gendün mit damals 20 Jahren bekam Nachricht von der Krankheit seines Unterstützers, und

machte die Tonglen-Praxis, die Praxis des Herzatems. Er konnte damals schon solch ein Mitgefühl

entwickeln, dass die Abszesse auf seinem eigenen Körper auftauchten und bei seinem Unterstützer

verschwanden. Der Unterstützer wurde innerhalb einer Woche gesund und Gendün Rinpoche hatte für

eine Woche diese Abszesse am ganzen Körper, mit hohem Fieber – lebte durch die Krankheit hindurch

und wurde auch gesund.

Gendün blieb dann 30 Jahre im Retreat in verschiedenen Höhlen. Er machte auch Pilgerreisen, wo er

kein Dach über dem Kopf akzeptierte und auch nachts bei minus 20 Grad draußen im Schnee schlief

bzw. meditierte. Die Geschichten aus seinem Leben sind genauso wie die Geschichten über Milarepa.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 135

Gendün Rinpoche war wirklich ein Meditations-Meister. Wenn es darum ging, die einzelnen Stufen von

Geistesruhe zu erklären, sagte er: „Wisst ihr, ich bin eigentlich der Falsche, euch das zu erklären. Ich

habe mich einfach hingesetzt, mein Geist war so weit für das Wohl der Lebewesen, ich kenne eure

Hindernisse gar nicht. Ich habe mich hingesetzt und die Meditation fing von selbst an - einfach, weil ich

sowieso für alle Lebewesen ins Retreat gegangen bin und angefangen habe zu meditieren.“

Er hat schon mit sieben Jahren gestreikt, als sein Vater, der ein Om Mani Peme Hung-Steinmetz war, er

meißelte Mantras in Steine - ansonsten hütete die Familie die Yaks - aus Gendün auch einen Steinmetz

machen wollte.

Gendün wollte nicht, er hatte schon in diesem frühen Alter nur einen Wunsch: zu meditieren und ins

Kloster zu gehen, und er konnte dann mit sieben Jahren auf eigenen Wunsch ins Kloster gehen. Sonst

wurden in Tibet die Kinder ins Kloster geschickt, einer aus der Familie musste ins Kloster. Aber er

wollte unbedingt und seine Eltern wollten gar nicht.

So fing das an bei ihm und er sagte: diese anfänglichen Stufen der Meditation uns zu erklären, fiele ihm

schwer. Er könne das schon erklären, aber es fehle ihm die ganz direkte Erfahrung.

Deswegen auch der Begriff Geistessammlung: das ist einfach das, was natürlich passiert. Dass man

Konzentration braucht ist, weil man noch so stark an den verschiedenen Sinneseindrücken haftet.

Viertens: Meditationsmethoden, die Geistesruhe ermöglichen

- wie uns Meditationsmethoden helfen können, Geistesruhe zu entwickeln. Zunächst die

Meditationsmethoden mit Merkmalen, später werden wir Meditationsmethoden ohne Merkmale

kennenlernen.

A. Meditationsmethoden mit Merkmalen

Meditationsmethoden mit Merkmalen und mit Stütze

- Die eigentlichen Meditationsmethoden

Personen von geringerer Befähigung, welche die verschiedenen Aspekte der Stabilisierung des

Geistes noch nicht beherrschen und die lernen möchten, den Geist ruhig verweilen zu lassen, tun

gut daran, zunächst voller Energie die für sie angemessenen Methoden zum Sammeln des Geistes

anzuwenden. Tilopa sagt hierzu:

„Übe den Blick - den ruhigen Blick - und die vielen Methoden, den Geist zu stabilisieren, bis du

nicht mehr in der Dimension des [dualistischen] Bewusstseins verweilst.“

Übe also, werde mit den verschiedenen Methoden immer offener, immer entspannter, bis auch das

dualistische Greifen sich aufgelöst hat.

Die Sūtras und auch die Stufen der Meditation von Kamalaśīla empfehlen, den Geist als erstes auf

die Vorstellung der edlen Form des Sogegangenen zu richten, um Geistesruhe zu entwickeln. Doch

die Lehrer der Praxislinie finden es etwas zu schwer für Anfänger, die Form des Sogegangenen als

geistiges Objekt erscheinen zu lassen, und empfehlen deshalb, den Geist auf ein gewöhnliches

materielles Objekt zu richten, das es leicht macht, den Geist ruhig verweilen zu lassen – zunächst

sogenannte „unreine“ Objekte, die nicht fürs Erwachen stehen, wie einen Stein oder ein

Stöckchen, und dann sogenannte „reine“ Objekte, die das Erwachen symbolisieren, wie eine

Darstellung des Sogegangenen.

Tagsüber richten wir unsere Aufmerksamkeit auf einen Stein, Stock oder dergleichen, was immer

sich passend anfühlt. Wenn das nicht so leicht geht, können wir den Geist auf einem passenden

kleinen Gegenstand halten, den wir auf der Linie zwischen Licht und Schatten platzieren - wenn

das Licht zum Beispiel an die Hauswand, durchs Fenster oder durch einen Baum hindurch fällt: genau

an dem Übergang, wo es oft schwierig ist, etwas zu sehen -.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.136 Nachts halten wir dann die Aufmerksamkeit auf einer kleinen Lichtsphäre, die wir zwischen den

Augenbrauen oder auf dem Scheitel visualisieren. Sie kann weiß oder schwarz sein, groß oder

klein, je nachdem was angemessen erscheint.

Wenn wir das Bewusstsein aufhellen wollen, nehmen wir eine weiße, strahlende Lichtsphäre, wenn wir

das Bewusstsein beruhigen wollen, nehmen wir eine schwarz-blaue, dunkelblaue Lichtsphäre.

Wenn wir es intensivieren wollen, können wir experimentieren: eine große Lichtsphäre, oder wenn wir

den Geist schärfer machen wollen, nehmen wir eine ganz kleine Lichtsphäre, so klein wie der Punkt

oben an einer Stecknadel.

Ganz entspannt richten wir den Geist auf diese Stützen für unsere Aufmerksamkeit und achten

darauf, dass der Geist nicht woanders hin abschweift und abgelenkt wird. Während wir ihn

aufmerksam auf der Stütze halten, beschäftigen wir uns keineswegs mit Farbe, Form oder

sonstigen Eigenschaften der Stütze;

Die Stütze ist nur ein Anker. Wir beschäftigen uns überhaupt nicht - zum Beispiel, wenn wir ein

Stöckchen vor uns haben - mit dem Verlauf der Holzmaserung und wie das Moos aussieht, was noch

darauf zu sehen ist usw. Es ist einfach nur der Anker für die visuelle Aufmerksamkeit.-

wir denken nicht über sie - die Stütze - nach und untersuchen sie nicht. Kurz gesagt, es geht um

eine wache, entspannte Ruhe, wo der Geist völlig frei ist vom Denken an irgendetwas. Dabei

unterbrechen wir jedes Mal, wenn sich für einen Moment Ruhe einstellt, diesen ruhig

erscheinenden Zustand und gönnen uns eine kurze regenerierende Pause, nach der wir frisch

weitermachen.

Jetzt seid ihr sicherlich überrascht. Immer, wenn sich die Ruhe einstellt, unterbrechen wir.

Normalerweise würden wir denken, jetzt ist die Ruhe da, da machen wir weiter.

Nein. Es ist so, jetzt hast du es geschafft, jetzt kennst du den Weg. Jetzt entspanne sofort, damit du dich

nicht selbst ausquetschst wie eine Zitrone. Jetzt lass das Greifen nach dieser gerade gefundenen Ruhe

los, mach Pause - und übe wieder, damit es dir mit der Zeit ganz leicht fällt, in diese Ruhe

hineinzufinden. Wenn du das mit Leichtigkeit beherrschst, kannst du auch länger darin verweilen.

Sich jeweils nur für kurze Zeit, dafür aber häufig zu üben, bringt Freude am Meditieren. Darin

rechtzeitig Pausen zu machen, erhöht die Qualität, und wir haben stets Lust, wieder zu meditieren.

Wenn wir uns hingegen zu Anfang bereits erschöpfen, führt das zu Entmutigung und wir verlieren

die Freude am Meditieren.

Meditation auf eine äußere Stütze ohne Symbolik

Als erstes braucht jetzt jede/-r irgendeinen kleinen Gegenstand. Setzt euch so, dass eine Tasse, ein Stift

oder irgendetwas von eurem Vordermann, eurer Vorderfrau in euer Gesichtsfeld kommt, etwa eineinhalb

Meter vor euch, damit ihr, wenn ihr darauf schaut, keinen geneigten Kopf bekommt. Der Kopf muss

aufrecht sein.

Die meisten legen sich die Objekte zu nahe hin, sie sollten etwas mehr Entfernung haben, damit es keine

Anstrengung braucht, nach unten zu schauen. Ihr könnt zum Beispiel auch einen kleinen Ausschnitt des

Musters des Hemdes, der Bluse eures Vordermannes, eurer Vorderfrau wählen - was natürlich den

Nachteil hat, dass er/sie atmet und sich bewegt.

Der Blick geht in Richtung der Nase, der Nasenspitze, ziemlich entspannt - -

und wir machen das jetzt bewusst kurz, nehmen das als Anker, werden ganz eins mit der Erfahrung des

Sehens -

und schon entspannen wir wieder. Pause

Sind eure Augen jetzt müde? Wenn sie müde sind, habt ihr euch zu sehr angestrengt.

Der Kopf darf nicht zur Seite geneigt sein, er soll gerade sein. Das Objekt muss gerade vor euch sein.

Wenn das nicht der Fall ist, setzt euch ein bisschen anders hin, damit ihr anstrengungslos darauf schauen

könnt.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 137

Und noch einmal. Schaut so auf das Objekt, als würdet ihr hindurchschauen und gar nicht an der

Oberfläche haften. Es ist einfach die Richtung für den entspannten Blick. - -

Wieder Pause, den Blick heben, Augenmuskeln entspannen. Während ihr Pause macht, achtet darauf,

dass der Blick jetzt auch irgendwo einfach ruht, obwohl das gar nicht euer Meditationsobjekt ist.

Wir meditieren weiter, ihr geht wieder auf das Meditationsobjekt. -

Lasst ruhig zu, dass der Blick ein wenig oszilliert, ganz feine Bewegungen. Die sind ganz natürlich. Das

kommt vom abwechselnden Entspannen der verschiedenen Augenmuskeln.

Und wieder entspannen. Zur Abwechslung in die Weite schauen und den Blick in der Weite ruhen lassen.

Anmerkungen zur vorangegangenen Meditation und zu den Stützen

So würden wir mit dem Üben beginnen und allmählich die Zeiträume ausdehnen.

Wir gehen immer so weit, bis die Ruhe entsteht, unterbrechen wieder, gönnen uns eine Pause, üben

wieder, bis die Ruhe entsteht, bleiben vielleicht ein bisschen länger darin, aber ohne uns zu erschöpfen,

machen Pause, beginnen wieder, und gehen so viele Male, Hunderte Male durch diesen Prozess.

Jetzt stellt euch vor, ihr sitzt in einem Bahnhof, wo richtig viel los ist, zum Beispiel Paris. Ihr sitzt da

und wartet und ohne, dass es jemand merkt, ruht euer Blick - - und ihr findet einen Anker in diesem

Trubel, der da um euch herum ist. Einen Anker für den Blick.

Ihr könnt auch zwischendurch den Kopf etwas bewegen, das schadet nicht. Mit dem Blick, der ruht,

beginnt euer Geist in Geistesruhe zu finden. Dann könnt ihr mitten im Gare-de-Lyon Geistesruhe

praktizieren. Schon allein das ist eine unglaubliche Hilfe, einfach nur das zu können.

Ich erinnere euch daran, dass es sehr wichtig ist, den Blick für alle Praktiken von Geistesruhe zu

stabilisieren, auch wenn wir später mit dem Atem meditieren - der Blick bleibt immer so ruhig. Das ist

das erste, was wir lernen.

Das Objekt, mit dem wir üben, ist vollkommen egal. Stein, Stock … Es braucht nicht die schönste Blüte

des Gartens zu sein. Es ist wahrscheinlich eher wieder ein Ausdruck von Anhaftung, dass wir uns genau

diese Rose auswählen und nur auf sie meditieren wollen.

Traditionell hat sich eingebürgert, die Lotusblüte als Zeichen, als Symbol dafür zu nehmen, wie sich

unser Geist öffnen kann, wie wir erwachen können, obwohl wir aus dem Schlamm kommen. Der Lotus

wurzelt unter Wasser im Schlamm und öffnet seine Knospe erstaunlicherweise über der

Wasseroberfläche, ohne die geringsten Spuren von Schlamm an sich zu haben.

Das ist zu einem Symbol für unseren Geist geworden, dass wir so schön sind, unser Geist eigentlich so

schön ist wie eine Lotusblüte - und egal aus welchem Schlamm wir geboren werden, was wir schon alles

durchgemacht haben: die eigentliche Natur des Geistes ist davon immer unberührt.

Dann nehmen wir irgendeine Blüte, wobei wir dieselbe Symbolik haben, und dann meditieren wir auf

die Blüte. Wir denken aber nicht ständig an die Symbolik, das ist nur der Einstiegsgedanke. Wir

meditieren zum Beispiel auf die feurig-vitale Kraft des erwachten Geistes, aber eigentlich ist unser Blick

nur auf eine rote Blüte gerichtet.

Schon nach ein oder zwei Gedanken denken wir nicht mehr darüber nach. Wir meditieren entspannt und

ohne, dass wir es merken, hat die symbolische Bedeutung, die wir der Blüte gegeben haben, eine

fortgesetzte Wirkung in unserer Meditation - es ist etwas anders, als auf einen Stein zu meditieren.

Das ist der Beginn von dem, was wir „reine“ Objekte nennen. Die normalen Gegenstände, die uns

umgeben, ohne eine symbolische Bedeutung, sind gewöhnliche Objekte. Wir könnten diesen Begriff

„unrein“ als „gewöhnlich“ übersetzen. Denn natürlich ist nichts Unreines in einem Stein.

Die sogenannten „reinen“ Objekte sind Objekte mit spiritueller Bedeutung, mit Symbolik. Dieselbe

Blüte, derselbe Stein kann für den einen ein gewöhnliches Objekt, ein Teil der Natur sein, für den

anderen schon mit symbolischer Bedeutung aufgeladen sein.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.138 Ein Buddha von unserem Altar, die „Große-Mutter-Statue“ hier - ist auch nur ein Gegenstand. Es ist ein

bisschen Metall, oder? Es ist künstlerisch bearbeitet worden und durch die Erklärungen, die ich euch

vor zwei Tagen gegeben habe, schon mit Bedeutung gefüllt.

Stellt euch vor, ihr meditiert auf die Große Mutter, die die Mutter aller Buddhas, aller Erwachten ist. Ihr

meditiert auf sie mit dem Wissen um die Symbolik - dass sie als Person nie existiert hat, sich aber in

allen Erwachten ausdrückt, sie in Visionen erscheint, aber keine wirkliche Existenz hat, sie Spiegel ist

für diejenige/denjenigen, die/der auf sie schaut, um die eigene wahre Natur zu erkennen. Ihre wahre

Natur besteht darin, jederzeit in völliger Sammlung zu sein, offen, unabgelenkt: dafür stehen die beiden

Hände im Schoß. Zu jedem Zeitpunkt verweilt sie in tiefster Erkenntnis der Leerheit, der wahren Natur

des Seins, der nicht-fassbaren Natur aller Erscheinungen und sie ist unerschütterlich wie der Vajra mit

unwiderstehlicher Kraft zum Wohl der Lebewesen aktiv.

Die vier Speichen stehen unter anderem - das ist eine Erklärung - für die vierfache erwachte Aktivität.

Zusammen mit der fünften Speiche im Mittelpunkt stehen sie für das fünffache zeitlose Gewahrsein, die

vollkommene Freiheit von den fünf zentralen Geistesgiften, die sich als zeitloses Gewahrsein

manifestiert. Darin ist ganz viel Symbolik.

Jetzt nehmen wir im Bewusstsein der Symbolik eine Statue, die gut gearbeitet ist, als unser visuelles

Objekt. Wir meditieren darauf. Es ist klar, dass das etwas anders ist als ein Stein. Es ist auch anders, als

auf eine Barbie-Puppe zu meditieren.

Denn während wir den Geist auf etwas Visuellem ruhen lassen, ist im Unbewussten immer noch eine

gewisse Aktivität, die in Schwingung geht mit dem, worauf unser Blick, unser Geist ruht. Das schwingt

noch mit. Während wir auf einen Buddha oder die Mutter aller Buddhas meditieren, meditieren wir

eigentlich auf die Natur unseres eigenen Geistes, auf die Schönheit unseres Geistes, wenn er ganz befreit

ist von Schleiern. Dann schaut ihr vielleicht in ihre Augen, in ihr Gesicht, erlebt die Harmonie ihres

Seins - all das ist Spiegel für unser eigenes wahres Sein.

Manchmal kommen Gedanken - aber die Chance ist größer, dass uns statt der sonstigen normalen

Gedanken, nun Gedanken kommen, die mit der Statue zu tun haben. Es sind Gedanken, die im Dharma

verweilen und gleich wieder losgelassen werden. Aber dank des visuellen Objektes, der visuellen Stütze

beginnt unser Geist in der Dimension des erwachten Gewahrseins zu schwingen. Das beginnt

allmählich.

Das nutzen Praktizierende, um mithilfe eines reinen Meditationsobjektes mit symbolischer Bedeutung

in die heilsame Schwingung zu kommen, ohne über die Stütze nachzudenken. Sie ist weiterhin einfach

nur ein Anker.

Es gibt verschiedene solche Stützen. Diese hier ist friedlich, also befriedend, es gibt aber auch Statuen

mit einem halb zornvollen, kraftvollen, energetisierenden Ausdruck oder sogar mit zornvollem

Mitgefühl, also von großer Kraft, ohne je in Ärger zu gehen. Es gibt so viele verschiedene Darstellungen.

Jede bringt uns in eine etwas andere Schwingung, wenn wir auf sie meditieren.

Das ist auch eine Unterweisung für unser Sein in der Welt. Was wir anschauen, mit welchen Farben wir

uns umgeben, worauf unser Blick ruht hat eine Auswirkung darauf, wie wir in Schwingung sind. Es

macht einen Unterschied.

Während ich meditiere, ruht mein Blick ganz oft in den Pflanzen, die in meinem Zimmer sind. Das ist

wunderbar, es tut mir so gut. Schaut mal, dass euer Blick beim Meditieren irgendwo ruhen kann, wo es

euch gut tut.

Gendün Rinpoche insistierte immer, dass das Gesichtsfeld vor uns, wenn wir meditieren, gut aufgeräumt

sein soll. Meditiert nicht in einem Chaos, sondern lasst das, worauf euer Blick ruht, eine Inspiration für

innere Klarheit sein.

Jetzt können wir, wenn wir uns die äußere Darstellung eines Buddhas, männlich oder weiblich,

eingeprägt haben, die Augen schließen und das Bild innerlich entstehen lassen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 139

Meditation auf eine innere Stütze mit Symbolik

Wenn ihr vor einer Statue wie der Großen Mutter sitzt, nehmt sie wahr, macht die Augen dann zu, und

macht das innere Bild der Großen Mutter viel größer als das, was die Augen gesehen haben, sodass sie

Lebensgröße annimmt. Lasst sie lebendig werden.

Wenn ihr vergesst, wie sie aussieht, öffnet die Augen und schaut wieder hin.

Wenn ihr euch wieder an zusätzliche Details erinnert, schließt die Augen wieder und lasst es innerlich

entstehen. Dabei versuchen wir nicht, das Abbild der äußeren Statue entstehen zu lassen, sondern eine

lebendige Lichtfigur, die der Statue ähnelt, die aber viel strahlender, leuchtender und total lebendig ist.

Dann macht wieder eine Pause. Das machen wir genauso kurz, wie wir es vorher mit dem visuellen

Objekt gemacht haben: kurz entstehen lassen und wenn es entstanden ist, schon wieder entspannen. Das

muss anstrengungslos gehen.

Wenn wir das als eine innere visuelle Stütze nehmen, als eine Visualisation, lassen wir unsere

Aufmerksamkeit auf dieser lebendigen inneren Vorstellung ruhen, so als wären wir in Präsenz, in der

Gegenwart der Großen Mutter. -

Das geht weiter, indem wir sie sogar hören können, wie sie uns den Dharma lehrt. Wir hören aber mit

dem Herzen, das heißt, wir hören nicht mit dem Intellekt, der jetzt lauter Sätze formuliert, sondern wir

hören innerlich. Die Botschaft kommt an, bevor sich begriffliches Denken formiert hat. Das begriffliche

Denken darf gelegentlich mal kommen, aber darum geht es nicht. -

Natürlich kann die Große Mutter auch tanzen und uns in den Arm nehmen und alles Mögliche tun, aber

das ist auch nicht Sinn dieser Übung. Sie dient dazu, unseren Geist stabil in der Dimension des

Erwachens ruhen zu lassen. Wir beginnen nicht, damit herumzuspielen. -

Die innerlich vorgestellte Große Mutter ist normalerweise recht groß, sie kann auch ganz klein sein. Wichtig ist, dass wir wie in ihrem Segen meditieren, sie um sich eine Aura des Segens hat und wir ganz

darin aufgehen und meditieren. -

Immer wenn nötig, kommen wir zu der äußeren Form zurück, die wir mit den Augen sehen können, und

nach einer gewissen Pause lassen wir die innere Form, die innere Visualisation wieder entstehen. -

Ausführungen zu äußeren und inneren Meditationsstützen mit und ohne Symbo-

lik

Ihr habt jetzt den Unterschied erklärt bekommen zwischen gewöhnlichen Stützen der Meditation und

Stützen der Meditation, die symbolisch aufgeladen sind. Das sind zwei große Gruppen von

Meditationsstützen, die „rein“ und „unrein“ genannt werden, aber das finde ich nicht passend.

Wir können nämlich in jedem Gegenstand alle erwachten Qualitäten wiederfinden.

Jeder noch so banale Gegenstand wie ein Bleistift oder Kugelschreiber hat alle Qualitäten des

Erwachens: im Erleben, im visuellen Erleben des Kugelschreibers ist alles drin. Das heißt, es gibt nicht

wirklich etwas, was nicht Symbol des Erwachens sein könnte. Nur sehen wir es nicht direkt.

Also sagen wir es so: gewöhnlich oder mit symbolischer Bedeutung, mit spiritueller Bedeutung, die auf

das Erwachen hinweist. Das ist ein Unterschied, den wir kennengelernt haben, und wir haben äußeres

Objekt und inneres Objekt unterscheiden gelernt.

Das sind zwei wesentliche Unterscheidungen: ohne Symbolik - mit Symbolik, äußerlich und innerlich.

Das könnt ihr auch in den Hörsinn übertragen. Alle Geräusche können uns helfen, den Geist zu

stabilisieren. Es kommt von irgendwo ein Geräusch, das sich anhört wie ein Ventilator, keine Ahnung,

was das wirklich ist: solch ein kontinuierliches Geräusch - es kann auch ein durchgehend laufender

Kühlschrank sein - kann für euch eine wunderbare Stütze sein, um damit den Geist zu stabilisieren. Das

wäre ein äußeres Geräusch ohne symbolische Bedeutung.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.140 Ihr könnt auch eine CD laufen haben, auf der spirituelle Gesänge sind, oder nur jemand einfach „OM,

OM, OM“ singt - da ist das Geräusch symbolisch aufgeladen. Falls ihr die Silbe OM versteht, hat sie

alle Bedeutung der Weisheit aller Buddhas, die sich durch Sprache ausdrückt.

Wenn wir auf Sprache meditieren: Sprache ist immer symbolisch, aber Sprache kann emotional

symbolisch aufgeladen sein oder sie kann ein Weg sein für die Botschaft des Erwachens. Da gelten

dieselben Prinzipien. Je nachdem, auf was wir meditieren, ist das mit gewöhnlichen Geräuschen oder

mit Geräuschen mit spiritueller Bedeutung, die es uns leichter machen, in dieses ganz gelöste

Gewahrsein hinein zu kommen.

Wenn ihr auf oder mit Musik meditiert, macht es einen Unterschied, ob ihr Mozart hört oder

Rachmaninow. Das sind andere Intensitäten, andere Schwingungen. Ob ihr euch Rock auflegt oder

Techno, das ist alles sehr unterschiedlich von der Qualität und hat Einfluss während der Meditation.

So suchen wir uns Stützen für die Praxis, die hilfreich sind, die uns unterstützen, in Geistesruhe zu

kommen.

Wenn ihr diese Grundprinzipien verstanden habt, könnt ihr euch durch den Dschungel der Angebote

hindurch navigieren, was all die Meditationsmethoden angeht, die in der Welt zu Hunderten und

Tausenden zu finden sind.

Das könnt ihr auf alle Sinnesbereiche ausdehnen, man könnte auch Berührung nehmen, die normalen

Berührungsempfindungen, man könnte auch mit einer Massage meditieren, man kann mit

Geschmäckern, mit Gerüchen meditieren… Schaut, was sie für Auswirkungen haben.

Dann gibt es die ganze Dimension der inneren geistigen Bilder, gewöhnliche Eindrücke und Eindrücke,

die symbolisch aufgeladen sind. Ich kann zum Beispiel innerlich auf einen Baum meditieren, kann mir

vorstellen, da ist ein Baum. Ich kann diesen Baum aber auch mit tieferer Bedeutung versehen, und dann

wird es vielleicht ein Zufluchtsbaum. Das hat noch eine andere Auswirkung, als sich nur einen Baum

vorzustellen. Ich kann mir eine Wiese vorstellen, oder ich kann mir eine Wiese vorstellen, auf der ein

Kind ganz ausgelassen spielt und für mich Ausdruck der spielerischen Natur des erwachten Gewahrseins

ist. Das ist dann schon symbolisch aufgeladen.

Das alles hat unterschiedliche Auswirkungen. So könnt ihr euch die ganze Welt der verschiedenen

Meditationsmethoden anschauen und versteht, was da gerade abläuft, mit was da gerade gearbeitet wird. Dann wählen wir uns eine oder zwei Methoden aus, mit denen wir regelmäßig jetzt arbeiten und jetzt

anfangen. Was wir als Stütze benutzen, entwickelt sich in den Monaten und Jahren unserer Praxis.

Vielleicht habt ihr gemerkt, dass die innere Visualisation ein bisschen schwieriger ist, als den Blick auf

ein äußeres Objekt zu halten. Den Blick auf einer äußeren Darstellung des Erwachens ruhen zu lassen,

ist relativ einfach, dafür braucht man eigentlich nur die Augen zu öffnen; während es eine deutlich

andere Leistung ist, innerlich eine Repräsentation des Erwachens zu aktivieren und so zu gestalten, dass

es uns hilft, in Geistesruhe zu finden.

Deswegen haben einige Lehrer gesagt, es ist vielleicht für Anfänger zu schwierig, sich die Form des

Buddhas vorzustellen und sich darauf auszurichten und damit Geistesruhe zu entwickeln. Es ist

vielleicht eine Überforderung. Vielleicht nehmen wir lieber erst einmal äußere Objekte.

In der tibetischen Tradition stellen Lehrer beim Unterrichten gern eine Statue vor sich, so wie hier, damit

all die Hingabe und Verehrung, die von den Schülern kommt, wie von der Statue aufgefangen wird,

sodass unbewusst, halb bewusst klar ist, dass die Verehrung immer dem Erwachen gilt und nie der

Person des Lehrers. Die Funktion einer Statue aus traditioneller Sicht: falls jemand auf die Idee kommt,

sich zu verbeugen, ist es ganz klar, das dient dem Erwachen und hat nichts mit der Person des

Unterrichtenden zu tun – ein kleiner Schutz, um nicht selbst in Ich-Bezogenheit zu kommen.

Auch für die, die zum Lehrer hinschauen, ist es klar, dass eigentlich die Stimme des Erwachens

unterrichtet und nicht eine Person. Bei der Person menschelt es immer noch, ziemlich. Und wenn es

menschelt und dieses menschelnde Wesen für den großen Lehrer gehalten wird, so ist das ein

bedauerlicher Irrtum, der zu Schwierigkeiten führen kann. Um diesem Irrtum ein wenig vorzubeugen,

stellt man traditionell solch eine Figur vor sich, wo für den Unterrichtenden wie für die anderen klar ist:

darum geht es, da sind die Qualitäten.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 141

Meditation

Jetzt meditieren wir wieder, wir üben also. Das ist die eigentliche Bedeutung von meditieren: üben. Wir

üben entspanntes Sein, wir üben uns darin, heilsam mit uns selbst umzugehen, zutiefst heilsam. Das

bedeutet auch, dass wir nicht an uns herumdoktern, wir nicht üben, um uns zu verbessern, sondern wir

üben uns darin, Zugang zu finden zu den eigentlichen Qualitäten unseres Geistes.

Wenn die Augen müde sind, könnt ihr sie schließen. Wenn ihr euch frisch fühlt, könnt ihr sie offenhalten.

-

Wir schenken den Körperempfindungen unsere Aufmerksamkeit, spüren, wie es sich im Körper anfühlt.

-

Bei allem, was wir spüren, bleiben wir entspannt, völlig entspannt. Es genügt, das alles wahrzunehmen,

es braucht keinen Kommentar. Im Grunde sind die Körperempfindungen einfach ein Anker, jetzt hier zu

sein. –

Wir können es auch systematischer angehen: auf die Art eines body-scans durch den Körper wandern

von den Fußsohlen bis zum Scheitel, vom Scheitel wieder bis zu den Fußsohlen… -

So viele Empfindungen werden uns bewusst. Unglaublich, was gleichzeitig überall im Körper los ist.

Wir bleiben ganz durchlässig. Egal, wie intensiv die Empfindungen sind, lassen wir den Geist offen und

weit wie der Himmel, ganz durchlässig. –

Da sind auch die Empfindungen, die durch das Ein- und Ausatmen entstehen. Sie können uns weiter

begleiten auf der Reise durch die verschiedenen Sinnesfelder, können uns als Anker dienen… -

Diejenigen, die das noch nicht kennen möchte ich einladen, damit zu experimentieren, wie es ist, den

Atem im Bauchraum zu spüren, die kleinen Bewegungen der Bauchdecke, die zu feinen Empfindungen

führen…

Wir können die feinen Empfindungen, die durch das Ein- und Ausatmen entstehen, bis in den

Beckenboden verfolgen, im Unterbauch, im Beckenbereich – können sie ausweiten, die Bauchdecke

hinzunehmen …

die rückwärtige Wand des Bauchraumes hinzunehmen, die Lenden, den Rücken… -

Und die obere Grenze des Bauchraumes mit dem Zwerchfell schließt dann das Ganze wie zu einem Ball,

einer Kugel, die wir innen und außen spüren können, die sich ausdehnt und wieder kleiner wird im

Rhythmus der Atembewegungen. –

Atmen mit besonderer Aufmerksamkeit im Bauchraum hilft uns, die Energien ein wenig nach unten zu

bringen. –

Atmen, empfinden im Bauchraum, Körper spüren… Nehmen wir vielleicht das Hören mit dazu…

Hören, Sehen, alle Sinne nehmen wir hinzu. –

Speziell was das Hören angeht, bleiben wir frei von Greifen, Mögen, Nicht-Mögen, völlig entspannt

und offen. –

Jetzt, wo der Geist schon etwas ruhiger geworden ist, können wir ganz bewusst die Einsichtsmeditation

ein wenig anstoßen, die Aufmerksamkeit in das kontinuierliche Entstehen und Vergehen aller

Erfahrungen lenken. –

Wandel ist spürbar, hörbar, sichtbar…, intensiv in jedem Moment zu erleben. –

In diesem Wandel sind auch die Impulse, Bilder, Gedanken, Kommentare, Bewertungen… all das, was

wir normalerweise Ich nennen. Schaut mal, inwiefern Ich vielleicht auch Wandel ist. Schaut mal hin, ob

ihr ein bleibendes Ich finden könnt in diesem Beobachten, diesem Sein. Schaut aufrichtig hin, immer

wieder, ohne das Ergebnis vorweg zu nehmen. - - -

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.142

Fortsetzung Kommentar: Die eigentlichen Meditationsmethoden

Weiter geht es mit dem Kommentar. Wir sind auf Seite 22, zweiter Absatz.

Manche halten es für völlig unangebracht, einen Stein, einen Stock oder eine Lichtsphäre als

Stütze für das Entwickeln von Geistesruhe zu nehmen, weil in den Grundlagentexten keine Rede

davon ist. Dieser Einwand ist nicht angebracht. Denn einerseits geht es darum, weniger Befähigten

einen leichten Zugang zur Geistesruhe zu ermöglichen – und da scheinen mir diese tiefgründigen

Ratschläge geringe Risiken und große Vorteile zu haben. Und andererseits finden sich diese Hin-

weise durchaus in Grundlagentexten, wie zum Beispiel bei Meister Bodhibhadra:

„Hierbei gibt es zwei Formen des ruhigen Verweilens, die entstehen, indem wir entweder die Auf-

merksamkeit nach innen richten oder aber nach außen, wie bereits vielerorten erklärt wurde.

Beim Richten der Aufmerksamkeit nach außen gibt es zwei Arten von Stützen, die besonderen

und die gewöhnlichen. Zu den gewöhnlichen zählen Steine, Stöcke und dergleichen Dinge, die es

leicht machen [in Geistesruhe] hineinzufinden. Zudem gibt es fünf Stützen der Meditation, die mit

dem Körper verbunden sind: der Atem, ein feines Merkmal - eine feine Empfindung im Körper -,

eine Lichtsphäre - die wir im Körper visualisieren -, verschiedene Lichtstrahlen, sowie Glücks- und

Freudengefühle.“

So wird in den Erklärungen also durchaus davon gesprochen, den Geist mit einer Lichtsphäre als

Stütze zu sammeln.

Diese Lichtsphäre wird oft zwischen den Augenbrauen visualisiert. Das ist eine Möglichkeit, sich mit

Hilfe des Körpers und einer Visualisation, die hier platziert wird, zu sammeln, und kann eine besondere

Klarheit in der Geistesruhe bewirken.

Da Geistesruhe im geistigen Bewusstsein - also im sechsten Sinn - verwirklicht werden muss,

könnte man meinen, ein äußeres Objekt wie ein Stein oder ein Stock, das mit dem visuellen Sin-

nesbewusstsein wahrgenommen wird, wäre ungeeignet. Doch keineswegs. Sämtliche Bewegungen

in den [fünf] verschiedenen Formen von Sinnesbewusstsein, wie zum Beispiel das Wahrnehmen

visueller Formen durch die Augen, führen unweigerlich zu Bewegungen im hauptsächlichen -

sechsten - geistigen Bewusstsein. Wenn es aufgrund eines stabilen Blickes nicht zu Bewegungen im

visuellen Bewusstsein kommt, dann kommt es dementsprechend zu weniger Bewegungen im geis-

tigen Bewusstsein. Wenn auch die anderen Formen von Sinnesbewusstsein wenig aktiv sind - also

zum Beispielweniger Aktivität im Hören, weniger Aktivität in Körperempfindungen -, dann ist das eine

wesentliche Erleichterung, dass auch das geistige Bewusstsein in weniger Aktivität findet. Dinge

wie ein Stein oder Stock dienen einfach dazu, das visuelle und das geistige Bewusstsein auszurich-

ten, damit der Geist nicht woandershin abgelenkt wird. Sie dienen als symbolische Erinnerungs-

stützen für den eigentlichen Sinn dieser Praxis: den Geist sich sammeln zu lassen. Dabei gibt es

keine definitiven Hinweise, wie man das zu tun hat. Die Texte erwähnen viele verschiedene solche

Stützen mit Merkmalen, so auch das Meditieren auf Unerfreuliches wie eine verwesende Leiche,

sowie auf die Form - die Sinnesformen - von Silben, Klängen, Licht, Namen und dergleichen mehr

- mit Namen ist gemeint: auf die Namen der Buddhas zu meditieren -. Auch Kamalashila in Stufen der

Meditation erklärt, dass die Meditationsobjekte für das Entwickeln von Geistesruhe keineswegs

festgelegt sind, doch wird das Sammeln des Geistes mittels der Form des Sogegangenen - des Bud-

dhas - besonders gepriesen.

Eigentlich halte ich den Text für durchgehend verständlich. Deshalb habe ich ihn am Stück vorgelesen.

Jetzt versteht ihr ein bisschen die Hintergrunddiskussion. In der buddhistischen Tradition ist es immer

wichtig, belegen zu können, dass der Dharma, den man lehrt, nicht von einem selbst erfunden wird,

sondern es authentische Quellen gibt von Meistern, die von allen respektiert sind wie der Buddha und

seine Schüler, auf die man das zurückverfolgen kann - dass man also keine eigenen Erfindungen in die

Welt setzt und diese als buddhistische Tradition verkauft.

Deswegen diese Diskussion, ob es zu belegen ist, dass man tatsächlich mit einem Stein oder Stöckchen

meditieren kann. Da hat sich dazu Dhakpo Tashi Namgyal die Mühe gemacht, die entsprechenden Quel-

len heraus zu suchen, und konnte damit diese Diskussion beilegen. Sie ist seither nicht mehr aufge-

flammt. Da gibt es immer wieder Passagen in unserem Kommentar, wo er solche Fragen klärt und sich

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 143

die Mühe macht, sorgfältig darauf einzugehen, um die unnötigen Diskussionen darüber zu beenden. Für

uns ist es nur eine Bestätigung dessen, was wir heute Vormittag schon gelernt haben.

In der von Bhadrapāla erbetenen Lehrrede finden wir - da antwortet der Buddha -:

„Bhadrapāla, so wie ich vor dir sitze und den Dharma lehre, genauso visualisiert der Bodhisattva

den Sogegangenen: Der Buddha sitzt auf einer Unterlage und erklärt den Dharma, mit einer vor-

trefflichen, wunderschönen körperlichen Erscheinung, die sämtliche hervorragenden Merkmale

besitzt. Stelle dir den Sogegangenen mit einem vortrefflichen Körper vor und meditiere auf jedes

einzelne seiner Merkmale – dies bewirkt eine große Verstärkung der positiven Kraft.“

Es gibt viele solcher Zitate. So heißt es auch im - berühmten Sutra - König der tiefen Meditation Sūtra

- Samadhiraja Sutra -:

„Sein Körper hat eine Farbe wie von Gold…“

Jetzt geht es um diese Visualisation des Buddhas und wie wir uns das vorstellen. Auch da wird belegt,

dass es Textquellen gibt und es sich nicht um eine persönliche Erfindung handelt. Besonders wichtig für

uns finde ich, dass ein Mahayana Sutra zitiert wird, in dem der Buddha offenbar den Schülern den Guru-

Yoga mit nach Hause gibt und sagt: stell dir einfach vor, der Sogegangene, der Buddha, säße vor dir,

ganz lebendig, auf einer Sitzunterlage auf dem Boden, und erklärte den Dharma - mit der ganzen vor-

trefflichen körperlichen Erscheinung. Lass deine Aufmerksamkeit durch all die einzelnen Merkmale des

Körpers wandern, während du die Qualitäten des Erwachens kontemplierst.

Daraus geht auch hervor, dass wir das möglichst lebendig machen sollen - wie eine lebendige Unter-

richtssituation, als erkläre er uns den Dharma. So hat es uns auch Gendün Rinpoche erklärt, als er mit

uns durch den Ozean des Wahren Sinnes vom 9. Karmapa gegangen ist: diese Lichtgestalt, auf die wir

meditieren, ganz lebendig werden lassen, sodass wir uns in der direkten Gegenwart des Buddha fühlen.

Ich möchte euch den Begriff Sogegangener, Tathāgata, noch erklären.

Sogegangener bedeutet: Wie alle Buddhas vor ihm und nach ihm ins Erwachen gehen werden, so ist

auch er ins Erwachen gegangen.

Eine andere Bedeutung ist, dass ein Buddha in das Sosein, in die Soheit eingetreten ist: so wie die Dinge

sind, in das natürliche Sein.

Beides kann man etymologisch herleiten. Das sind die Bedeutungen von Tathāgata, Sogegangener.

Wenn wir dann eines Tages Sogegangene sind, dann sind wir so gegangen wie alle anderen Buddhas

vor uns, ins Erwachen. Irgendwann wird es wohl so sein. Wir gehen jetzt schon so wie sie.

Ich werde euch in den nächsten Jahren und auch im Einzelunterricht gerne diese einzelnen Meditations-

methoden noch ausführlicher vorstellen. Jetzt geht es erst einmal darum, einen Überblick zu bekommen.

Tatsächlich könnt ihr gar nichts falsch machen, wenn ihr zum Beispiel eine weibliche Sogegangene wie

die Große Mutter visualisiert oder den Buddha.

Ehrlich gesagt, hat sie sowieso keiner persönlich getroffen. Die Idee, die Vorstellung, die wir uns ma-

chen vom Buddha, beruht nicht auf einem Foto oder auf einer persönlichen Beschreibung. Wahrschein-

lich war er viel magerer, als er immer in den Statuen dargestellt wird. Und er hatte immer einen gescho-

renen Kopf. Die blauen Haarwirbel, die abgebildet werden, hatte er bestimmt nicht. Sie stehen symbo-

lisch für etwas.

Von daher dürft ihr gerne eine gewisse kreative Freiheit walten lassen, wenn ihr euch Buddha vorstellt.

Wichtig ist, dass ihr die Gegenwart spürt, ihr euch an Vorbildern, an Beispielen orientiert, aber das

innerlich lebendig werden lasst. Der Buddha wird mit langen Ohrläppchen dargestellt. Vielleicht hatte

er wirklich solche Ohrläppchen, aber wenn euch das irritiert, dürfen sie auch kürzer sein. Wenn ihr einen

Buddha mit Piercing wollt: das ginge durchaus. Es ist nicht ganz traditionell, aber es widerspricht dem

auch nicht. Schaut mal hin, spürt hin. Wichtig ist, dass die Qualitäten des Erwachens euch erreichen.

Die traditionellen Buddha Statuen sind sehr ausgewogen, sie haben eine innere Harmonie. Und das ist

wichtig. Das ist wirklich wichtig, es muss harmonisch sein, damit in uns die Energien harmonisch flie-

ßen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.144 Einige bereits erwähnte Quellen und auch der dritte Band von Stufen der Meditation erklären es

genauso. Es wird auch viel zur Reihenfolge der Meditationsobjekte erklärt. Āryasūra und Atīśa

empfehlen, zu Beginn des Übens von Geistesruhe mit einem einzigen, beliebigen Objekt zu prak-

tizieren.

Das würde ich euch auch empfehlen. Richtet euch auf eine Meditationsstütze aus, die euch gefällt und

zusagt, nachdem ihr ein paar ausprobiert habt, und werdet damit so vertraut, dass ihr sie jederzeit nutzen

könnt, egal, was um euch herum los ist.

Wer in die Geistesruhe hineingefunden hat - und schon damit vertraut geworden ist -, so empfiehlt

der erste Band von Stufen der Meditation, kann mit weiteren Meditationsmethoden fortfahren.

Hierzu gehören in der Sūtra-Tradition zum Beispiel auch das Untersuchen sowie Bereinigen [von

Hindernissen] und das Bereinigen emotionaler Verwirrung.

Das ist so zu verstehen, dass wir uns erstmal um eine gewisse geistige Stabilität und Geistesruhe bemü-

hen, also vertraut werden mit unserem Anker, und dann den Blick wenden auf die Emotionen, die in uns

aufsteigen, gezielt mit den Emotionen arbeiten. Wir haben den Anker als tatsächlichen Anker, um je-

derzeit zurück zu finden und uns sofort wieder stabilisieren zu können.

Ich mache euch das ein bisschen deutlicher. Ich bin ein emotional aufgewühlter Mensch, ich begegne

dem Dharma und möchte den Dharma nutzen, um aus meiner ständigen Wut heraus zu kommen. Ich

bin cholerisch veranlagt. Ich würde am liebsten gleich damit anfangen.

Dann ist die Empfehlung: warte noch ein bisschen, übe erst zum Beispiel mit Atemmeditation und ma-

che die Atemmeditation stark, damit erste Erfahrungen von Geistesruhe möglich sind.

Dann wende dich der Arbeit mit dem Ärger zu. Ärger taucht nicht nur als bloßer Ärger auf, sondern es

kommen immer gleich Erinnerungen an die Situationen, die uns ärgerlich machen. Immer, wenn du

nicht mehr in der Praxis bist und dich der Ärger wie davonspülen würde, kannst du zum Atem zurück-

finden.

Du kannst also diese Pendelbewegung machen, von der heute in der Psychotherapie die Rede ist: das

Pendeln zwischen unserem Anker in der Praxis von Geistesruhe, das was den Geist ausgleicht und ihm

Stabilität gibt, und dann die herausfordernde Situation mit den Emotionen - und wieder zurück.

So können wir erleben, dass die Emotionen gar keine Substanz haben. Denn kaum sind wir wieder bei

unserem Anker, lösen sie sich wieder auf. Dann gehen wir wieder hinein und merken, dass eine be-

stimmte Art von Greifen, von sich-Identifizieren, die Emotion wieder anheizt - und wir gehen wieder

zurück zum Anker. Wir merken hier, wie die Emotion in sich zusammenfällt, wenn wir sie nicht mehr

nähren.

Durch dieses Pendeln entsteht allmählich ein tiefes Verständnis davon, was Emotionen anheizt, was zu

immer Leid und Stress führt, wie wir wieder herausfinden können. Dazu braucht es eine Stütze.

Manche brauchen eine starke Stütze, das wäre vielleicht Gehmeditation, den Körper benutzen, etwas

tun, auf und ab gehen, wo wir stark spüren können, was sich ständig verändert - um den Geist immer

wieder dort hinein zurückbringen zu können.

Oder wir haben ein Mantra, ein Gebet. OM MANI PEME HUNG - OM MANI PEME HUNG - OM MANI

PEME HUNG … und lernen, uns ganz auf den Klang und die Bedeutung des Mantras einzulassen: OM

MANI PEME HUNG - OM MANI PEME HUNG …

Die Bedeutung ist Liebe, Mitgefühl, Freude, Gleichmut, die vier Unermesslichen. Sie werden durch das

Mantra ausgedrückt.

Dann denken wir an die schwierige Situation, die wir heute Morgen auf der Arbeit hatten, wie uns der

Chef zurechtgewiesen hat - OM MANI PEME HUNG - OM MANI PEME HUNG - OM MANI PEME

HUNG ….

Wir stabilisieren uns und gehen noch einmal hinein - OM MANI PEME HUNG - OM MANI PEME

HUNG …

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 145

Und wir beginnen so, wie es uns unsere geistige Stabilität erlaubt, in die Situation hinein zu gehen,

halten das Mantra aber am Laufen - und pendeln. Manchmal sind wir mehr beim Mantra und bei der

Geistesstabilisierung, manchmal mehr beim Erforschen dessen, was uns aufgewühlt hat, was stattgefun-

den hat, wie es mir ging, wie es dem Chef ging… und bringen die Qualitäten von Liebe, Mitgefühl,

Freude, Gleichmut in diese Situation hinein.

Wir stellen uns vielleicht vor, wir hätten innerlich, als der Chef uns angebrüllt hat, bereits dieses Ge-

wahrsein gehabt. Wie das wohl gewesen wäre, wenn wir ruhig hätten bleiben können, statt zurück zu

schreien? OM MANI PEME HUNG - OM MANI PEME HUNG …

Das ist ein kreativer Prozess, wo wir verankert sind in den Qualitäten der Praxis und die Herausforde-

rung einladen. Dabei bereiten wir uns bereits auf die nächste Begegnung mit dem Chef vor. OM MANI

PEME HUNG - OM MANI PEME HUNG …

Nachdem wir den Ärger haben lösen können und die Situation von heute bearbeitet haben, findet viel-

leicht noch eine Praxis statt: OM MANI PEME HUNG - OM MANI PEME HUNG …, wo wir sagen:

Okay. Chef, setze dich mal hier hin, jetzt denke ich nicht mehr an dich, aber du bist willkommen hier,

einfach mit zu meditieren: OM MANI PEME HUNG - OM MANI PEME HUNG … Und ich lerne es, in

der vorgestellten Gegenwart des Chefs entspannt in diesen Qualitäten zu verweilen.

So haben wir unsere Meditationsmethode ganz intelligent eingesetzt, um eine Herausforderung in unse-

rem Leben zu bearbeiten. Das geht aber nur, wenn wir vorher gelernt haben, stabil in dieser Methode zu

verweilen. Deswegen wird diese Reihenfolge empfohlen, dass wir uns gut üben in einer Praxis. Zum

Beispiel mit dem Atem oder mit einem visualisierten oder tatsächlich gesehenen Objekt so gut zu üben,

dass wir zu diesem Anker zurückkehren können, wenn eine Emotion stark wird, sodass wir nicht von

ihr fortgerissen werden.

Dies wurde bereits [in den allgemeinen Ausführungen zu Geistesruhe] erklärt. So nutzen die Prak-

tizierenden der Praxislinie materiell vorhandene Objekte wie einen Stein oder Stock als Stütze,

um den Geist zu sammeln, oder sie visualisieren geistig vorgestellte Stützen, wie zum Beispiel eine

Lichtsphäre.

Definition von Geistesruhe

Es gibt viele verschiedene Formen der Geistesruhe, doch hier geht es vor allem darum, den Geist

frei von Denken ruhig verweilen zu lassen. Tilopa erklärt:

„Gib alle körperliche Aktivität auf und verweile natürlich gelöst. Rede nicht viel, denn Klänge

sind wie Echos. Was den Geist angeht, denke nicht, sondern sieh den Dharma, der dir gelehrt

wird.“

In den Texten zu Meditationspraxis wird übereinstimmend davon gesprochen, dass die Meditation mit

dem Atem, also das Entwickeln von Gewahrsein mit Hilfe des Ein- und Ausatmens, so eine Art Passe-

partout ist, eine Art Schlüssel für alles, für alle emotionalen Situationen anwendbar.

Deswegen empfehle ich euch, der Atemmeditation eine Chance zu geben, euch eine stabile Begleiterin

in eurem Leben zu werden. Wollen wir das noch etwas üben vor der Pause?

Meditation

Wir üben jetzt das, was ich angesprochen habe: ganz im Körper ankommen. - -

Im tantrischen Buddhismus wird der Körper der Palast der Befreiung genannt. Es ist in diesem Körper,

dass wir Befreiung erlangen können dank seiner Empfindungen, dank der Erfahrungen, die wir damit

machen. Auch wenn er in früheren Phasen unseres Lebens vielleicht missbraucht worden ist, geschlagen

worden ist, wir darin schlimme Erfahrungen gemacht haben: trotzdem ist es unser Palast der Befreiung.

- -

Dass wir ganz in unserem Körper ankommen, ist nur möglich, indem wir Ja sagen. Ja. Und dieses Ja

braucht es, wenn wir jetzt gerade Spannungen erleben, vielleicht Schmerzen haben, irgendwo einen

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.146 Knoten oder Druck erleben… all das braucht unser Ja. Wir sagen: okay, du darfst sein, der Weg geht da

hindurch. - - -

Damit sind alle Bereiche des Körpers gemeint. Es gibt keinen Bereich, kein Organ, das ausgeschlossen

ist. Alles gehört zusammen. - -

Inmitten der vielen Empfindungen, aus denen sich unsere Körperwahrnehmung zusammensetzt, ist das

Atmen. Atmen bewirkt ganz viele unterschiedliche Empfindungen. - -

Vielleicht möchtet ihr mit mir durch diese Welt der Atemempfindungen wandern. Ich fange oben in der

Nase an. -

Wenn ihr mit der Aufmerksamkeit in die Nasenflügel hineingeht: merkt ihr den Temperaturunterschied

zwischen Ein- und Ausatmen? -

Merkt ihr die unterschiedliche Fließrichtung? Wie es mal ein- und mal ausströmt? -

Merkt ihr, wie die Nasenflügel verschieden vibrieren beim Ein- und beim Ausströmen? -

Wie diese angeregten Gefühle in der Nasenschleimhaut sich bis weit nach innen fortsetzen, wo die Nase

in den Rachenraum übergeht? -

Vielleicht merkt ihr die feinen Empfindungen, wie die Luft vom Nasen-Rachenraum ihren Weg in die

Luftröhre findet… -

Vielleicht merkt ihr die feinen Unterschiede auf Höhe des Kehlkopfes, wenn die Luft hindurchströmt…

Vielleicht merkt ihr die sanften Bewegungen der Schlüsselbeine, das Weiten des oberen Brustkorbs, wie

sich die Haut und die Kleidung gegeneinander verschieben… -

Wie sich das Brustbein fein bewegt - und damit der gesamte Brustkorb… -

Das hat auch Auswirkungen auf die hintere Schulterpartie, auf den oberen Rücken… den mittleren Rü-

cken, den unteren Rücken… -

Vielleicht spürt ihr, wie sich innen der Luftraum jedes Mal nach unten erweitert, die feinen Bewegungen

des Zwerchfells im Inneren des Oberkörpers… -

Wie sich alle Rippen bewegen, wie die Zwischenräume zwischen den Rippen ein wenig grösser, ein

wenig kleiner werden… Das alles kann man fühlen… -

Wie sich die Haut etwas strafft und wieder lockerer wird mit dem Ausatmen… Wie der Bauchraum sich

etwas voller anfühlt beim Einatmen… -

Wie auch die Bauchdecke beim Einatmen eine gewisse Dehnung erfährt … -

Diese feinen Bewegungen setzen sich durch den ganzen Bauchraum bis ins Becken fort. -

Schaut mal, bis wohin ihr das noch verfolgen könnt. Vielleicht merkt ihr feinste Veränderung in den

Hüftgelenken mit jedem Ein- und Ausatmen - oder auch nur im Gewebe um die Gelenke herum kleine

Spannungsveränderungen, in den Faszien, den Sehnen… -

Minimale Veränderungen der Sitzhaltung durch das Ein- und Ausatmen. -

Vielleicht fühlt ihr es sogar bis in die Oberschenkel. -

Und auch in die Oberarme hinein… Bei tiefem Atmen kann sogar eine Bewegung der Unterarme aus-

gelöst werden … -

Vielleicht merkt ihr, wie sich die Halswirbelsäule ganz fein an jede Atembewegung anpasst … -

Allein schon auf dieser strukturellen Ebene ist fast der ganze Körper beteiligt. -

Dadurch, dass wir atmen, wird das Blut mit Sauerstoff genährt und kann sein Kohlendioxyd abladen,

kann loswerden, was es loswerden muss, und aufnehmen, was es braucht. Das pulsiert durch den ganzen

Körper. Das Pulsieren des Blutstromes, vom Herzen gepumpt, wird auch Prana, Atem genannt. -

Dieses Pulsieren und Vibrieren können wir in jedes Körperteil hinein verfolgen… - -

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 147

Atemstrom und Blutstrom werden in der buddhistischen Tradition als eine Einheit betrachtet. -

Das Pulsieren des Herzens ist unmöglich ohne das Ein- und Ausstreichen des Atems. Wir können sagen,

es ist das pulsierende Leben - das können wir bis in die Fingerspitzen hinein spüren, bis in die Zehen-

spitzen. -

Nehmt euch die Zeit, alle zehn Finger einzeln zu spüren. –

Schaut, ob euch das auch mit den Zehen gelingt, ob ihr die zehn Zehen spüren können, lebendig. -

Einfach kommen lassen, mit der Aufmerksamkeit dort verweilen, und mit der Zeit spüren wir immer

mehr. –

Freut euch an jedem Bisschen, das ihr spürt. All das sind Zeichen von Leben, Lebendigkeit. –

Dann gehen wir für die, die das jetzt schon möchten, zum Scheitel des Kopfes ganz nach oben, wo früher

unsere Fontanelle war. Wir bleiben mit unserer Aufmerksamkeit dort, während wir zugleich mit Händen

und Füssen verbunden bleiben und mit allem, was dazwischen ist… -

Dazwischen ist der physische Atem, das Ein- und Ausatmen. Da sucht ihr den Ort, wo ihr euch am

wohlsten fühlt, wo ihr gut das Ein- und Ausatmen spürt und wo ihr gerne mit eurer Aufmerksamkeit

verweilt. - -

Merkt euch diesen Ort. Er kann euch vorläufig als der Startpunkt für jede Atemmeditation dienen: dieser

Ort, wo ihr euch wohlfühlt und den Atem gut spüren könnt. - -

Erläuterungen zur Meditation mit dem äußeren und inneren Atem

Ganz kurz zur Meditation, die wir gerade gemacht haben. Ich habe mit euch eine Reise gemacht durch

diesen atmenden Körper. Wir haben uns das alles angeguckt und erlebt, wie weit der äußere Atem geht:

unglaublich, was er alles beeinflusst, was spürbar ist… Dann haben wir uns die Verbindung mit dem,

was wir den inneren Atem nennen - dazu gehört auch der Blutstrom -, angeguckt.

Äußerer und innerer Atem sind untrennbar miteinander verwoben. In Indien wurde der Ausdruck Prana

gewählt.

Schon der Buddha sprach im Anapanasati Sutta über den Pranakaya, den Atemkörper. Damit ist nicht

nur der Atemzyklus gemeint, sondern alles, was in diesem Atemzyklus in Verbindung mit dem Prana-

Strom passiert, dem äußeren, dem inneren Atem.

Das wird alles dadurch spürbar, dass die Aufmerksamkeit in den Atemempfindungen, Prana-Empfin-

dungen verweilt. Das Erleben des Atemkörpers ist mit dem Bewusstsein verbunden, mit dem Ge-

wahrsein, und je mehr Gewahrsein da ist, je mehr wir da hineinbringen, desto lebendiger wird das alles

überall. Es kann einigen von euch sogar viel zu viel geworden sein. Durch die Aufmerksamkeit, die wir

lange im Körper gehalten haben, die immer subtiler wurde, kann man Empfindungen bekommen, als

würde es brennen oder fast unerträglich intensiv werden.

Mit der stabil verweilenden Aufmerksamkeit bewirken wir, dass die Empfindsamkeit in den Bereichen,

wo die Aufmerksamkeit verweilt, immer mehr zunimmt, je länger wir dort verweilen. Das muss man

aushalten können, denn es kann ganz hohe Intensitäten freisetzen.

Ich kann mich an Sitzungen von früher erinnern, als ich meditieren gelernt habe, wo ich nach der Me-

ditationssitzung meine Fußsohlen untersucht habe, ob sie nicht Verbrennungen hatten, denn genauso hat

es sich angefühlt, ein höllisches Feuer. Da war nichts. Nur die Intensität der Aufmerksamkeit hat das

bewirkt - und es kann in jedem Teil des Körpers passieren, dass es ganz intensiv wird.

Dann geht es darum, im Geist durchlässig zu bleiben. Dieses Phänomen, dass Aufmerksamkeit die Sin-

nesempfindungen verstärkt und die Wahrnehmung davon verstärkt, wie lebendig wir sind, nennt man

das Zusammenwirken von Geist und Prana, der subtilen Energie. Sie sind untrennbar.

Zum Beispiel bin ich jetzt mit der Aufmerksamkeit in den fünf Fingerbeeren der rechten Hand. Kaum

ist die Aufmerksamkeit da, nehme ich viel mehr wahr, und je länger ich da bleibe, umso intensiver wird

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.148 es. Physiologisch würde man sagen: die Nervenbahnen, die in diese Gegend hineingehen, werden jetzt

stark aktiviert, die Empfindsamkeitsschwelle wird herabgesetzt und ich nehme immer mehr wahr.

Denn die Nervenbahnen sind auch Teil des Prana-Flusses. Es gibt auch andere Bahnen, andere Energie-

ströme, die gar nicht mit den Nervenbahnen übereinstimmen. Es sind zum Teil Blutbahnen, zum Teil

Nervenbahnen und es gibt noch andere Arten und Weisen wie Energien, also wahrnehmbare Empfin-

dungen, im Körper zirkulieren. Das alles ist unser Pranakaya, unser Atemkörper.

Irgendwo da drin wählt ihr einen Ort, den ihr als Stütze für die Atemmeditation nehmt. Am besten einen

Ort, der mit dem äußeren Atem stimuliert wird und ein guter Anker des Wahrnehmens des äußeren

Atems ist.

Aber wenn ihr in tiefe Meditation kommt, wird der Atem so fein, dass ihr den äußeren Atem gar nicht

mehr wahrnehmen könnt. Dann geht es nur noch mit dem inneren Atem weiter. Der Äußere ist so fein

geworden, dass er sich der Wahrnehmung entzieht.

Deswegen geht es zum Beispiel, wenn wir an den Nasenflügeln verweilen und den Atem dort nicht mehr

spüren, weiter und wir spüren dann die inneren Empfindungen in dieser Gegend. Oder im Bauchraum

mit den inneren Empfindungen in dieser Gegend, weil sich die Bauchdecke nicht mehr spürbar bewegt.

Das wollte ich euch mitgeben, falls es euch einmal passiert: einfach weiter praktizieren, einfach weiter

bei eurem Anker bleiben, nur verändert sich die Qualität der Empfindungen in dieser Region, die ihr als

euren Anker gewählt habt.

Nun ist dieser Körper, dieser Pranakaya, kein neutraler Körper, sondern all diese Sinnesempfindungen,

die auftauchen, sind von unseren emotionalen Eindrücken geprägt. Das ist nicht gleich ein fließender,

wunderbarer Energiekörper, dem wir da begegnen, sondern ein Körper, wo es überall zwickt und blo-

ckiert und stockt und unangenehm wird usw.

Jede Blockade ist Ausdruck von Mustern des Greifens. Wir hatten eine Emotion, diese Emotion hat

Empfindungen in diesem Körperbereich gehabt, es kam zu einem geistigen Fixieren, die Emotion konnte

nicht frei abfließen - und jetzt meldet sich das wieder, durch die Körperempfindungen.

Deswegen ist unser Körper zunächst nicht so ein angenehmer Palast der Befreiung. Es ist mehr ein

potentieller Palast der Befreiung, den wir von unserem Karma geerbt haben, und den wir jetzt in Schuss

bringen müssen, damit es wieder flutscht in diesem Palast.

Das ist die Arbeit, die wir zu machen haben, indem wir entspannt, offen und durchlässig bleiben mit

allem, was auftaucht. Er kommt von selber wieder ins Fließen, wenn wir es über lange Zeit schaffen,

mit allem, was da auftaucht, entspannt zu bleiben - und nicht schon wieder in die Reaktion zu gehen, in

die Verspannung und „will ich nicht haben“ und zu verdrängen und zu blockieren. Dann kommen wir

nicht wirklich weiter.

So unangenehm es zunächst ist: in jedem Raum unseres Palastes gilt es zu lüften, frische Luft hineinzu-

lassen und alles, was sich aufgestaut hat, durchfließen zu lassen.

Das ist die Lehre, wo Buddha immer sagt: Karma manifestiert sich in den Vedanas, in den Empfindun-

gen. Die Eindrücke von früher, was in uns gewirkt hat und sich nicht gleich befreien konnte, manifestiert

sich erneut als Empfindungen im Pranakaya, dem Atemkörper - inklusive dem subtilen Atemkörper, wo

all die Empfindungen auftauchen durch die Ströme in Blutbahnen, Nervenbahnen und in den Bahnen,

wie zum Beispiel die Meridiane, die in der Akupunktur bekannt sind.

Es gibt eine Menge solcher Bahnen und Orte im Körper. Wir sind überall ein bisschen mehr oder weni-

ger blockiert. Nachdem sich eine Blockade löst, merken wir die anderen umso stärker. Es ist nicht immer

unbedingt als Geschenk spürbar, weil wir das Gefühl haben, das ist ein unangenehmes Zuhause.

Aber wenn wir nicht mehr darauf einsteigen, nicht ins Bewerten gehen, sondern entspannen und immer

weiter ein- und ausatmen, zulassen und fließen lassen, dann löst sich das alles. Dann entpuppt sich das

hier als ein formidabler Körper, in dem das Erwachen zu erleben ist. Das erleben wir auch körperlich,

wir erleben körperlich, wie es fließt, nicht nur geistig. Das gehört zusammen.

Das war eine kleine Einführung.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 149

Fortsetzung Kommentar: Definition von Geistesruhe

Wir sind auf Seite 23. Ich wiederhole nochmal von Beginn.

Es gibt viele verschiedene Formen der Geistesruhe, doch hier - bei unserem Anliegen - geht es vor

allem darum, den Geist frei von Denken ruhig verweilen zu lassen.

Ganz wichtig, da steht nicht: frei von Gedanken. Da steht: frei von Denken.

Das bedeutet: Geistesruhe ist auch möglich, wenn Gedanken auftauchen. Geistige Bewegungen werden

auftauchen, Bilder, Empfindungen und auch ein begriffliches Denken wird auftauchen, zum Beispiel

hören wir ein Geräusch von draußen und es folgt ein Benennen: Autotür - oder es folgt ein Benennen,

dass es sich da um einen Grasschneider handelt.

Aber dann ist Schluss, es geht nicht weiter. Es kommt nicht zu Gedankenketten. Es kommt nicht zu

fortgesetzten Denkprozessen.

Frei von Denken bedeutet: frei von fortgesetztem Beschäftigen mit irgendetwas auf der mentalen Ebene.

Das ist ganz wichtig.

Später dann, wenn die Geistesruhe ganz tief wird, tauchen immer weniger Gedanken auf und es kann

auch zu gedankenfreien Erfahrungen der Geistesruhe kommen.

Aber die Definition ist nicht, dass die Gedanken unwillkommen wären, sondern sie treffen nicht mehr

auf eine Geisteshaltung, die sich für sie interessiert, und deswegen lösen sie sich auf wie jede andere

Sinneserfahrung auch.

Da steht nicht, dass Geistesruhe frei sein von Sinneserfahrungen wäre. Körperempfindungen, Hören

usw. können auftauchen und eine Denkerfahrung ist nur eine Sinneserfahrung und stört überhaupt nicht.

Der Geist bleibt völlig ruhig, obwohl da gerade eine Denkerfahrung aufgetaucht ist.

Also denkt nicht, ihr müsstet die Gedanken verbannen. Sie tauchen auf - aber bekommen kein weiteres

Interesse, keine Antwort, sie werden nicht weiter fortgesponnen. Dann kann es passieren, dass wir in

Formen der Geistesruhe gehen, wo wir den Körper nicht mehr wahrnehmen, wir nichts mehr hören, wir

auch keine Gedanken haben. Das alles sind verschiedene Spielformen der Geistesruhe. Es muss aber

nicht sein, dass es so weit geht.

Tilopa erklärt:

„Gib alle körperliche Aktivität auf und verweile natürlich gelöst. Rede nicht viel, denn Klänge

sind wie Echos. Was den Geist angeht, denke nicht, sondern sieh den Dharma, der dir gelehrt

wird.“ So trete ein in die direkte Schau dessen, worum es im Dharma ständig geht.

Meister Dignāga:

„Gib unaufhörlich - also kontinuierlich - all die vielen Gedanken auf, die sich mit Subjekt und

Objekt, Dualität und Non-Dualität, ich und anderen, Saṃsāra und Nirvāṇa beschäftigen, und lass

den Geist ausgeglichen ruhen.“

Also denke nicht an Non-Dualität, denke nicht an Frieden, Nichtfrieden usw., alles ist unnötig. Lass das

alles sein. Beschäftige dich nicht mit all den Ideen, die das vermeintliche Ich, das sogenannte Subjekt,

als seine Ideen, seine Objekte erfährt. Verstärke nicht weiter diese Subjekt-Objekt Aktivität.

Dieses ganze Denken ist nur eine einzige Selbstbestätigung. Lass es sein, brauchst du nicht. Riskiere es

doch einfach mal zu sein, ohne ständig noch etwas zu produzieren. Lass es einfach einmal.

Guck mal was bleibt, wenn du nicht immer gleich deine Gedanken über alles legst und dich ständig mit

etwas beschäftigst. Wer bist du eigentlich, wenn du nicht denkst? Wer sind wir, wer bin ich, wenn ich

nicht denke? Das ist doch mal spannend. Ich wünschte, Descartes würde hier im Raum sitzen.

Auf diese Weise lassen wir den Geist ruhen. Aber die meisten Praktizierenden finden es schwer,

in die tiefe Meditation der Geistesruhe frei von Fehlern zu finden - Fehler ist immer der Fehler des

Anhaftens -. Deshalb üben sie immer wieder mit den bereits erwähnten Stützen der Meditation,

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.150 um die Fehler aufzulösen und in einen achtsamen, unabgelenkten und zugleich entspannten Geis-

teszustand ohne irgendein Denken hineinzufinden. Wenn ihnen das für kürzere oder längere Zeit

gelingt, haben sie eine gewisse Geistesruhe erlangt. Wenn der Geist so ruht, ist es wichtig, sich

daraus zu lösen - gerade wieder eine Pause zu machen -, sich ein klein wenig auszuruhen und dann

fortzufahren.

Wenn jedoch eine unbewusste Gedankenfreiheit ohne waches Gewahrsein auftaucht, dann han-

delt es sich um einen Fehler - unbewusste Gedankenfreiheit ist etwas ganz anderes als bewusste Ge-

dankenfreiheit. Wir waren einfach irgendwie abwesend, wir waren wie verloren, irgendwo hat sich unser

Bewusstsein verloren, wir haben keine Ahnung, was los war. Das nennt man unbewusste Gedankenfrei-

heit. Das ist ein Zustand mangelnden Gewahrseins und führt nicht ins Erwachen -, und wir müssen

energisch unsere Achtsamkeit erwecken und wiederholt für kurze Zeit üben.

Wenn die Ruhe zwar nicht ganz ohne Gewahrsein ist, aber irgendwie dumpf, dann wird sich der

Fehler von selbst auflösen, wenn wir mit kurzen Sitzungen fortfahren.

Wenn ihr euch unsicher seid, macht kurze, klare Sitzungen. Ihr wisst, wie kurz sie unter Umständen sein

können: ein Atemzug, drei Atemzüge, zehn Atemzüge. Macht sie kurz. So kurz, dass ihr frisch bleibt

und bewusst. Dann schaut ihr selbst, wie lange das geht und entspannt euch immer mehr da hinein.

Wenn ihr wieder den Weg in Geistesruhe gefunden habt, genießt noch eine Weile, verweilt darin, und

macht schon eine Pause, und wieder den Weg in die Geistesruhe. Dann wird euch das so vertraut wie

das Fahren mit einem Aufzug: Knöpfchendruck - da bin ich in der Etage der Geistesruhe. So einfach ist

das, wenn man sich auskennt. Man muss einfach wissen, was es alles loszulassen gilt - und das geht auf

Knöpfchendruck.

Das ist etwas Wunderschönes in meinem Leben. Ich habe das auch alles lernen müssen. Ich kann jetzt

auf Knopfdruck jederzeit in einen gedankenfreien Zustand gehen. Das geht einfach so, im Moment

selbst, egal was vorher war. Das allein schon ohne den ganzen Rest ist eine wunderbare Freiheit, nicht

mehr zwanghaft denken zu müssen. So ein Geschenk, das ich wünsche euch allen.

Es ist nicht so schwer, ich habe es mit euch gemacht. Die kleine Übung: ausatmen, alles loslassen… Da

ist es schon, das Sein ohne Denken. Macht es nicht schwerer als es ist.

Achtet darauf, dass ihr nicht gleich Interesse daran habt, wieder etwas zu denken. Lasst es einfach. Da

ist es, der offene Zustand.

Dann gewöhnt ihr euch daran, auch beim Einatmen dabei zu verweilen, im Ausatmen, im Einatmen. So

einfach. Es ist wirklich genussvoll, es ist eine Freude, raus aus der Zwanghaftigkeit.

Ich habe angefangen, intensiv zu meditieren, weil ich so ein zwanghafter Denker war. Das ist mir zum

Glück sehr früh aufgefallen. Ich hatte vorher schon meditiert, aber ich glaube, es waren die allerersten

Ferien in meinem Medizinstudium, ich muss 19 Jahre alt gewesen sein. Vielleicht waren es auch die

letzten Ferien vor meinem Abitur, ich weiß es nicht mehr genau.

Jedenfalls fuhr ich mit Rad durch Südengland und um ganz Irland herum und wieder zurück. Ich hatte

mir kein Zelt mitgenommen, weil ich mich ganz auf die Leute einlassen wollte. Geld hatte ich auch

kaum welches dabei. So musste ich zwischendurch Kühe hüten und dergleichen Sachen machen. Es war

ein großes Experiment in Einfachheit.

Die Schwierigkeit kam gar nicht davon, dass ich in meinen beiden Müllsäcken im Regen geschlafen

habe und mich in der Kirche getrocknet habe, wenn ich nass war, oder der Hunger. Mir fiel auf, dass ich

auf dem Fahrrad die ganze Zeit am Denken war und jeder Meilenstein, an dem ich vorbeifuhr, irgendeine

Bedeutung hatte. Über alles dachte ich nach. Und die Krönung war, dass ich im Westen von Irland auf

einer dieser wunderbaren Felszungen, die ins Meer hinausragen, den wunderschönsten Sonnenunter-

gang der Welt erlebte, wie die Sonne im Meer untergeht - und ich war nur am Denken: wo ich dann

abends wieder schlafe, was dann kommt, ob ich noch zu essen finde und und und.

Ich war die ganze Zeit beschäftigt. Da habe ich gedacht: du bist krank, bist süchtig, denksüchtig. Das

war der springende Punkt, wo ich gedacht habe: daran musst du etwas tun. Es ist unmöglich. Du fährst

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 151

durch die Gegend, könntest völlig entspannt sein, es genießen, einfach einen Sonnenuntergang zu sehen

- und was macht die Denkmaschine? Keine Pause.

Von der Reise kam ich zurück mit dem klaren Entschluss, einen Weg zu finden. Es hat nicht lange

gebraucht, ein paar Jahre, um wirklich das erste Resultat zu haben, von dem ich gerade gesprochen habe.

Nicht so schwierig.

Das Hamsterrad sind nicht unsere äußeren Aktivitäten, in denen wir eingezwängt sind: ins Büro gehen,

zurückkommen, kochen, einkaufen, sich um dies und jenes kümmern … - das ist bloß äußerlich. Das

eigentlich zwanghafte Hamsterrad ist diese Denkmaschine. Da den Fuß in die Tür zu bekommen und

hier und da eine bewusste Denkpause einlegen zu können, ist extrem erholsam. Es ist noch nicht das

Erwachen, aber sehr erholsam.

Vielleicht konnte ich euch ein bisschen inspirieren, eure Freiheit auszuweiten und immer wieder auf

diese Pausen zu achten, euch diese Pausen zu gönnen. Das heißt nicht, dass das Denken unnütz ist. Ich

denke total gern. Ich brauche Denken, um zu unterrichten. Was meint ihr, was ich seither schon alles

gedacht habe. Und es war nicht ohne Denken, dass ich Tibetisch gelernt habe und Texte übersetzt, un-

terrichte. Das Denken ist wunderbar - wenn es freiwillig passiert, es keine zwanghafte Aktivität mehr

ist. Denken ist fantastisch, nur findet es normalerweise zwanghaft statt. Darum geht es.

Wenn ein Geisteszustand auftaucht, wo Achtsamkeit vorhanden zu sein scheint, aber viele Ge-

danken auftauchen und nur wenig Ruhe ist, dann ist das, weil wir vorher die Gedankenketten

nicht wahrnahmen, aber jetzt das Auftauchen des ersten wie auch der folgenden Gedanken be-

merken. Dies ist ein Zeichen für eine gewisse Geistesruhe und somit kein Fehler.

Das passiert häufig: wenn ihr anfangt zu praktizieren, entspannt ihr euch - und dann kommt ihr zum

Lehrer gelaufen und sagt: es wird immer schlimmer, ich habe immer mehr Gedanken. Das ist nicht der

Fall. So viel habt ihr auch vorher gedacht, nur habt ihr es gar nicht gemerkt.

Ich spreche jetzt zu denjenigen von euch, die echte Anfänger sind. Wenn ihr jetzt eure Gedanken beo-

bachtet, dann bekommt ihr nur die großen begrifflichen Fische mit, die großen, groben Gedanken. Die

feine begriffliche Aktivität und die immense gedankliche Aktivität, die in Bildern stattfindet und in

nicht-begrifflichen Denkformen, entzieht sich im Moment eurer Wahrnehmung.

Wenn ihr euch entspannt, kommt der ganze Wust ins Bewusstsein, was da alles abläuft. Dann wird euch

mit der Zeit klar, dass euer begriffliches Denken nur die Spitze des Eisberges ist. Dieses begriffliche

Denken wird getragen, wird erzeugt von all den vorbegrifflichen Geistesbewegungen. Das begriffliche

Denken formuliert das, was vorbegrifflich schon längst gedacht wurde und schon längst erfahren wurde.

Ihr kennt es, dass ihr manchmal am Sprechen oder Denken seid - und ihr braucht den begrifflichen

Gedankengang oder Satz gar nicht zu Ende zu denken, weil ihr innerlich bereits am Ende angekommen

seid und wisst, das verdient es nicht, das weiter zu verfolgen. Dann hört ihr mittendrin auf. Das ist ein

klares Beispiel, dass ihr innerlich mit eurem nicht-begrifflichen Denken dem Begrifflichen weit voraus

seid. Das Begriffliche ist nur der langsame Takt des Bestätigens dessen, was vorbegrifflich schon längst

klar ist.

Das alles wird uns bewusst, wenn wir Geistesruhe praktizieren. Wir merken überhaupt erst, was in uns

los ist. Unglaublich. Dann erahnen wir, was für intensive Muster in uns aktiv sind. Die gilt es zu ent-

spannen, die gilt es aufzulösen.

Es ist kein Fehler, wenn ihr das Gefühl habt, plötzlich seien eure Gedanken mehr geworden, obwohl ihr

eigentlich mehr Geistesruhe praktiziert. Es ist nur, dass ihr jetzt klarer werdet und auch die kleinen

herumflitzenden Fischlein im Geist mitbekommt, die ihr vorher gar nicht sehen konntet.

Wenn es uns dann gelingt, das Anhaften und Ablehnen im Geist zu entspannen - also auf alle diese

Bewegungen nicht mehr mit Anhaften und Ablehnen zu reagieren - und wir uns nicht mehr von den

Gedanken an der Nase herumführen zu lassen, dann wird das Vermeidenwollen - von Geistesin-

halten - und Bekräftigen - von Geistesbewegungen - weniger und die Unabgelenktheit nimmt zu.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.152 Darum geht es. Lasst alles auftauchen, versucht nicht, es zu blockieren, kämpft nicht damit und folgt

ihm nicht - und es wird sich von selber beruhigen. Die Gedanken haben aus sich heraus keine Kraft, zu

bleiben. Kein Gedanke, keine Geistesbewegung hat aus sich heraus die Kraft, sich zu wiederholen, stär-

ker zu werden, zu bleiben. All das findet nicht statt, wenn es kein Interesse an diesen Geistesbewegungen

gibt.

Interesse ist wie Öl ins Feuer. Interesse macht das, wofür wir uns interessieren, stärker. So können wir

unser Leben gestalten. Wir richten das Interesse dorthin, wo etwas Heilsames, Sinnvolles stattfindet. Da

geben wir Öl ins Feuer, da sagen wir: das möchte ich, dass dort das Feuer der Weisheit richtig brennt,

das Feuer der Liebe sich wirklich ausweitet.

Dahin richte ich die Aufmerksamkeit. Aber nicht in die anderen verstrickenden Muster, die Leid erzeu-

gend sind. Wenn es gerade nichts zu tun gibt, lasse ich den Geist entspannen. Es geht nur um das natür-

liche Sein. Dieses natürliche, offene Sein bekommt unsere ganze Aufmerksamkeit, unser ganzes Inte-

resse und wird sich immer mehr zeigen.

Wenn es nicht gelingt, den Geist zur Ruhe kommen zu lassen und die abschweifenden Gedanken

wahrzunehmen, dann ist nur wenig Wachheit vorhanden. Dann können wir durch das plötzliche

Ausstoßen eines abrupten Lautes die Kette der einander folgenden Gedanken unterbrechen. In

dem dadurch entstehenden Freiraum zeigt sich zu unserem Staunen ein klarer, wacher Geist frei

von Denken, den wir als wegweisend erkennen. Dies üben wir in kurzen, wiederholten Sitzungen.

Wie erklärt, üben wir auf diese Weise auch die jeweils passenden Atem-Meditationsmethoden.

Dieser abrupte Laut, der interessiert euch jetzt?

Ich war noch Student, als ich das zum ersten Mal erlebte. Ich war in Bern auf der Pädiatrie und bekam

frei, um zum Dalai Lama zu fahren für eine Woche. Da gab es einen Rinpoche, der begleitende Medi-

tationsinstruktionen gab. Wir saßen und meditierten – „Phet!“, machte es plötzlich ins Mikrofon und

alle waren für einen Moment herausgerissen aus ihren Gedankenketten. Da war dieser offene Moment.

Dem Lehrer ging es um diesen offenen Moment: ein Moment, wo das Denken unterbrochen war.

Das ist eine Meditationsmethode, die in der Kagyü- und Nyingma-Tradition sehr verbreitet ist. In der

Kagyü weniger, wird dort aber auch gelehrt, wie ihr gerade lesen könnt.

Man findet vielleicht keinen Weg heraus aus dem ganzen Denken, dem emotionalen Salat, in dem man

steht, und sagt dann: jetzt nehme ich den Schleudersitz, ich steige jetzt aus dem Flugzeug, dem Trip und

macht dann selber Phet! - und bleibt dann in diesem offenen Raum, der danach ist. Da sind für einen

Moment die Emotionen und Gedanken unterbrochen.

Stellt euch vor, wie wir das im Dreijahres-Retreatzentrum von Gendün Rinpoche gerade gelehrt bekom-

men hatten, und es machte Phet in jedem Raum. Rund um den Hof verteilt hörte man das, denn zwölf

Zimmer gehen um denselben Hof herum. Alle praktizierten mit offenen Fenstern und es machte dort

Phet und dort… Man konnte auch mit den anderen mitgehen und hatte die Möglichkeit, immer wieder

diese Momente des erstaunten Offenseins zu erleben.

Wenn man es selbst macht, ist es nicht mit Schreck verbunden. Dadurch, dass man diesen starken Laut

macht, geht man energetisch raus aus dem Denken und in einen anderen Geisteszustand hinein. Das

könnt ihr gerne machen. Macht es nicht unbedingt in einem Mehrfamilienhaus mit Etagenwohnungen,

wo ihr alle im Haus damit beschenkt - aber wer das probieren möchte, tut es.

Es ist eine gute Methode und zeigt euch, dass dieses ganze Denken und diese Emotionen überhaupt

keine Substanz haben. Manchmal ist das so stark, dass wir danach die Emotion, in der wir gerade vorher

verstrickt waren, nicht mehr wiederfinden können. Sie erschien uns so wichtig, so solide und so ein

Problem.

Jetzt nachdem wir gelacht haben und die Phet‘s hatten: könnt ihr euren vorherigen Geisteszustand noch

wiederfinden? Die meisten von euch nicht. Wir haben Phet‘s gehört, wir waren draußen und jetzt ist

alles wie neu, die Karten sind wie neu gemischt. Jetzt geht es ein bisschen anders weiter.

Was ich vielleicht noch erwähnen sollte: man kann das Phet auch still machen und es wirkt trotzdem.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 153

Meditationsmethoden mit Merkmalen aber ohne Stütze

Meditation mit Atem

Ihr habt wahrscheinlich in den letzten Tagen bei den Unterweisungen gespürt, was es ausmacht, dass

dieses Werk ein Grundlagenwerk ist, das die Zusammenhänge erklärt. Im Ozean des wahren Sinnes zum

Beispiel, das wir als Meditationshandbuch für Mahamudra-Praxis für den stufenweisen Weg benutzen,

werden uns diese Unterschiede dieser verschiedenen Stützen der Meditation, äußerlich - innerlich, ge-

wöhnlich - mit symbolischer Bedeutung …, gar nicht erklärt.

In diesem Werk hier werden diese Unterschiede angesprochen, erklärt. Es wird sogar gesagt, wo es

herkommt, und es gibt uns damit ein Hintergrundverständnis, um uns zurecht zu finden. Das geht weit

über die Mahamudra-Tradition hinaus. Es gibt uns ein grundlegendes Verständnis für all die verschie-

denen Meditationsansätze, mit denen wir hier in der Welt unterwegs sein können.

Wir kommen jetzt zu einem Kapitel, das heißt:

Meditationsmethoden mit Merkmalen aber ohne Stütze

Meditation mit Atem

Geistessammlung durch Zählen des Atems

Dakpo Tashi Namgyal sortiert da als erstes den Atem ein, weil der Atem in seiner Natur dynamisch ist,

obwohl er sonst eigentlich als Stütze bezeichnet wird. Es gibt viele Merkmale, die man wahrnehmen

kann - wir haben gestern so eine ausführliche Meditation gemacht - es gibt ganz viel, was man wahr-

nehmen kann, aber irgendwie kann man sich nirgends ausruhen beim Atem, weil er sich ständig wandelt.

Deswegen ist er nicht wirklich eine Stütze, etwas so Verlässliches in dem Sinn, dass man sich darauf

niederlassen kann. Wir sind immer in Bewegung mit den Atemempfindungen.

Wir werden uns heute den ganzen Tag mit der Atemmeditation befassen. Da ist eine ganz einfache Form

der Praxis, den Atem zu zählen.

Geistessammlung durch Zählen des Atems (und andere Atemmeditationen)

Die Methode, Geistesruhe mit dem Atem als Stütze zu verwirklichen, wird in den Sūtras wie auch

in den Tantras erwähnt. Auch Tilopa spricht davon:

„Wenn jemand mit geringeren Fähigkeiten nicht in die Ruhe findet, wird er den Schlüssel der

Atmung halten und die vitale Essenz der Bewusstheit ausstoßen.“

Was damit gemeint ist, werden wir jetzt noch herausfinden. Jedenfalls ist der Atem der Schlüssel, weil

- wie wir das gestern vielleicht verstanden haben - der Atem wie das Bindeglied zwischen Geist und

Körper ist. Geistige Bewegung, Prana-Bewegung, wird im Körper spürbar, jede geistige Bewegung hat

eine Veränderung der subtilen Energien und des Atems zur Folge. Wenn man den Atem entspannen,

öffnen kann, dann öffnet sich alles in Körper und Geist.

In der stufenweisen Meditation der Sūtra-Richtung wird die Meditation auf den Atem empfohlen

für Praktizierende, die viele Gedanken haben - es könnte also auf uns zutreffen -. Im Autokommen-

tar zur Abhidharma-Schatzkammer finden wir:

„Zählen, Folgen, Setzenlassen, Untersuchen, Wandeln und völlig Reinigen werden als die sechs

Formen [der Atemmeditation] betrachtet.“

Zählen bedeutet, zunächst einundzwanzig Atemzüge zu zählen, die jeweils aus einem Ein- und

Ausatem bestehen. Später dehnen wir das von wenigen Minuten auf eine Stunde aus. Die Methode,

um den Geist zu sammeln, ist hier das Zählen.

Also: einmal Ein- und Ausatmen: eins, Ein- und Ausatmen: zwei, Ein- und Ausatmen: drei, usw.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.154 Wir benutzen das zusätzliche Zählen, um wie einen Punkt zu setzen, um das Ganze noch etwas verläss-

licher zu machen, solider. Es ist, als ob wir jedes Mal unterstreichen: und jetzt habe ich einmal geatmet,

jetzt zweimal, jetzt dreimal, usw.

Es ist ein starker mentaler Impuls, der dem Atem hinterhergeht. Das macht diese Methode leicht ein-

setzbar für Menschen, die noch überhaupt keine Erfahrung damit haben, ihren Geist zu sammeln. Man

muss einfach immer wieder zur Zahl zurückkommen, und zwischen einer Zahl und der nächsten Zahl

ist eine Menge Platz, da kann viel passieren. Aber wenigstens bei der nächsten Zahl sind wir wieder auf

dem Punkt.

Wollen wir das einmal machen? Eigentlich ist die Spielregel: Wenn man zwischendurch die Zahl ver-

gisst, fängt man wieder bei eins an. Bei dieser Art zu üben ist nach 21 Schluss. Man macht dann auf

jeden Fall eine Pause.

Auch, wenn euch das ein bisschen zu grob vorkommt, lasst euch mal auf das Spiel ein, die Atemzüge

zu zählen. Ihr dürft sie auch ganz sanft zählen. Es braucht nicht zu einer Ablenkung zu werden, den

Atem zu zählen.

Ich nehme jetzt meinen Atemrhythmus als Grundlage und wir beginnen mit dem Einatem …

- - - - -

Das waren bei mir 21, es war nicht besonders langsam, nicht besonders schnell. Wenn der Atem sich

beruhigt und dann ruhiger ist, braucht ihr länger, also ungefähr drei Minuten, 21 Atemzüge, wenn man

entspannt ist.

Habt ihr bemerkt, dass ihr zwischen dem Zählen noch anderes gedacht habt? Und dann, wenn es wieder

um das Zählen ging, dann war, was auch immer an Denken aufgetreten war, wieder unterbrochen. Meis-

tens geht es danach anders weiter, kein Denken, oder irgendetwas Anderes schiebt sich wieder dazwi-

schen.

Oft genug kommt die Zahl, oft genug wird man unterbrochen. Und eigentlich führt man sich selbst

zurück, man holt sich selber ins Zählen zurück. Man lernt, dabei zu bleiben.

Das kann man sogar mit Kindern üben. Es ist eine altbewährte Methode, die bei dem alten deutschen

Einschlafspiel noch mit einer Visualisation verbunden wurde: innerlich Schäfchen über einen Zaun

springen lassen und die Schäfchen zählen, die über den Zaun springen, um einschlafen zu können, um

den Gedankenstrom zu unterbrechen.

Je mehr Sinne man an einer solchen Achtsamkeitsübung beteiligt, desto effektiver wird sie. Also Zählen

plus Atemspüren ist stärker als nur Atemspüren. Es kommt noch etwas dazu. Wenn ich jetzt mit jedem

Einatmen ein Schaf springen lasse und Ausatmen auch eins, da bin ich so konzentriert, da kommt noch

ein dritter Sinn, eine dritte Aufgabe dazu. So kann man die Intensität einer Übung steigern. Man nimmt

mehr Sinne hinzu.

Zum Beispiel, wenn ihr jetzt noch mit den Fingern zählt, körperlich noch mitmacht: Ein- und Ausatmen:

eins, Ein- und Ausatmen: zwei… Dann fällt es noch leichter, dabei zu bleiben, wenn ihr es mit dem

bloßen mentalen Zählen nicht schafft. Man nimmt noch etwas Anderes dazu.

Stellt euch vor, ihr würdet dann klopfen, das geht natürlich bei den großen Zahlen nicht mehr: eins,

einmal Klopfen, zwei, zweimal klopfen…

Das alles erhöht die Aufmerksamkeit. Das ist das Prinzip von Stützen der Achtsamkeit: man versucht,

die Aufmerksamkeit so zu beschäftigen, dass man zwischendurch nicht mehr abgelenkt sein kann.

Das Atemzählen ist eine wunderschöne Sache. Das kann auch sehr entspannt werden und man kann

tatsächlich hunderte Atemzüge dabei bleiben. Das Wunder ist: obwohl es so eine - man könnte fast

sagen - stupide Übung ist, so eine simple Übung, kommt der Geist in Geistesruhe, wenn man das mal

eine Weile macht. Hundert, zweihundert, dreihundert Atemzüge. Ja, sie stellt sich einfach ein. Macht

das mal, geht mal weiter.

Zu Anfang macht ihr immer nur 21 und fangt dann wieder von vorne an. Aber wenn ihr fünfmal 21

machen könnt ohne lange Pausen dazwischen, dann könnt ihr auch mal hundert machen. Ihr könnt euch

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 155

auch eine Mala nehmen und auf der Mala zählen. Aber das mentale Zählen und die Zahlen nicht zu

vergessen, ist etwas herausfordernder. Wenn ihr eher abgelenkt seid, dann macht es mit dem begriffli-

chen Zählen.

Je abgelenkter wir sind, je höher die Herausforderungen gerade sind durch unsere Emotionen, desto

intensiver müssen wir diese Methode einsetzen. Wenn wir ohnehin schon ganz ruhig werden, dann zählt

es wie von selbst. Und da kann man dreihundert, vierhundert Atemzüge zählen, das ist einfach nur eine

Freude.

So einfach, wie die Übung ist: das einzige, was euch daran hindert, sie auszuführen, ist Stolz - dass ihr

meint: nein, das ist was für Kinder, das ist nicht für mich. Macht es einfach mal und schaut, wie weit ihr

kommt… Wann ihr die Zahl vergessen habt… Fangt brav wieder von vorne an… Spielt das Spiel, und

schaut in den Spiegel, ob ihr diese Aufgabe über längere Zeit hin aufrecht erhalten könnt, ob ihr euch

das mit der Zeit anüben könnt.

Es ist ganz erstaunlich, was passiert, wenn man länger dabei bleibt. So eine einfache Übung - und tat-

sächlich sind Erfahrungen von Einsgerichtetheit damit möglich.

Jetzt können wir das Ganze noch etwas intensivieren. Wir haben diesen langen Zeitraum: Ein- und aus-

atmen: eins. Ein- und ausatmen: zwei…. Wenn wir jetzt den Atemempfindungen folgen, dann ist es die

nächste Übung. Schaut mal, was da steht:

Dem Atem folgen

Folgen bedeutet, zusätzlich - zum Zählen - den Atem durch den ganzen Körper zu verfolgen und

wahrzunehmen, ob er den gesamten Körper füllt oder wohin er genau geht - und dies beim Ein-

wie beim Ausatmen.

Wir lassen also das Zählen nicht etwa sein, sondern wir füllen die gesamte Zeit zwischen Ein- und

Ausatmen mit der Aufgabe, den Atem zu spüren - und zwar überall im Körper. Das haben wir gestern

schon ein bisschen gemacht. Wir sind gestern sehr aufmerksam durch den gesamten Körper gewandert.

Jetzt machen wir wieder eine Übung mit 21 Atemzügen mit Zählen. Zwischen den Zahlen spüren wir

jede Phase des Ein- und Ausatmens. Als ich das damals gelernt habe, hat unser Lehrer gesagt: „Anfang

des Einatems - Mitte des Einatems - Ende des Einatems – Übergang - Beginn des Ausatems - Mitte des

Ausatems - Ende des Ausatems – Übergang - und so weiter …“, um uns wirklich dahin zu bringen, in

jeder Phase des Atemzyklus voll bewusst zu sein, auch bei den Übergängen - und noch die Zahl dazu.

Machen wir das wieder.

- - - - -

Das war Zählen und Folgen zusammen. Habt ihr gemerkt: dadurch, dass wir zwischen den Zahlen dem

Atem gefolgt sind, hat es eine stärker beruhigende Auswirkung, es schieben sich weniger Denkaktivitä-

ten dazwischen. Vielleicht habt ihr bei dieser Übung schon gemerkt, dass irgendwie das Zählen über-

flüssig wird. Wenn ich ganz im Folgen bin, im Folgen aufgehe, dann brauche ich nicht noch zu zählen,

um mich in der gegenwärtigen Erfahrung zu halten. Das nennt man Setzenlassen, nächste Stufe.

Den Geist sich setzenlassen

Setzenlassen bedeutet, den Geist dabei sich frei von allen besonderen Gedanken setzen zu lassen.

Da lassen wir das Zählen sein, denn diese besonderen Gedanken sind unter anderem die Zählgedanken

- oder alle Gedanken, die die Qualität der Atemerfahrung kommentieren. Auch die lassen wir weg. Wir

spüren einfach, wir spüren die Atemempfindungen ohne Kommentar.

Wir kommen also ganz aus dem Begrifflichen heraus in die Atemerfahrung des Folgens. Der Geist ist

schon so ruhig, dass er sich wie in dem Erleben niederlassen kann. Er ist völlig okay damit, einfach nur

das wahrzunehmen.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.156 Meint ihr, wir können das auch probieren? Wenn ihr merkt, dass euch das nicht gut tut, geht nochmal

zum Zählen zurück oder macht irgendetwas anderes mit eurem Geist, was euch gut tut. Wenn es jeman-

den hier im Raum gibt, der oder die sich das gerade wünscht, könntet ihr zum Beispiel bei dieser Übung

die Hände oder eine Hand auf den Bauch legen, in diese warme Hand hinein atmen und dem folgen, den

Geist sich darin setzen lassen.

Das hat eine zusätzliche beruhigende Wirkung und holt uns aus der kopf-orientierten Präsenz mehr her-

unter in den unteren Körper, in den Bauchbereich, es verlagert unsere Energie. Ihr könnt auch einfach

den Atem im Bauchraum spüren.

- - - - -

Jetzt wird es etwas subtiler. Ihr habt vielleicht gemerkt, dass dadurch, dass das Zählen wegfällt, sich bei

euch doch mehr Gedanken einstellen. Wenn ihr das merkt, nehmt das Zählen wieder hinzu.

Wenn ihr aber merkt, dass es einfach nur eine Erleichterung ist und die Aufmerksamkeit ganz stabil in

dieser Dynamik verweilt, der an- und abflutenden Empfindungen des Ein- und Ausatmens, dann braucht

ihr nicht zu zählen. Dann merkt ihr: es tut gut, nicht noch begrifflich mit irgendetwas hineinzukommen.

Die meisten Praktizierenden üben sich monatelang oder auch jahrelang in diesem Bereich, bis sie es

schaffen, den Geist sich wirklich ganz setzen zu lassen, sodass er ganz ankommt und keine komplizie-

renden Aktivitäten stattfinden. Einfach nur im Erleben sein mit dem Atem als sogenannter Stütze, mit

den ständig wechselnden Atemempfindungen als Verankerung für unsere Aufmerksamkeit.

Die meisten denken: das war es dann wohl mit der Atemmeditation. Tatsächlich ist das nur der Aspekt

Geistesruhe von der Atemmeditation.

Wir brauchen jetzt noch den Einsichtsaspekt. Denn es geht gar nicht darum, einfach nur ruhig zu sein:

wir wollen frei werden. Das soll uns helfen, aus Samsara auszusteigen. Also nächster Punkt:

Untersuchen

Untersuchen bedeutet, in die Erkenntnis hineinzufinden, dass die wahre Natur des Atems kein

Gegenstand der Wahrnehmung ist.

Ja wie? Ich nehme ihn doch die ganze Zeit wahr. Wer nimmt hier etwas wahr und wo ist da überhaupt

ein Atem? Einen Atem schon mal irgendwo gesehen? Irgendwo gefunden? Gibt es doch gar nicht.

Es gibt ein paar Empfindungen am Anfang dessen, was wir Atem nennen: das Weiten der Lungen, um

Luft einströmen zu lassen. Gibt es Empfindungen am Anfang, danach, in der Mitte, danach, gegen Ende,

die Empfindung, wenn die Lungen ganz weit sind, wenn sie sich wieder leeren …?

Okay, dass wir das zusammen Atem nennen, ist nur ein Konzept. Den Atem gibt es nicht. Es gibt, wenn

wir ehrlich sind, unzählige verschiedene Formen zu atmen, unzählige verschiedene Atemzyklen. Den

einen Atem gibt es gar nicht. Das ist völlig abstrakt. Es gibt den jetzt gerade geatmeten Atemzyklus, der

war so besonders wie der davor und kann nicht gleich sein wie der danach. Wir finden keinen völlig

identischen Atemzyklus.

Aber wo ist denn der Anfang des Atemzyklus, wenn ich mit der Aufmerksamkeit schon am Ende bin?

Der ist ja schon weg. Der ist ja gar nicht mehr da. Merkt ihr: wir setzen uns ein Objekt der Wahrnehmung

zusammen, als könnten wir einen Atemzyklus wahrnehmen. Das geht gar nicht. Wenn wir am Anfang

sind, ist das Ende noch nicht geboren. Wenn wir am Ende sind, ist der Anfang schon verschwunden.

Es ist eine mentale Aktivität, die wir ausführen, dass wir das Gefühl haben, wir würden einen Atemzyk-

lus erleben. Das wird durch Erinnerung und Projektion zusammengesetzt, von dem, was vorher war und

der Projektion von dem, was sein wird. Als Objekt der Wahrnehmung nicht zu finden. Wir können nicht

auf den Atem meditieren.

Ja, auf was meditieren wir denn dann? Lasst uns das mal untersuchen. Da bin ich gespannt, was ihr

herausfindet, was eigentlich Gegenstand der Wahrnehmung ist. Die Behauptung heißt, dass die wahre

Natur des Atems kein Gegenstand der Wahrnehmung ist. Aber ein Wahrnehmen findet ja statt. Aber

jetzt untersuchen, ohne zu viel zu denken, sondern einfach mal hinspüren: was ist denn tatsächlich los?

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 157

- - - - -

Die Zeit vergeht ganz schnell bei diesen Übungen, obwohl es die letzten beiden Male je fünf Minuten

waren. Wenn ihr jetzt so nah wie möglich mit Worten an die Erfahrung heran geht und euch kurz haltet:

was erlebt ihr, wie ist die Erfahrung zu atmen eigentlich? Wenn wir so ganz nah ran gehen.

Teilnehmer/-in: Ich spüre das wie eine Bewegung des Lebens - eigentlich ist das nur Bewegung.

Das sind Gedanken. Was ist die direkte Erfahrung? Das scheint sehr abstrakt oder konzeptuell zu sein.

Nichts.

Wenn ich herausfiltere, was du gerade gesagt hast: eigentlich erlebst du einfach Bewegung. Dass du das

Leben nennst und so weiter, ist wieder Interpretation. Da ist Bewegung, da tut sich etwas, da ist etwas

lebendig - und wenn du es zu fassen versuchst, ist da wie nichts.

Teilnehmer/-in: Es war eine Geborgenheit und ich habe mich in dem Moment, wo ich gar nicht gedacht

habe gefühlt, als wäre ich mitten von allem anderen getragen.

Okay. Das sind auch wieder Gedanken und Gefühle über das, was du erlebt hast. Wie ist denn die Er-

fahrung zu atmen und was ist denn ganz direkt erfahrbar? Was hat es denn ausgemacht, dass du dich

zunächst geborgen gefühlt hast?

Ich glaube, das war das Loslassen von diesen Gedanken.

Okay. Und dann, wie ist das Atmen, wenn alle Gedanken losgelassen werden?

Entspannt.

Ganz entspannt. Ist noch irgendwas aufgefallen?

Es ist einfach so, … also es passiert.

Ja, es passiert einfach, es ist einfach so, man braucht gar nichts zu tun, es passiert einfach. Und es ist

absurd einfach und das kann Gefühle auslösen wie sich geborgen zu fühlen, weil es so einfach ist.

Teilnehmer/-in: Für mich hat das was von einem großen Raum, in dem nichts ist.

Da würde man nicht an Atmen denken, wenn du das so beschreibst. Wie ist denn das mit dem Atmen?

Ein großer Raum, in dem nichts ist, atmet doch nicht.

Doch, denn das ist da drin.

Wer ist wo drin? Der Atem ist in dem Raum? Der Raum ist im Atem?

Es ist wie alles ineinander. Einerseits ist es wie frei - also Raum frei, nichts - und andererseits ist es

alles. Es ist wie da drin in dem Nichts. Dann gibt es die Tendenz: entweder wird etwas ganz frei und

offen, aber manchmal werde ich auch ganz müde, da geht es dann ganz zu. Diese beiden Phänomene

kenne ich.

Wo ist denn in dem Ganzen eigentlich der Atem hin verschwunden? Gibt es den dann noch?

Keine Ahnung.

Also, wenn ich herausfiltere was sie gesagt hat, dann hat sie sich auf das Atmen eingelassen, auf die

Erfahrung und ist im Untersuchen dieser Erfahrung in einer raum-ähnlichen Erfahrung gelandet. Und

irgendwie waren Atmen und Raum miteinander verbunden, das eine im anderen. Wobei nicht klar ist,

was in wem ist. Und es hat eine gewisse Leichtigkeit und Freiheit gehabt.

Teilnehmer/-in: Für mich war es ein permanentes Fließen, ein permanent fließender Prozess eigentlich.

Was fließt da?

Das Sein, die Wahrnehmung fließt.

Die Wahrnehmung fließt, das Sein? Okay.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.158 Ihr habt an den Versuchen, das zu beschreiben, schon gemerkt, was da los ist, wenn wir wirklich in die

Erfahrung hinein gehen: Es atmet … okay … da ist die Fülle von Empfindungen.

Und kaum, wenn wir das, was jetzt gerade wahrgenommen wird, was wir jetzt gerade erleben, untersu-

chen wollen, ist es schon nicht mehr da. Die einen bezeichnen das als Raum, manche als Nichts, und

wir merken, dass das Nächste schon da ist - und das ist Fließen. Es fließt immer sofort in die nächste

Erfahrung hinein und die Vorhergehende ist nicht mehr fassbar. Und die Jetzige entzieht sich in dem

Moment, in dem wir sie fassen wollen, auch dem Zugriff. Ist doch verrückt.

Tatsächlich haben die Vier das sehr schön beschrieben, alle zusammen. Den Atemempfindungen zu

folgen ist ein fließendes Wahrnehmen von nichts Fassbarem, was auch immer. Es gestaltet sich, es ist

deutlich wahrnehmbar, aber überhaupt nicht fassbar und in dieser Nicht-Fassbarkeit verbunden mit einer

Erfahrung von Raum.

Wer vor diesem Raum, dieser Offenheit keine Angst hat, erfährt sogar Geborgenheit, also ein Zuhause-

Sein, in diesem fließenden So-Sein sein.

Übertragen des Verständnisses

Bevor wir weitergehen, möchte ich euch schon darauf hinweisen, wie es weiter geht: mit dem Wandeln,

oder man könnte auch sagen: Übertragen.

Wandeln - übertragen - bedeutet, das Verständnis, das wir mit dem Atem entwickeln, auf andere

Methoden der Geistesruhe anzuwenden.

Jede Methode, alle Meditationsmethoden, die mit dem Erleben arbeiten, wie Meditation auf den Atem,

arbeiten mit einem Prozess der Wahrnehmung. Selbst wenn es das Sehen ist von einem scheinbar fixen

äußeren Prozess, so ist doch das Sehen selbst ein Sein im Prozess des Sehens, wo das Gesehene über-

haupt nicht festzuhalten ist. Das wird besonders deutlich, wenn wir Bewegungen sehen. Bei etwas Stabi-

lem taucht die Illusion auf, wir würden wie ein fixes Bild sehen, dabei ist es ein kontinuierlicher Prozess

des Sehens, in dem nichts - was auch immer - konkrete Existenz hat.

Darauf komme ich gleich nochmal zurück. Jetzt sind wir mit dieser Methode schon in der Einsichtsme-

ditation. Wir nutzen den Intellekt, um tiefer zu untersuchen und noch feiner wahrzunehmen, was wirk-

lich los ist, wenn wir mal die Projektion loslassen, da gäbe es einen Atem, den man beobachtet: Ich und

mein Atem, zwei solide Entitäten, die sich begegnen, gibt es gar nicht.

Wir waren gerade bei der nicht-fassbaren Natur, Qualität der Erfahrung des Atmens, wo wir im unmit-

telbaren Erleben, in Erfahrung von Raum, von Fließen hinein kommen, an der Grenze der Worte sind,

was Worte überhaupt noch beschreiben können.

Dieses nicht-fassbare, raumähnliche und zugleich dynamische Erleben hat man früher als Leerheit, als

leer von Substanz bezeichnet. Wir entdecken bei dem genauen Untersuchen, dass die Atemerfahrung

als solche nicht fassbar ist, obwohl sie sehr deutlich erlebt wird, und dass sich uns im direkten, unmit-

telbaren Erleben ein Raum der unmittelbaren Erfahrung eröffnet, in dem wir gar keine Vorstellung mehr

haben von „einem Atem“ oder „einer Erfahrung“ oder „das ist so und so“.

Wir sind unmittelbar drin im Erleben, in diesem nicht-fassbaren, dynamischen Prozess. Jetzt heißt der

nächste Schritt - den habe ich genauso übersetzt wie damals im Text „Der kostbare Schmuck der Be-

freiung“: Wandeln. Eigentlich müsste ich das Wort gyur, das da im Tibetischen steht, mit ‚übertragen‘

übersetzen. Beide Wortbedeutungen sind möglich, gyur heißt auch ‚übertragen‘.

Dieses Übertragen bedeutet, das Verständnis, das wir mit dem Atem entwickeln, auf andere Methoden

der Geistesruhe anzuwenden: zum Beispiel das Visualisieren der Großen Mutter, die wir als Bild in uns

entstehen lassen, als Vorstellung ihrer Präsenz. Jeder Aspekt dieses inneren Erlebens entzieht sich dem

Zugriff, genau wie die Atemerfahrung.

Es ist auch dynamischer Prozess, mit anderen inneren Qualitäten gefüllt. Es geht um etwas Visuelles, es

geht um das Gefühl der Präsenz, es sind andere innere Prozesse angeregt. Aber die Natur des Erlebens

ist identisch mit der beim Atmen: dass es sich um ein dynamisches Erleben handelt, wo das Eigentliche,

das erlebt wird, nicht etwas ist, dessen man irgendwie habhaft werden kann, das man fixieren könnte.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 159

Das können wir auch auf die Gehmeditation übertragen, auf die wechselnden Erfahrungen, die beim

Gehen auftauchen: deutliches, klares Erleben, dynamisch, im steten Prozess, ohne, dass irgendetwas

darin fassbar wäre. In dem Moment, wo wir es zu fassen versuchen, ist es schon vorbei. Wir mögen

zwar antizipieren, was so ein Schritt ist - ein Schritt, das ist wie so ein Atemzug -, aber während wir den

Anfang erleben, ist das Ende noch nicht da, oder die Mitte. Wenn wir am Ende des Schrittes ankommen,

ist der Anfang längst vorbei. Wir setzen das im Nachhinein einfach nur zusammen. Das ist eine mentale

Konstruktion, von einem ‚Gehen‘ und einem ‚Schritt‘ zu sprechen. Tatsächlich handelt es sich um ein

deutlich spürbares Erleben, in dem alles, was zu diesem Erleben gehört, Prozess ist, und nichts von all

dem solide ist.

Jetzt können wir dies nicht nur auf alle Meditationsmethoden übertragen, also auf Mantra-Rezitationen

und so weiter. Alles hat diese Natur. Nicht nur die Meditationsmethoden. Unser gesamtes Erleben hat

genau diese Natur, die wir beim genauen Erforschen der Atemerfahrung entdecken können. Das nennt

man das Übertragen dieser Einsicht, dieses Verständnisses, auf alles andere.

Jetzt habe ich euren Intellekt angesprochen. Ich benutze Worte, um mit eurem Verstand zu kommuni-

zieren und ein intellektuelles Verständnis hervorzurufen. Dieses Verständnis hilft beim Untersuchen,

kann aber den Prozess in keiner Weise ersetzen, das selbst tief zu erfahren. Wenn wir das selbst tief

erfahren, ist das Zeichen dafür, dass alles Greifen aufhört und der Geist total stabil wahrnimmt, erlebt,

frei von Subjekt und Objekt, Ergreifen.

Völlig reinigen von dualistischem Denken

Das ist der nächste Schritt: völlig reinigen.

Völlig reinigen bedeutet, frei von Subjekt-Objekt-Denken in einer von dualistischem Denken völ-

lig gereinigten Meditation aufzugehen.

Völlig reinigen bedeutet, all das intellektuelle Verständnis auch noch fallen zu lassen und frei von Sub-

jekt-Objekt-Denken - „Ich mit meiner Wahrnehmung der Leerheit“ und so weiter -, zu sein. Auch all

das: Beobachter und Atem, Beobachter und Visualisation, Beobachter und Gehen, Beobachter und die-

ses und jenes. All das geht im direkten Erleben, in der direkten Schau dessen auf, wie es ist.

In einer von dualistischem Denken völlig gereinigten Meditation gehen wir auf. Das bedeutet: zu atmen,

zu sein, ohne überhaupt noch in Vorstellungen von Ich und Beobachter zu verweilen. Da merkt ihr, wie

fundamental das ist. Denn das, was wir Ich nennen, ist noch weniger auffindbar als der Atem. Beim

Atem haben wir wenigstens noch etwas.

Ich ist ein völlig mentales Konstrukt und setzt sich zusammen aus dem Erleben, aus all den verschiede-

nen Sinneserfahrungen, dem Beurteilen, den Erfahrungen, der Erinnerung, dem Vergleichen, dem Kon-

trollieren, dem Habenwollen, dem Nicht-Habenwollen, all das zusammen.

Ich ist nicht zu finden. Und genau das ist unser Subjekt. Das ist dieses sich immer wieder abspalten aus

dem Erleben, immer wieder aus dem einfachen Atmen ein „ich atme“ zu machen, „ich beobachte den

Atem“ - das ist die Grundkomplikation. Aus dem Lieben wird noch gemacht „ich liebe“. Das ist eine

Aufspaltung dessen, was stattfindet.

Die Liebe als solche gibt es nicht zu finden, sie ist ein Konstrukt, sie ist das, was wir diesen im Prozess

befindlichen, warmen Empfindungen der Fürsorge, des Mögens und so weiter dann aufsetzen. Es ist

dieser Ausdruck - der ist gut. Der Ausdruck ist nicht schlecht, aber er erfasst nicht, was eigentlich tat-

sächlich stattfindet.

Meine Liebe zu einer Person gibt es nicht als etwas Stabiles. Sie wird nur erlebt als Prozess, als ein

Prozess des offenen Seins, miteinander Fließens und so weiter. Und natürlich verändert der sich.

Was ist das für eine seltsame Deklaration, wenn man sagt: „Du, meine Liebe zu dir hat sich verändert.“

Das ist dann der Anfang vom Ende, wenn einer so anfängt. „Du, meine Liebe zu dir hat sich verändert,

ich glaube, wir sind jetzt auf einer freundschaftlichen Ebene unterwegs.“

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.160 Vom ersten Moment an, die ganze Zeit, ist nur Veränderung. Die Idee, meine Liebe zu einer Person -

auch einer Mutter zu ihrem Kind - ist eine fixe Vorstellung. Im Erleben ist es das Leben selbst.

Wir leben, wir sind völlig lebendig in der Erfahrung und es gibt gar kein getrenntes Ich in dieser Erfah-

rung. Dieses getrennte Ich, dieses getrennte Subjekt, ich mit meiner Liebe, ich mit meinem Ärger, ich

mit meinen Meinungen, ich mit meinen Erfahrungen …, all das wird importiert, wird hereingebracht in

das Erleben und führt zu einer Verflachung des Erlebens, zu einer Vergegenständlichung, es bekommt

einen Schleier darüber.

Es ist nicht mehr das unmittelbare Sein. Es ist nicht das Sosein, von dem die Erwachten sprechen. Es ist

ein Sein mit vielen zusätzlichen Geistesbewegungen, die das interpretieren und für so und so halten. Es

ist nicht mehr ein unkompliziertes, direktes, unmittelbares Sein.

Diese Komplikation, das ist Samsara. Herauszufinden aus dieser Subjekt-Objekt-Trennung, die wir in

das Erleben hineinbringen, das ist Nirvana, das ist Frieden.

So könnt ihr am Beispiel dieser Meditationsmethode des Atmens sehen, was eigentlich der Sinn all

dieser Methoden ist. Alle Methoden, alle Meditationsmethoden, auch zum Beispiel das innerliche Visu-

alisieren eines Buddhas, sollen dazu führen zu erkennen, dass es sich um einen ständigen Prozess han-

delt, in dem es keine Spaltung zwischen Ich und Du gibt.

Wenn wir diese Wahrheit der nicht-greifbaren, wahren Natur allen Erlebens direkt erfahren, hört damit

auch das Greifen auf, weil man nicht nach etwas nicht Greifbarem greift. Wenn es wirklich erfahren,

erlebt wird, entsteht kein Greifen mehr. Dann entsteht kein Vergegenständlichen der Liebe mehr, des

Ärgers, des Atems, des Gehens, des Essens und was auch immer. All diese Abstraktionen, die zwar der

Kommunikation dienen, aber leider zur Folge haben, dass wir glauben, diese Abstraktionen hätten eine

konkrete Wirklichkeit, wie zum Beispiel das Ich.

Das ist der Grundirrtum, mit dem wir unterwegs sind. Dieser Grundirrtum wird mit jeder Meditations-

methode aus dem buddhistischen Umfeld bewusst angegangen. Darum geht es. Wenn man Atemmedi-

tation reduziert auf ein Zählen des Atems und meint, damit hätte es sich, dann ist das leider kein Weg

des Erwachens. Das muss uns klar sein.

Oder wenn man meint, das Visualisieren einer Meditationsgottheit, eines Buddha, wäre der Weg des

Erwachens – nein, das ist er nicht. Es geht darum zu erkennen, wie sich Ideen gestalten und auflösen,

dass sie keine Substanz haben und die Idee eines Buddha genauso substanzlos ist wie die Idee eines Ichs

oder eines verwirrten Individuums. Die Vorstellung einer emotional verwirrten Persönlichkeit ist ge-

nauso substanzlos wie die einer erwachten Persönlichkeit.

Darum geht es in jeder Meditationsmethode. Das ist auszuweiten auf alles, was wir üben, egal was. Es

gibt den Aspekt, dass uns die Methode stabilisiert, sie uns hilft, unabgelenkt zu bleiben. Im unabgelenk-

ten Sein klärt sich unser Geist. Im geklärten Geist untersuchen wir genau das, was wir jetzt gerade tun,

das jetzige Erleben - in dem Fall das Anwenden der Methode -, schauen hinein, wie ihre wahre Natur

ist. Dadurch entstehen Erkenntnisse, die wir auf den ganzen Rest unseres Lebens übertragen, auf jede

andere Methode und alles andere, was wir erleben. Dadurch entsteht die Befreiung, dadurch lösen sich

die Knoten in all den Bereichen unseres Lebens, wo wir in Fixierungen verweilen.

Dieses völlige Reinigen, frei von Subjekt-Objekt-Denken, wodurch wir in eine von dualistischem Den-

ken völlig gereinigte Meditation hineinfinden: das ist Yum Tschenmo, das ist die Große Mutter. Yum

Tschenmo, die Große Mutter, hat ihren Ursprung - wenn man darüber sprechen möchte - in dem be-

rühmten Herzsutra, wo Avalokiteshvara dem Schüler des Buddhas mit dem Namen Shariputra die nicht-

fassbare, leere Natur aller Erfahrungen erklärt.

Da werden alle Sinnesbereiche durchdekliniert, alle Skandhas, alle Emotionen, alle Aspekte des Seins

werden aufgezählt und von Avalokiteshvara erklärt als nicht-fassbar, leer, ohne Substanz. Form ist Leer-

heit, Leerheit ist Form, Empfinden ist Leerheit, Leerheit ist Empfinden und so weiter … Das ist die

berühmte Passage im Herzsutra. In diesem Herzsutra wird ein Mantra erwähnt.

Das ist das Mantra der Großen Mutter, Yum Tschenmo. Das möchte ich euch mit nach Hause geben.

Das Mantra heißt:

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 161

TÄYATA. OM GATE GATE PARA GATE PARA SAM GATE BODHI SOHA.

Dieses Mantra wird zum Beispiel auch in der Zen-Tradition benutzt, die viel das Herzsutra rezitiert. Das

Mantra bedeutet:

TÄYATA – bitte hört her, all ihr Erwachten

OM – ist der Urlaut der Weisheit, der die Weisheit aller Erwachten anruft

GATE – gegangen

GATE – gegangen

PARA GATE – hinüber gegangen, jenseits gegangen

PARA SAM GATE – völlig hinüber gegangen, völlig jenseits gegangen

BODHI – das Erwachen

SOHA – so sei es

„Hört alle zu: mit der - durch die - Weisheit aller Buddhas gegangen, gegangen, hinübergegangen, völlig

hinüber gegangen, auf die andere Seite, völlig jenseits gegangen des Greifens von Subjekt und Objekt.“

Aus dieser dualistischen Welt des Greifens, von Beobachter und Beobachtetem, mir und dem, was ich

erlebe, heraus aus dieser Welt, hinübergegangen in die Welt des Erwachens - so ist es, soha.

Das ist die Mutter aller Buddhas. Alle Buddhas sind jenseits dieser Welt dualistischer Projektionen ge-

gangen. Was die Buddhas hervorbringt, gebiert, was also die Mutter der Buddhas ist, ist das Verständnis,

ist die Erkenntnis des non-dualen, zeitlosen Seins. Dieses zeitlose Gewahrsein, auch befreiende Weis-

heit genannt, Prajnaparamita - die Prajna, die Weisheit, die Paramita, die jenseits führt, die ans andere

Ufer führt, ans andere Ufer des Stromes des Leidens.

Sprecht es mir dreimal nach. Das ist die formelle Übertragung dieses Mantras, damit ihr gerne zuhause

die Visualisation der Großen Mutter mit dem Mantra verbinden könnt.

Wenn ihr wollt - das ist nur ein Geschenk gewesen an euch - könnt ihr es als eine Stütze benutzen, um

euch in dieser Erkenntnis zu unterstützen, dass die Dinge, all unser Erleben, das vermeintliche Ich, das

vermeintlich Andere, allesamt keine Substanz haben – alles ist Prozess. Wenn ich in dieser Erkenntnis

bin, dann ist dieser Geistesstrom jenseits gegangen, jenseits allen Anhaftens.

Weiterführende Erklärungen zum Atem-Zählen

Wir gehen weiter unten auf Seite 24:

Die tantrische Richtung lehrt äußerst viele Atem-Meditationsmethoden - das hängt damit zusam-

men, dass im tantrischen Buddhismus ganz viel von der Pranayama-Tradition Indiens integriert wurde

-, doch wir werden die hier nicht weiter beschreiben, sondern uns auf die von der Praxislinie ge-

lehrten Methoden der Geistesruhe des Atem-Zählens und Atem-Auffüllens beschränken. Zum

Atem-Zählen erläutert das Sūtra Zehn Kreise des Bodhisattvas Essenz der Erde:

„Wie können wir mittels des Gewahrseins vom Ein- und Ausatem das reine So-wie-es-ist erkennen

- das So-Sein -? Indem wir das eigentliche, reine So-wie-es-ist zählen…

Das hat er hier mit Humor eingebaut. Während wir also den Atem zählen, meditieren wir das So-Sein,

wir gehen auf im So-Sein. Das ist der Weg der Befreiung. Dieses Zitat können wir erst verstehen, nach-

dem wir die Erklärung bekommen haben. Das ist das von allem dualistischen Ergreifen völlig gereinigte

Atmen und alle Formen des Seins. So führt dann Atemzählen auch zur Befreiung.

Indem wir des Kommens und Gehens gewahr sind, erfassen wir es und treten in die reine medi-

tative Stabilität ein. Das ist damit gemeint, einen Geist zu haben, der im reinen Dharma, im Letzt-

endlichen weilt. Das ist damit gemeint, die meditative Stabilität des eigentlichen, reinen So-wie-

es-ist zu üben.“

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.162 Des Kommens und Gehens gewahr sein: ein Hinweis auf die prozesshafte Natur unseres Seins. Indem

wir des Wandels, des ständigen Erscheinens von neuem Erleben, der prozesshaften Natur gewahr sind,

erfassen wir es - im Sinn von verstehen wir es - und treten nicht in eine dualistische meditative Stabilität

ein, sondern in reine Stabilität. Rein bedeutet immer non-dual. Das habe ich schon häufiger gesagt, aber

es gerät oft in Vergessenheit. Also hier: rein bedeutet frei von Subjekt und Objekt.

Das ist damit gemeint, einen Geist zu haben, der im reinen Dharma, im Letztendlichen weilt, also im

Erwachen. Das ist damit gemeint, die meditative Stabilität des eigentlichen, reinen, von Schleiern un-

getrübten So-Seins zu üben, so wie es ist.

Das hebt unsere Praxis der Atemmeditation in eine andere Dimension. Auch, wenn wir jetzt nicht so

ganz darin ankommen können, so ist es doch hilfreich zu wissen, dass wir mit dem Atem den ganzen

Weg gehen können. Wir brauchen keine andere Technik, wenn es uns möglich ist, Atemmeditation so

tief zu verstehen und anzuwenden, wie es hier erklärt wird. Das gilt für alle anderen Praktiken auch. Ob

es eine Mantrarezitation mit Visualisation ist, ob es Gehmeditation ist, was auch immer. Alles können

wir so tief verstehen und nutzen für unseren Weg. Dann überträgt sich die Erkenntnis in alle anderen

Bereiche.

Hieran - an dieses Zitat vom Bodhisattva Essenz der Erde - schließt sich folgende Preisung aus Quelle

Großer Freude an:

„Lautlos und unaufhörlich zählt der ausgeglichen verweilende Yogi die Atemzüge bis zu einhun-

derttausend Mal. Wenn er das verwirklicht und tatsächlich die Einhunderttausend vollendet,

wird sich sein Leben um fünf Jahre verlängern, auch wenn die Lebenskraft schon schwach ist -

zu dem Zeitpunkt, an dem er beginnt -. Daran besteht kein Zweifel.“

Was ist da los? Ist das wieder ein Werbespot oder ist da irgendeine Wahrheit drin?

Lebensverlängernd wirkt, dass das Greifen extrem nachlässt.

Jemand fängt an: Atemzüge zählen. Sehr schnell tritt dieser Jemand in geistige Ruhe ein. Mit dem Ver-

ständnis praktizierend, das wir gerade beschrieben haben, tritt diese Person in das Verständnis ein, dass

ja alles atmet, alles ist Prozess. Alles ist im Entstehen und Vergehen.

Die Illusion des stabilen Ich löst sich auf. Es bleibt die Erfahrung des Atmens, wie das ganze Universum,

wie alles Atem ist. Alles ist Prana, alles ist Energiestrom, die ganze Zeit.

In diesem Sein frei von Greifen kommt es zu einer Regeneration der Lebensenergie, wo noch einmal

Kräfte freigesetzt werden, obwohl das Leben bei fortgesetztem Greifen bald zu Ende gewesen wäre.

Durch das tiefe Loslassen und Öffnen und Freiwerden kommt es dazu, dass sich das Leben noch etwas

verlängert, weil jetzt nicht mehr so viel Energie durch das Greifen verloren geht.

Das ständige Verwickelt-sein in Emotionen, das begriffliche Greifen ist extrem anstrengend. Wenn das

wegfällt, weil jemand seine einhunderttausend Atemzüge praktiziert, kann der Organismus diese noch

verbleibende Energie viel besser nutzen. Ob es genau fünf Jahre sind, kann man nicht so genau wissen.

Man weiß ja auch nicht, wann man gestorben wäre, wenn man nicht praktiziert hätte. Aber irgendwie

geht es einem besser, man wird strahlender, man wird ausgeglichener, offener, fließender und nutzt die

verbleibende Lebenskraft aufs Beste.

Um das zu praktizieren:

Hierfür nehmen wir die bereits erklärte Schlüsselhaltung des Körpers ein, zusammen mit dem

stabilen Blick und lassen den Geist natürlich gelöst. Die Aufmerksamkeit verweilt beim lautlosen,

langsamen, sanften und sorglosen Ein- und Ausstreichen des Atems an den Nasenlöchern. Beim

Ausströmen des Atems bleiben wir sorgfältig gewahr und beim Einströmen des Atems bleiben wir

sorgfältig gewahr, bis sich der Geist stabilisiert. Falls der Geist durch irgendetwas abgelenkt wird,

zählen wir zunächst nur drei Atemzüge, dann nur fünf, dann nur sieben, so viele wie angemessen

erscheint, bis sich etwas geistige Stabilität zeigt. Dann machen wir eine kleine Erholungspause,

bevor wir mit dem Üben fortfahren, indem wir mit ununterbrochener Achtsamkeit bis zu einhun-

dert Atemzüge zählen, solange, bis der Geist stabilisiert ist.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 163

Wenn wir den Geist bereits stabilisiert und in Geistesruhe hineingefunden haben, dann wird die

Atemmeditation diese vertiefen – und wenn dies noch nicht der Fall ist, wenden wir energisch die

wunderbaren essentiellen Unterweisungen zur Geistesruhe an.

Geistessammlung durch Auffüllen des Atems

Wir sind auf Seite 25 in der Mitte und haben gerade das Thema Geistessammlung durch Zählen des

Atems (und andere Atemmeditationen) abgeschlossen. Wir kommen jetzt zur

Geistessammlung durch Auffüllen des Atems

Beim Auffüllen des Atems gibt es zwei Formen: zum einen, dass der Atem von selbst aufhört und

dann die Praxis der Vasenatmung.

Soweit ich das übersetzt habe, gibt es keine weitere Erklärung zu der Praxis, wenn der Atem von selbst

aufhört. Es gibt die Erfahrung, dass der Atem in allertiefster Geistesruhe äußerlich nicht mehr wahr-

nehmbar ist, gar nicht mehr wahrnehmbar ist - und man das Gefühl hat, gar nicht mehr zu atmen. Das

ist ein Zeichen des vierten Dhyana. Aber ich weiß nicht, ob das damit gemeint ist. Es könnte sein. Je-

denfalls ist es keine Praxis, die man üben kann. Das passiert einfach, wenn man in die allertiefste Form

der Geistesruhe eintritt.

Dann gibt es die Praxis der Vasenatmung und das habt ihr heute Morgen schon mit Heiko gemacht. Wir

werden es jetzt nochmal machen. Ich gebe euch die Texterklärungen:

Im Vajraḍākinī-Tantra lesen wir:

„Das Auffüllen reinigt den Körper und vertreibt Gifte und fiebrige Erkrankungen. Den Atem in

der Vasenart zu binden, schließt die Öffnungen der [Sinnes-] Tore.“

Die Quelle Großer Freude sagt:

„Das Anwenden der Vasenatmung siegt bei allem über den Tod. Sein wahres Wesen verstehend,

fülle alles bis zu den Fußsohlen mit Atem (prāṇa), während du dich auf die Vasenatmung stützt.“

‚Den Tod besiegen‘ ist eine Formel, eine Art sich auszudrücken. Gemeint damit ist: wenn man in das

Verständnis der unsterblichen Natur des Geistes eintritt. Ihr müsstet schreiben: das Anwenden der Va-

senatmung hilft uns, in die unsterbliche Dimension des Geistes einzutreten.

Es heißt, dass sich durch die Vasenatmung die oberen subtilen Energien (prāṇa) - aus dem oberen

Teil des Körpers - mit den unteren subtilen Energien vereinen - auf Höhe des Herzens. Man arbeitet

mit der Energie, die aus dem Beckenboden aufsteigt, und mit der Energie, die vom Scheitel herunter-

kommt.

Die Quelle Großer Freude führt aus:

„Indem der Geist die nach oben aufsteigenden mit den nach unten absteigenden subtilen Energien

vereint, wird durch die Praxis dieses Yogas die Stufe der Stabilität erlangt.“ Stabilität im Sosein,

das Verweilen-Können im Sosein.

Das Rad der Zeit - Kalachakra Tantra - erklärt weiter:

„Aus der ursprünglichen Reinheit atmen wir mit geschlossenem Mund durch beide Nasenlöcher

ausnahmslos alle reinen subtilen Energien ein und stimulieren die lebenserhaltende subtile Ener-

gie, um sie mit der blitzähnlichen, nach unten ausscheidenden subtilen Energie zu vereinen. Durch

die uns zeitweilig vertraut werdende reine Vereinigung werden Sonne und Mond im Feuer der

Mitte zum gleichen Geschmack. Dies vertreibt im Körper Hunger und Durst und schenkt sogar

Unsterblichkeit - also Wiedereintreten in die unsterbliche Dimension des Geistes -.“

Es ist wichtig, dabei die Schlüsselunterweisung zu den vier Aspekten der Vereinigung zu kennen,

wie Nāropa sie beschreibt:

„Einatmen, Füllen, Ausdehnen und Ausstoßen wie ein Pfeil sind die vier Aspekte der Vereinigung.

Sie nicht zu kennen, birgt das Risiko, dass sich Qualitäten in Fehler wandeln.“

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.164 Ich werde euch jetzt zwar die Praxis zeigen, sie ist jedoch nicht einfach freigegeben für persönliche

Praxis zuhause. Sie muss wirklich eng begleitet werden von einem Lehrer, der mehrfach schaut, immer

wieder schaut, ob ihr das richtig macht.

Jedoch geben die Kommentare keine weiteren der Schlüsselunterweisungen zu den Aspekten der

Vereinigung der subtilen Energien. Als Teil der Praktiken, um den Geist zu stabilisieren, gilt es,

den Körper mit Atem (prāṇa) zu füllen und den Atem auf passende Weise zu halten, um dadurch

in eine nicht-begriffliche Ruhe zu finden.

Soviel der Text der Übertragung für diesen Kurs.

Neunfacher Reinigungsatem und Vasenatmung

Jetzt üben wir das ein bisschen. Es gibt etwas zu erklären. Ich denke, nicht alle waren anwesend, als

Heiko das mit euch schon gemacht hat.

Zunächst ist es so, dass die Vasenatmung, um die es hier geht, normalerweise nicht angewendet wird,

ohne vorher den neunfachen Reinigungsatem gemacht zu haben. Wenn man die Vasenatmung richtig

beherrscht, kann man auch mal direkt hineingehen.

Beherrschen bedeutet, dass man Tausende von Malen die Vasenatmung geübt hat und sie fast so normal

geworden ist wie das normale Atmen. Es ist nicht so, dass man sie zwanzig bis dreißig Male gemacht

und so gemeistert hätte.

Es gibt verschiedene Formen, wie man die Bewegungen des Reinigungsatems ausführt. Ich werde euch

jetzt die einfachste zeigen. Es geht darum, den Atem erst durch das rechte Nasenloch, dann durchs linke

Nasenloch dreimal fließen zu lassen, auszustoßen, dann ganz natürlich durch beide Nasenlöcher wieder

einatmen, dreimal, und dann den bum chen, die Vasenatmung zu halten, wobei man in die Sieben-

Punkte-Haltung geht. Wer das kann, bereite sich schon darauf vor.

Aber zuerst müssen wir den neunfachen Reinigungsatem lernen.

Heiko hat euch beide Versionen gezeigt, eine ausführliche und eine einfache. Ich zeige euch auch erst

mal die einfache. Das können alle machen, egal ob ihr in der Sieben-Punkte-Haltung sitzen könnt. Ihr

sitzt einfach gerade und nach Möglichkeit nicht angelehnt, aufrecht, gerade, auf eurem Sitz. Die Hände

liegen beide auf den Knien. Die Knie müssen auseinander sein, nicht zusammengebunden, sondern in

einem Dreieck, damit sie eine stabile Grundlage bilden.

Wenn ihr auf einem Stuhl sitzt, ist es am besten, die Oberschenkel wären horizontal, weder nach oben

noch nach unten abgeknickt.

Dann gehen die Hände in eine Faust, wo die Daumen innen sind. Die linke Hand streicht am Köper

hoch, an dem Meridian, und verschließt das linke Nasenloch. Vorher atmet ein durch beide Nasenlöcher

- und während wir ausatmen, öffnet sich die rechte Hand.

Die allereinfachste Version ist, die linke Hand jetzt einfach als Faust auf das linke Knie zu legen und

mit der rechten Hand am Körper hoch zu streichen. Der rechte Zeigefinger verschließt das rechte Na-

senloch. Durch beide Nasenlöcher einatmen, durch das linke Nasenloch ausatmen.

Die rechte Hand geht wieder auf das Knie.

Wir atmen wieder durch beide Nasenlöcher ein und atmen wieder so weit aus, bis überhaupt kein Atem

mehr ausströmen möchte, so tief wir können.

Nach dem letzten Atem atmen wir ein und gehen gleichzeitig in die Sieben-Punkte-Haltung. Wenn wir

ganz eingeatmet haben, senken wir das Zwerchfell ab - das können wir auch durch Schlucken unterstüt-

zen - und verstauen den Atem symbolisch gesprochen unterhalb des Zwerchfells durch Herauswölben

der Bauchdecke - und halten ihn. Dabei wird auch der Sphinkter des Anus leicht geschlossen.

Irgendwann wird der Druck zu stark. Dann legen wir erst die Fäuste mit dem Daumen innen auf die

Knie - und dann wird ausgeatmet.

Das war ein erster Durchgang.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S. 165

Es ist ganz wichtig, dabei die Kontrolle zu behalten, also nicht so lange in der Vasenatmung zu warten,

bis wir praktisch rausprusten, sondern: die Haltung zu halten und gut verstaut zu haben. Wenn ihr merkt,

dass Energie nach oben steigt, dann ist die Vasenatmung nicht gut gehalten. Es muss sich wie ein ganz

sattes Gefühl anfühlen. Unten wird sie gehalten. Sie stößt nicht hier an, sie drängt nicht nach oben, sie

ist gut unten verstaut. Energetisch ist das wie ein Ballon, eine Vase.

Wenn wir merken, jetzt geht es nicht mehr - ich lass jetzt mal andere Prozesse aus - und erst, wenn wir

es noch gut kontrolliert haben, legen wir die Fäuste wieder hin und atmen mit dem Öffnen der Hände

aus.

Das muss ein ganz entspannter Prozess sein. Sonst macht es keinen Sinn. Wenn wir ins Prusten kommen

und uns halten und uns steht die Luft bis hier und wir pfeifen auf dem letzten Loch, dann ist es nicht

Sinn der Übung. Es ist eine Praxis der Geistesruhe.

In dieser Praxis der Geistesruhe, während wir den Atem halten, begegnen wir der Angst, nicht genug

Luft zu haben. Nach einer Weile, in der wir den Atem gehalten haben, taucht eine innere Unruhe auf

mit dem Wunsch, jetzt auszuatmen und frische Luft zu kriegen. Dahinein entspannen wir noch etwas.

Wir arbeiten mit den aufkommenden existentiellen Ängsten. Die tauchen auf und können aber nochmal

entspannt werden. Wir nutzen dafür Prozesse des inneren Verteilens der Energien, die hier kurz erwähnt

wurden. Wir gehen hoch ins Herzchakra und in die anderen Chakren, arbeiten damit, dass die Energien

von unten und oben zusammenkommen und sich im ganzen Körper verteilen, über den Körper, über die

Hautporen hinausgehen. All das, wenn wir eigentlich schon atmen würden und merken, dass diese

Angst, die dabei auftaucht, eigentlich gar keine Substanz hat, dass wir noch sehr viel Zeit haben.

Dann merken wir: jetzt kommt der Zeitpunkt, wo ich ausatmen möchte und jetzt sammeln wir das wieder

zurück - und dann atmen wir aus, ganz ruhig und intensiv. Das ist das Ausstoßen wie ein Pfeil. Es ist

völlig kontrolliert, aber es ist so, als würden wir einen Pfeil abschießen, als würden wir durch die Hände

ausatmen - was wir in Wirklichkeit nicht tun, aber energetisch auch mitwirkt; wollen wir das mal so

sagen.

Man übt sich normalerweise damit, dass man diesen neunfachen Reinigungsatem mit dreimal Vasenat-

mung verbindet. Wenn man das gut kann, kann man aufstocken bis zu sieben Vasenatmungen, wo kein

normaler Atem dazwischenkommt. Dann kann man eine kleine Pause machen und dann nochmal sieben

und dann eine Pause und nochmal sieben und dann eine Pause und nochmal sieben. Das sind vier Mal

sieben, das sind achtundzwanzig.

Das machen die Yogis in der Trainingsphase viermal am Tag - viermal achtundzwanzig. Dabei entsteht

natürlich sehr viel Übung. Man muss sehr gut mit den Energien im Gleichgewicht sein, denn sonst

kommt es zur überschießenden Stimulierung nach oben. Man muss es richtig gut im Becken unterhalb

des Nabels halten können, damit das ausgleichend wirkt.

Wer damit nicht umgehen kann, kann sehr viel Ungleichgewicht ins System bringen. Man muss das

richtig gut lernen. Man kann sein Energiesystem dadurch durcheinanderbringen, wenn man es zum Bei-

spiel mit ganz viel Willen macht, mit Anstrengung. Dann steigt die Energie nach oben auf, man versucht

sie zu kontrollieren, mit der Zeit heizt man sich immer mehr auf und bringt sich energetisch in ein

Ungleichgewicht, in einen aufgewühlten Geisteszustand. Das kann sogar zu Krankheiten führen. Da

verwandelt sich Qualität in Fehler, in Gift, wie es im Text schon stand.

Ich erkläre euch das nur, weil es im Kommentar steht. Das ist keine Ermutigung, dass ihr jetzt loslegen

und es zuhause praktizieren solltet. Dazu braucht es persönliche Anleitung und eine ganz sanfte Praxis.

Eigentlich erklärt man diese Methoden erst, wenn jemand gelernt hat, entspannt zu praktizieren, und

keinen spirituellen Ehrgeiz mehr hat. Solche Leute findet man kaum, aber der spirituelle Ehrgeiz muss

sich schon ziemlich aufgelöst haben, das Vergleichen, noch mehr machen und ausdehnen wollen…

Es braucht ein ganz fürsorgliches Spüren des eigenen Energiesystems, sodass sich diese Übung gut

integriert und heilsam wird. Sie ist sehr heilsam, aber man kann sich damit auch aus dem Gleichgewicht

bringen und erschöpfen. Da so viele Risiken damit einhergehen und wir keine nahe Betreuung garantie-

ren können, sei das aus Gründen der Vollständigkeit gezeigt.

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Mondstrahlen des Mahāmudrā Kurs 4, August 2018, S.166 Dann gibt es die komplette Übung, die Heiko euch schon gezeigt hat.

Das sind alte yogische Übungen, die sehr, sehr intensiv sind, sehr hilfreich. Ich habe davon großen

Nutzen gehabt. Manchen liegt es und manchen liegt es nicht so. Mir hat es sehr geholfen.

Jetzt habt ihr es einmal gesehen. Es gibt sogar Videos auf Youtube, wo ihr euch das alles ansehen könnt

und viel mehr: die Übungen, die damit einhergehen, was man alles in der Vasenatmung macht. Man

nimmt nämlich die Vasenatmung als Ausgangspunkt - und während man die Vasenatmung hält, macht

man ganz viele intensive recht schnelle Körperübungen, bis man die Haltung, den Vajrasitz, wieder

einnimmt und ausatmet. Es ist eine extrem starke Arbeit mit dem Energiesystem, eher für junge Leute

gedacht. Es gibt natürlich keine feste Grenze, aber es ist für ein junges, flexibles Energiesystem, was

mit völliger Entspannung praktiziert, von großem Vorteil.

Also die Bitte an die Älteren, so wie ich, um die 60: ihr braucht euch das nicht anzutun. Ihr könnt einfach

mit dem weitergehen, was wir heute Vormittag an Atemmeditation gesehen haben. Ihr könnt damit gute

Erfahrungen haben.

Was ich euch empfehlen kann, ist der neunfache Reinigungsatem. Morgens, als Teil eurer Praxis, weckt

er euch wunderbar auf, klärt das Bewusstsein. Das könnt ihr durchaus nutzbringend anwenden, ohne

überhaupt in die Sieben-Punkte-Haltung zu gehen. Schaut, was euch möglich ist.

Meditation

Vielleicht macht ihr mal den Versuch, von der Geisteshaltung her den Körper zu spüren, ohne Identifi-

kation. Einfach spüren: da sind Körperempfindungen, mehr nicht. Spüren, was alles zu erleben ist, wie

es entsteht und vergeht… -

Niemand besonderes. Die Empfindungen, die da entstehen, haben keinen Besitzer. -

Es atmet, es pulsiert, es vibriert, und es zieht, es sticht, es drückt - - ohne Besitzer. Einfach so. - Ob es

Körperempfindungen sind oder Hörempfindungen oder visuelle Empfindungen, sie gehören nieman-

dem. Sie entstehen durch das Zusammentreffen von Bedingungen, und lösen sich auch genauso schnell

wieder auf. - - -

Geruchsempfindungen, Geschmacksempfindungen entstehen genauso durch das Zusammenkommen

von Bedingungen. –

Auch Gedanken, Gefühle, Impulse entstehen auf diese Weise. - - -

Eine der notwendigen Bedingungen, dass eine Emotion im Geist stark wird, Schleier entstehen ist, dass

wir mit Interesse dabei sind. Das Grundinteresse dabei ist, dass wir das für wichtig halten. Ich bin wich-

tig in dieser Emotion. Sie entsteht, weil ich das-und-das nicht will und das-und-das will.

In einem Niemand, in jemandem, der sich nicht identifiziert, wird es nicht dazu kommen, dass diese

Impulse Interesse, Aufmerksamkeit erhalten. Sie werden entstehen und zugleich wieder vergehen, oder

überhaupt nicht entstehen.

Genauso ist es, wenn wir völlig entspannen, uns ganz öffnen.

Lasst uns jetzt für eine Weile in völliger Offenheit unseres ganzen Seins meditieren – einfach so.

- - - - - - -

******************************** ENDE *******************************


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